Zu Dir selbst (Marc Aurel)
06.02.2016
Auf dem Weg
zu sich selbst
sind wir Heutigen
unterschiedlich
“gut zu Fuß“
unterwegs:
manche gehen vorwärts —
und entfernen sich
immer weiter
von sich selbst —,
andere gehen seitwärts,
üben sich im “Krebs-Gang“ —
und kommen sich
unbemerkt allmählich näher —,
wieder andere gehen gar rückwärts —
und verlieren sich
in einer gegenwärtigen,
daher nur
scheinbaren Vergangenheit —
die Wenigsten jedoch
gehen innenwärts,
sind mutig genug und bereit,
ihren Fuß,
alten Entdeckern gleich,
auf ihre innere “terra incognita“
zu setzen;
jenem Kontinent der Seele,
der zwar immer schon da war,
aber von niemandem ent-deckt,
erkannt, “erhellt“ und ausgestaltet wurde.
Ein “Kontinent“ aus Wirklichkeit —
ohne Dimensionen,
nicht durch-schreitbar,
nicht erwanderbar,
nicht zu überqueren,
nicht zu erobern —
und dennoch: da.
Wollte man ihm
einen “Ort“ zuweisen,
so wäre es der Anfangs-“Punkt“
unseres eigenen Lebens,
wie auch des selbst-erkennenden Da-Seins —,
jener “Punkt“ höchster Konzentration,
woraus sich unsere Lebens-Linie
als Lebens-Weg entwickelt.
Diese Einzelnen,
die den “Weg nach innen“ wagen,
sind
die wahren Ent-Decker —
sie sind eigentlich
auf dem Weg zu sich selbst.
Staatsmänner und Mönche,
Weise und Philosophen,
Eremiten und ganze Schulen,
versuchten und übten
diesen Innen-Weg —
von Asien über Indien
bis nach Europa,
vom “Orient“ bis zum “Abendland“,
von der “Antike“ bis zur “heutigen Zeit“ —
reicht die Tradition der Methoden
wie auch die Quellen der Texte.
Allein,
dies lehrt uns die Erfahrung,
der “Kontinent der Seele“
ist der einzige Kontinent in der Welt,
der sich niemals
durch Menschen
erobern ließ.
Denn wer als “Eroberer“,
wer als “Machthaber“
versucht,
den inneren Zugang,
das “Tor“, die “Pforte“,
zu finden,
der wird an einer “Mauer aus Schweigen“
scheitern.
Und wer jemals
den wahren Zugang
gefunden hat —
der schweigt.
Im beredten Schweigen,
das Kulturen und Zeiten
als lebendiges “Band“ verbindet,
kann der Mensch
jedoch
das “Hintergrund-Rauschen der Schöpfung“
vernehmen.
Hinweis:
Marc Aurel, der sog. “Philosophenkaiser“, lebte von 121-180 n.Chr. und war der letzte namhafte Vertreter der philosophischen Schule der jüngeren Stoá. “Zu Dir selbst“ bzw. die “Selbstbetrachtungen“ (ta eis heautón) enthalten philosophische Notizen und Gedanken, die Marc Aurel in den Feldlagern seiner letzten Lebensdekade verfasste.