Zugfahrt
Gestern fuhr mich Lisa zusammen mit Johnny nach Z., wo die Vorstellung von Band 49 der Geschichtsblätter Kreis B. über die Bühne gehen sollte. Da ich der Meinung war, nach der Veranstaltung wie in den vergangenen Jahren mit Franz Josef S. essen zu gehen, machte Lisa in Z. ohne mich kehrt und lenkte den Wagen nach Hause. S. erklärte mir aber bald schon nach seiner Ankunft im „Diefenbachsaal“ des Restaurants „Bunter Löwe“, wo die Buchvorstellung stattfand, dass er an grippalen Symptomen leide und gleich nach dem offiziellen Programm gen heimischer Wohnung in B. eilen wolle, so dass unser Essen leider ausfallen müsse. Nach dem Pressefoto mit allen beteiligten Autoren des Bandes, vier Reden und der Aushändigung der drei Belegexemplare an jeden Mitschreibenden wünschte ich S. gute Besserung und ging noch mit ihm nach draußen auf den Gang. Er fragte mich, ob er mich im Auto mitnehmen solle nach B., was mir nicht unlieb gewesen wäre. Aber bevor ich antworten konnte, wurde er schon vom Vater eines seiner früheren Schüler angesprochen und in ein Gespräch verwickelt. Ich wartete bescheiden abseits, aber das Gespräch hörte nicht auf; da entschloss ich mich, per pedes die Strecke von Z. nach B. zu bewältigen. Mit meinen drei Belegexemplaren in der Hand und den Handschuhen, die ich ausgezogen hatte, weil es mir zu warm geworden war, eilte ich über den Weihnachtsmarkt von Z., stieß mit einem Kind zusammen, entschuldigte mich und eilte weiter. Bald hatte ich die D.er Straße erreicht, auf der ich immer nur entlang zu laufen hätte bis B. Ich hielt mich auf der linken Seite, wo die ungeraden Hausnummern stehen, weil ich das Haus meines alten Lehrers aus Konvikttagen begutachten wollte, der in der D.er Straße Nr. 75 wohnt. (Ich hatte in B. sechs Schuljahre verbracht; und nicht die schlechtesten.) Aber von Z. bis zum Haus meines alten Lehrers aus Konvikttagen in der D.er Straße Nr. 75 war es ein tüchtiger Fußmarsch: 5 Kilometer, wie mir später Lisa mitteilen würde. Irgendwann merkte ich, dass ich nur noch einen Handschuh in der Hand hielt; vielleicht hatte ich den anderen beim Zusammenstoß mit dem Kind verloren. Schon etwas erschöpft erreichte ich das Haus Nr. 75 in der D.er Straße, das eher eine Villa ist oder das, was man „ein Anwesen“ nennt. Der alten Zeit gedacht’ ich, die ergraute… – und eilte weiter zum Konvikt, wo ich kurz rastete, mich wieder an die Träume meiner Jugend erinnerte, vor denen ich später nicht immer Achtung getragen hatte, und dann zum Bahnhof strebte. Als ich auf meine Uhr sah, erschrak ich: viel später war es schon, als ich gedacht hatte. Ich trieb meine müden Füße an –die Signale des Unwillens zum Gehirn schickten, das wiederum zurücksandte, dass sie – die Füße – sich zusammenreißen sollten, weil es im Moment nun einmal nicht anders ginge. Ein nochmaliger Blick auf die Uhr raubte mir fast alle Hoffnung, dass ich den Zug noch erreichen könne; nur die schwache Möglichkeit, dass mir eine Verspätung in die Karten spielen werde, hielt der Befehlsgewalt meines Gehirns über meine Füße die Oberhand. Im Bahnhof stürzte ich sogleich zum Fahrkartenautomaten und wollte ein Ticket lösen – da ertönte die Durchsage, dass mein Zug tatsächlich Verspätung habe. Erleichtert beantwortete ich alle Fragen des Automaten mit geduldigem Tippen, aber es schien mir, als hörten die Fragen nicht auf, und zwischen den Fragen nach Abfahrtszeiten, Fahrwegen und Bahn-Cards vergingen endlos scheinende Augenblicke. Endlich glaubte ich, den Zwanzig-Euro-Schein in den Schlitz legen zu können, aber der Automat dachte nicht daran, mein Geld anzunehmen; trotz wiederholter Versuche; warum, blieb mir unerfindlich. Ich wechselte den Automaten mit dessen Nachbarn, wo das Frage-Tipp-Spiel von neuem anhob – da meldete der Lautsprecher auf dem Bahnsteig, dass mein Zug jetzt in den Bahnhof rolle. Ich ließ den Automaten stehen und rannte die Treppenstufen zum Gleis hoch. Ein EC fuhr ein, glücklicherweise erkannte ich den Schaffner, eilte zu ihm und fragte, ob ich ein Ticket bei ihm im Zug lösen könne, was er bejahte… In Darmstadt setzte ich mich beruhigt in den Anschlusszug; zwar nicht nach Mainz-Kastel, der um diese Uhrzeit nicht mehr fuhr, aber wenigstens nach Mainz-Hbf. Vor Nauheim hieß es dann aber, dass der Zug in Nauheim wegen eines Personenschadens stoppen werde, alle Fahrgäste würden weitertransportiert nach Bischofsheim oder Gustavsburg mit dem Schienenersatzverkehr. Wieso Bischofsheim oder Gustavsburg? Ich will nach Mainz, dachte ich und malte mir die Umsteigerei schon aus. Vor dem Bahnhof in Nauheim stand ich mit vielen Fahrgästen frierend auf dem Gehweg herum und wartete auf den „Schienenersatzverkehr“. Es kam aber kein Schienenersatzverkehr. Als zufällig ein Taxi zum Bahnhof vorfuhr, rannten einige Leute hin und wollten mitgenommen werden; ebenso als ein Linienbus nach Rüsselsheim einfuhr – Hauptsache weg! Ich wollte auch erst mitfahren, weil die Kälte an mir hochkroch – es war zur vorgerückten Nachtstunde nun doch kalt geworden! – aber dann wartete ich doch noch etwas; vielleicht aus Hochmut, um nicht mit den anderen zum rettenden Taxi oder Linienbus zu laufen wie die Hasen; vielleicht aus Müdigkeit – ich weiß es nicht. Verdrossen stand ich wieder in der schweigenden, kalten Novembernacht vor dem Bahnhof in Nauheim, zusammen mit den übrigen Fahrgästen, die ebenfalls darauf verzichtet hatten, in das Taxi oder den Linienbus zu steigen. – Aber siehe da: der Schienenersatzverkehr erschien in Form zweier Reisebusse. Ich verständigte Lisa über das Handy über die glückliche Wendung der Dinge, und sie erbot sich, mich in Ginsheim-Gustavsburg abzuholen; außerdem sagte sie mir, dass ihr Akku bald leer sei, es könne sein, dass das Gespräch jederzeit abbreche und ich sie nicht mehr erreiche, sie stehe dann in Ginsheim-Gustavsburg vor dem Bahnhof. Gut, erwiderte ich und „legte auf“. Nach kurzer Zeit überlegte ich: Ginsheim-Gustavsburg? Fährt der Bus nicht nach Mainz-Gustavsburg? Ich ging zum Busfahrer und fragte ihn danach, er verneinte, dass er nach Ginsheim-Gustavsburg fahre, ich fragte: Mainz-Gustavsburg?, was er nach kurzem Nachdenken bejahte. Da rief ich Lisa wieder auf dem Handy an und teilte ihr rasch mit – bevor der Akku unser Gespräch kappen würde: Nicht Ginsheim-Gustavsburg, sondern Mainz-Gustavsburg. Lisa stöhnte: Was heißt das jetzt wieder? Freundlicherweise schaltete sich einer der Fahrgäste ein und erklärte mir, dass Ginsheim-Gustavsburg das gleiche wie Mainz-Gustavsburg sei, was ich Lisa gerade noch weitergeben konnte, bevor die Verbindung tatsächlich abbrach wegen des leeren Akkus… Ich hatte mir schon ausgemalt, wie Lisa in Ginsheim-Gustavsburg auf mich wartete, während ich in Mainz-Gustavsburg herumstände und sie nicht mehr erreichen könnte…