Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst eines russischen Angriffskrieges in Europa, auf Europa!
Teil II, 3, Die Zeitenwende
02.04.2022 bis 18.04.2022
— Fortsetzung —
Rückblick: In Teil II, 2 hatten wir beim Faschismus-Begriff hinsichtlich der „organisatorischen Dimension“ (Gentile) u.a. darauf verwiesen, dass
- Teile der russischen Bevölkerung (Oligarchen, Neue Reiche, Mittelstand & Handwerker, ), sich nicht über ihre soziale Position innerhalb der Gesellschaft, sondern wie im klassischen Faschismus über die kolportierten Ideale der „Bewegung“ (Familie, Glaube, Vaterland-Liebe, u.a.m.) definieren. Im „Sammelbecken der Partei“ (Gentile) Einiges Russland finden diese Menschen ihre ideologisch-politische Heimat sowie ihre „russische Identität“.
- bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine 85% der Bevölkerung die von den russischen Staatsmedien kolportierten Propaganda(-Lügen) als „gültige, unbezweifelbare Wahrheit“ sowie als Realitäts-Beschreibung
- sich ideologisch indoktrinierte und damit linientreue Parteimitglieder und Bürger*innen in einem permanenten Kriegszustand mit oppositionellen Politiker*innen, ehemaligen Olgiarchen, die bei Putin in Ungnade gefallen sind, investigativen Journalisten*innen, etc. als „Volksverräter*innen“ wähnen, die zurecht aus dem „gesunden Volkskörper“ entfernt werden müssten — politischer Auftrags-Mord wird als legales Mittel nicht nur akzeptiert, sondern aktiv gutgeheißen.
- sich diese Teile der russischen Bevölkerung unter der Führung von Einiges Russland und vereint unter ihrem Führer Wladimir Putin eine „Neue Ordnung“ (Stichwort: „Palingenese“, Gentile, Griffin) aus sowjetischem Einpartei-Staat verbrämt mit dem Glanz und dem unsterblichen Ruhm des (historischen…) Großrussischen Zarenreiches herbeisehnen (vgl. Text von Putins „Neuer Nationalhymne“ der Russischen Föderation, die diese Sehnsucht und Stolz aufgreift und widerspiegelt). Das in der Staats-Propaganda kolportierte „Heilige Russische Reich russisch-slawischer Nationen“ ist eine Mischung aus russisch-orthodoxem und ideologischem Glauben. Im Einpartei-Staat ist indes demokratische Vielfalt einer Parteien-Landschaft unerwünscht. Zum Erreichen dieses Zieles werden Terror nach innen sowie Krieg nach außen (gegen „abtrünnige FS-Republiken“, u.a. Tschetschenien, Georgien, Aserbaidschan; etc.pp.) sowohl von der Parteihierarchie als auch von der russischen, linientreuen Bevölkerung ausdrücklich befürwortet. Der Ukraine als souveräner Staat sowie der ukrainischen Bevölkerung werden zudem generell jegliches Existenzrecht abgesprochen (Stichwort: „heim ins Reich“-Politik; allgemein: Russifizierung anderer Völker und/oder Ethnien). Der stattfindende russische Genozid an der ukrainischen Zivilbevölkerung im Donbas, in Mariupol, in Butscha und andernorts wird in der russischen, linientreuen Öffentlichen Meinung überwiegend als berechtigte Vergeltungs-Maßnahme(n) befürwortet, emotional unterstützt und nicht als das, was es ist — Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung, mithin Völkermord — wahrgenommen.
Hinsichtlich der „ideologischen & kulturellen Dimension“ (Gentile) wurde u.a. darauf verwiesen, dass
- die „Neue Kultur“ des Propaganda-Apparates teilweise auf verklärenden Mythen So etwa Putins Rückgriff auf den Gründer der „Kiewer Rus“, den ukrainischen Großfürsten Wladimir I. . An dieser Stelle zwar nicht explizit erwähnt, jedoch zuvor bereits angesprochen, Putins Verdrehung und Verherrlichung im Personen-Kult um Wladimir Lenin und Joseph Stalin, da deren „roter Terror“ innerhalb der Putin-Ideologie fortan als Mythos der „Fürsorge für das russische Volk“ definiert wird. Zweifel oder Kritik an dieser diktatorischen Sichtweise wird unter Strafe gestellt (vgl. u.a. Schließung der NGO „Memorial“, die die Verbrechen der Stalin-Ära wissenschaftlich aufzuarbeiten suchte).
- in Putins Russland die Kinder- und Jugenderziehung seit fast 20 Jahren einerseits systematisch militarisiert und andererseits „im Geiste Putins“ indoktriniert wird. Hier postuliert die Putin-Propaganda den Mythos der Geschichtsmächtigkeit der Jugend (Gentile), der voller Sendungsbewusstsein die „Neue Ära“ sowie die „Neue Gesellschaft“ maßgeblich gestalten und tragen wird (Teilaspekt der Palingenese, Gentile, Griffin). Militarisiert als „Jungarmisten“ und „Freiwilligen Verbände“, deren Organisations-Form bereits militärisch ausgerichtet ist, dient die Militarisierung der Politik als Erfolgsmodell der Neuorganisation einer zukünftigen Gesellschaft (Gentile). Andererseits erfolgt im Sinne der Putin-Ideologie die Indoktrination der Kinder und Jugendlichen durch Zeltlager, Sportfeste, Fahnenappelle, Kriegs-Spiele, u.v.a.m. — diese ganze Bandbreite der „Abhärtung“ und „Stählung“ der Kinder und Jugendlichen — als Vorbereitung zum kommenden Krieg. Historische Vorbilder wurden in den italienischen faschistischen Jugendverbänden (ONB, GIL) und deutschen nationalsozialistischen Jugendorganisationen (Hitlerjugend, BDM) benannt.
Nehmen wir Gentiles „Lageplan“ des Faschismus nochmals zur Hand und betrachten auf dem Stockwerk des faschistisch-ideologischen Gedanken-Gebäudes weitere markante Merkmale aus dem „Raum“ der ideologischen bzw. kulturellen Dimension etwas genauer. Wie sieht es im „Großraumbüro der Palingenese“ aus? Welche der einstmals faschistischen Topoi lassen sich auf Putins Narrativ-Agenda wiederfinden? Welche weiteren markanten Faschismus-Merkmale lassen sich anhand von Putins „Großrussland“-Ideologie belegen?
- Verweilen wir noch einen Moment bei Gentiles Ansatz, dass der (historische) Faschismus auf Mythen, Riten, Symbole einer Laienreligion / Politischen Religion beruht, mit dem Ziel, eine kulturell-sozial geschlossene Glaubensgemeinschaft zu formen (Gentile). Kulturelles Ziel dieser Glaubensgemeinschaft ist es, einen Neuen Menschen zu erschaffen (ders.). Durch eine allumfassende „Erneuerung an Haupt und Gliedern“ des Staates, der Gesellschaft, der herrschenden Kultur, soll eine Phase der angeblichen, durch toxische Narrative lediglich behaupteten, jedoch niemals mit Fakten oder gar Beweisen belegten sittlich-moralischen Dekadenz, des gesellschaftlichen Niedergangs, der völkisch-rassischen Degeneration beendet und zu Neuem Ruhm und erhebenden Vaterlandstolz umgekehrt werden. Diesen komplexen und vielschichtigen gesellschaftlichen Wandel bezeichnen Gentile und Griffin als Palingenese.
Nun spricht Wladimir Putin wiederholt vom „tausendjährigen Reich“ bzw. der „tausendjährigen russischen Kultur“, die er in der Symbolfigur des Kiewer Großfürsten Wladimir I. konkretisiert. Was ist Putin-Propaganda, was historisch belegbar?
Historischer Exkurs: Nach übereinstimmender Meinung geht der Ursprung der „Waräger Rus“ auf Rjurik I. zurück, einem Waräger-Fürsten, der von 862 bis 878 über Nowgorod geherrscht haben soll. Er gilt als der Ahnherr der Rurikiden-Dynastie. Jedoch bleibt seine Person eher im mythischen Dunkel, da urkundlich nirgends eindeutig belegt. Historisch belegbar ist dagegen, dass sich bereits unter dem warägisch-slawischen Fürsten Swjatoslaw I. (962-972), dem Enkel Rjuriks, durch die „Waräger Rus“ die Befreiung aller ostslawischen Stämme von der chasarischen Tributherrschaft anbahnt. Die Dynastie der Rurikiden beseitigt die Gefahr eines durch Steppenvölker beherrschten Osteuropas. Zudem stärkt sie nachhaltig den Ausbau des Handels mit Byzanz und dem Orient, schwächt die chasarische und wolgabulgarische Machtsphäre, vernichtet das Donaubulgarische Reich, und schafft aufgrund des enormen Reichtums durch Handel ein erstes russisches Machtzentrum. Dessen Kerngebiet liegt ursprünglich noch im Norden bei Nowgorod (nahe Finnland). Jedoch um 882 verlegt Oleg das Machtzentrum an den strategisch wichtigen Handelspunkt Kiew am Zusammenfluss von Desna und Dnjepr. Politisch sind die Rurikiden nach Westeuropa, wirtschaftlich nach Südosteuropa sowie dem Orient und der chinesischen Seidenstraße orientiert. Erst unter dem Kiewer Großfürsten Wladimir I. (978-1015) kommt es zum prägenden, kulturellen Austausch mit Byzanz. Wladimir lässt sich und seine Familie nach byzantinischem Ritus taufen, treibt die Christianisierung der Rus weiter voran, macht damit die Kiewer Rus zu einem christlichen Volk, das in die Staatengemeinschaft der christlichen Reiche und Völker Westeuropas (!) aufgenommen wird. Er übernimmt die slawische Liturgie und Kirchensprache, unterstellt seine Kirche sowie deren Organisation dem Patriarchat von Konstantinopel. In seiner Regierungszeit kommt es zur machtvollen Ausweitung der byzantinischen Kulturspähre. Im Jahr 988 entsendet Wladimir I. 6.000 Waräger-Soldaten nach Byzanz, mit deren Hilfe Kaiser Basileios II. seinen Thron zu retten vermag. Als sog. „Warägergarde“ bleibt sie über die Jahrhunderte hinweg bis 1204 die Leibgarde der byzantinischen Kaiser. Wladimirs Sohn, Jaroslaw der Weise (1019-1054), setzt die Kulturarbeit (mit Byzanz) fort, fördert Übersetzungen aus dem Griechischen; es kommt zum Anfang einer russischen Geschichtsschreibung und Literatur. Jaroslaw unterhält enge Familienbeziehungen zu vielen europäischen Herrscherhäusern. Historisch gilt: die politische Ausrichtung des Kiewer Großreiches war westlich; seine kulturellen Wurzeln überwiegend slawisch-byzantinisch; seine wirtschaftlichen Verbindungen reichten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und weiter bis nach Zentralasien und dem Orient.
Retour zu Putins Mythen-Propaganda. Es ist nicht klärbar, ob hinter Putins mythischer Verbrämung der „Kiewer Rus“ als Keimzelle eines „Neuen Russlands“ sowie Putins Rückbesinnung auf das „tausendjährige russische Reich“, tatsächlich diese historischen Fakten gemeint sind. Wäre dem so, so würde es Wladimir Putin letztlich um eine „Renovatio / Restauratio imperii“ in dem Sinne gehen, dass nicht das geopolitische Zarenreich (1478-1917/18), sondern die kulturellen Glanzleistungen fernerer Tage im Rahmen eines sakralen, russischen Imperialismus heute als Realität auferstehen sollen. Doch dann passen historischer Fakt und kolportierter Propaganda-Fake nur noch als Chiasmus widerspruchsfrei zusammen. Denn dann wäre z.B. nicht länger Moskau, sondern Kiew die eigentliche Metropole von Putins „Neuem Russland“. Eben jene Stadt, die russische Truppen auf seinen Befehl hin auszulöschen, oder doch zu entvölkern suchten. Auch passt sodann die durch Putins selbstherrliches Handeln verursachte Isolation Russlands nicht ins Bild, da doch die Kiewer Rus weltoffen, kulturoffen, auf Fernhandel basierend, und westlich orientiert war. Damit fällt ineins das von Putin mantraartig kolportierte Propaganda-Narrativ der feindlichen Umzingelung durch „den Westen“ und als Folge hiervon würde seine „Wagenburg“-Mentalität der feindlichen Umlagerung obsolet. Denn der historische Kiewer Großfürst „Wladimir 1.0“, das Original und nicht die Putin-Fälschung, war, wie gezeigt, nicht nur weltoffen, sondern übernahm aus anderen Kulturen, mit denen die Waräger / Kiewer Fernhändler in Berührung kamen, deren zivilisatorische Errungenschaften. Auch an dieser zivilisatorischen Stelle der Palingenese knirscht es in Putins Propaganda-Apparat ganz gewaltig: Wie passen die propagierten hehren und hohen Werte seiner Palingenese eines erneuerten „Heiligen Russlands“ mit den konkreten Gräueltaten der Putin-Regentschaft zusammen? Doch nur als Lüge. Bezeugen denn nicht gerade diese Taten voller Ent-Menschlichung — gezielter HighTech-Krieg gegen eine unbewaffnete Zivilbevölkerung; gezielter Beschuss mit Präzisionswaffen auf Krankenhäusern, Kindergärten, Altenheimen, Schutzbauten (Theater von Mariupol), all das gezielte, systematische Töten von Männern, Frauen, Kindern, Neugeborenen sowie die Liquidierung von gefesselten Zivilisten, u.v.ä.m. — „wes Geistes Kind“ Putin selbst, seine Handlanger sowie seine Befehlsvollstrecker tatsächlich sind? Zeugen denn nicht gerade diese Taten voller Ent-Menschlichung von einer geradezu unvorstellbaren sittlich-moralischen Dekadenz, ja Perversion, des Oberbefehlhabers, seiner exekutierenden Offiziere sowie seiner Schergen? Und weiter: das allgemeine Befürworten dieser Gräueltaten in den gleichgeschalteten russischen, staatlichen Propaganda-Massenmedien („Sputnik“, RT, etc.), in der Einheitspartei Einiges Russland, in der manipulierten Öffentlichen Meinung — ist das nicht der trefflichste Beweis dafür, dass sich die Mehrheit der russischen Gesellschaft in einem tatsächlichen gänzlich verrohten, pervertierten, fanatisierten Niedergang befindet? Ferner, die vermeintlich völkisch-rassische Degeneration, die in der Putin-Propaganda kontinuierlich angeprangert wird und die Putin angeblich zu bekämpfen sucht, ist das nicht — im Angesicht des ukrainischen Genozids — die Degeneration und Perversion seines persönlichen Denkens, Meinens, Fühlens? Was immer das Putin-Regime im Raume seiner Propaganda-Palingenese der ukrainischen Seite vorwirft, unterstellt, an Vergehen und Kriegsgräuel bezichtig, — all das trifft de facto auf ihn selber, seine Vasallen sowie seine Helfershelfer zu. Es ist der stets aufs Neue scheiternde Versuch, sich selbst vor der Welt-Öffentlichkeit hinsichtlich der begangenen Kriegsverbrechen reinwaschen und mittels kolportierter Lügen aus jeglicher Verantwortung herausstehlen zu wollen. Propaganda-Washing: aus Fake mache Fakt und vice versa. Die Wahrheit der Fakten, etwa über den Abschuss von MH 17 der Malaysia Airlines über der Ostukraine (17. Juli 2014), bei dem 298 Zivilisten ums Leben kamen — schon fast vergessen —, die Wahrheit der Fakten über die Kriegsgräuel in Charkiw, in Mariupol, in Butscha, in Kramatorsk, um nur Weniges zu bennen, all diese Wahrheit liegt jedoch aufgrund einer funktionierenden, unzensierten „Freien Presse“ der Weltöffentlichkeit offen zu Tage. Der „Westen“ und seine informierten Bürger*innen sind frei — so frei wie seinerzeit die Gedanken des „Vormärz“ 1848 (vgl. Hambacher Fest, das Freiheitslied: „Die Gedanken sind frei,…“). Und diese Freien Gedanken, im Ausland wie in Russland selbst, fürchtet der Diktator weit mehr, als westliche Waffen in den Händen von Ukrainer*innen. Denn unzensierte, freie Nachrichten und Freie Gedanken de-maskieren Propaganda-Lügen, hinter-fragen aufgestellte Behauptungen, durchleuchten und erhellen kolportierte Narrative, scheiden letztlich Propaganda-Fake-News von Fakten — und zersetzen auf diese Weise die Machtbasis einer Diktatur, gleich welcher Couleur. Putins menschenverachtende Gesinnung gleicht einer „Geburt der Tragödie aus dem Geiste des Ressentiments“ (vgl. Nietzsche-Titel). Es ist die völlige Verantwortungslosigkeit jedermanns auf russischer Seite; die Ent-Fesselung menschlich-zivilisatorischer Un-Werte, die als faktische Kriegs-Realität ins Monströse übersteigert werden. Der in der Putin-Palingenese viel beschworene „Neue Mensch“, der „Übermensch eines Neuen, Heiligen Russischen Großreiches“, ist de facto ein Leviathan, ein Ungeheuer, ein Un-Mensch, bar jeglicher zivilisatorischer Werte. Denn seine „Hohen Werte“ und „hehren Ideale“ sind aus dem Blick-Winkel einer Zivilisation: Un-Werte und Gräueltaten. Und noch stehen wir erst am Anfang des Un-Denkbaren, da ein offenes System der Ent-Grenzung dieser systematischen Vernichtung zu Grunde liegt. Putins kolportierte „Neue Zivilisation“ entpuppt sich tagtäglich als eine zivilisatorische Perversion.
Wie seinerzeit bereits bei Mussolini, Hitler und Stalin steht die jeweils postulierte Palingenese insofern per definitionem auf dem Kopf, als dass die propagierten Ideale eines „Neuen Reiches“ bzw. eines „Neuen Menschen“ durch zivilisatorische Un-Werte und daraus folgend un-menschliche Verhaltensweisen konterkariert werden (Mussolini: Abessinien-Krieg; Hitler: Shoah; Stalin: Holomodor; Putin: systematische Kriegsgräuel an der ukrainischen Zivilbevölkerung). Das mitreißende Schwadronieren von „hehren Werten und Idealen“ und das Massakrieren unschuldiger Zivilisten ist die Konditio sine qua non einer völkisch-rassischen Werte-Ideologie — gleichviel ob „schwarz“, ob „braun“, ob „rot“ oder eben „weiß-blau-rot“.
Ein weiterer Aspekt der ideologischen Dimension (Gentile) sei kurz erwähnt: Während Hitlers „tausendjähriges Reich“ beginnend mit der Machtergreifung 1933 sich in eine fiktive Zukunft erstreckte, verorten Mussolini und Putin ihr jeweiliges Großreich rückwärtsgewandt in einer mythisch-mystisch verklärten Vergangenheit.
Sofern der Terminus der Palingenese die ideologischen Glaubens-Gehalte einer „Laienreligion“ bzw. einer „Politischen Religion“ (Gentile) umfasst, können wir sie als weltanschaulicher Glauben dem theologischen Offenbarungsglauben der Weltreligionen gegenüberstellen. Zwar eine Religion ohne Gott, basiert die weltliche Laienreligion doch auf ideologischen Glaubens-Gehalten, die für sich absolute — also von jeglicher fremden Ursache los-gelöste — Wahrheit beanspruchen und diese „absolute Wahrheit“ gegenüber den „Gläubigen“ geltend machen. Und da diese ideologische Wahrheit gänzlich los-gelöst von jeglicher Realität als gültige Autorität zu herrschen vermag, öffnet sie dem politisch-ideologischen Fanatismus Tür und Tor, führt bei den „Partei-Genossen“ bzw. „Kampf-Genossen“ zur Verblendung und zum Wahn, der innerhalb des geglaubten ideologischen Dogmas jedoch stets einen Sinn ergibt. Es ist der bekannte Wahn-Sinn einer Ideologie, die in einen ausufernden Fanatismus ent-grenzt wurde.
Aber auch dieser Aspekt sollte im Zusammenhang der Palingenese , wie ihn völkisch-nationalistische Regime (Russland, Serbien, Ungarn, etc.pp.) und Parteien (u.a. AfD, Höcke-Flügel) propagieren, ausdrücklich hervorgehoben werden: das jeweilige Menschen-Bild. Denn der vielleicht wesentlichste Unterschied zwischen totalitären Systemen (Kommunismus, Sozialismus, Faschismus, Diktaturen und totalitären Regimen aller Couleur…), und echten Demokratien ist m.E., dass im Totalitarismus der Einzelne, das Individuum, gänzlich bedeutungslos, das „Kollektiv“ der kommunistisch- / faschistisch-ideologischen Glaubensgenossen jedoch „alles“ ist. Einzig „die Partei“ (Sozialismus, Kommunismus) bzw. die „faschistische Bewegung“ zählt und das Individuum nur insofern, als es „Partei-Genosse“ des „Kollektivs“ bzw. „Kampf-Genosse“ der „faschistischen Bewegung“ ist. Diese kollektive Denk- und Sichtweise widerspricht jedoch aufs schärfste dem Menschen-Bild in Demokratien. Dort stellt der Einzelne selbst, seine Person, seine unverwechselbare Würde, etc.pp., bereits ein hohes, durch den Staat zu schützendes (§ 1 GG) sowie geschütztes Gut, dar. Genau genommen bildet in demokratisch verfassten Politsystemen der Staat die Bedingung der Möglichkeit, und nicht irgendeine „Partei“, irgendein „Kollektiv“ oder sonst eine „Massenbewegung“, dass jede/-r einzelne Bürger*in Freiheits-Rechte genießen („Legislative“), unterschiedlichste Schutzgarantien erhalten („Exekutive“, Polizei, Ermittlungsbehörden, etc.), sowie Persönlichkeits-Rechte vor unabhängigen Gerichten einklagen kann („Judikative“). Der demokratisch verfasste Staat schützt seine Bürger*innen nach „Recht und Gesetz“ — nicht jedoch selbsternannte „Bürgermilizen“ nach „Law and Order“. Eine Demokratie lebt aus dem Spannungs-Verhältnis, dass zwar das Machtmonopol beim Staat (Polizei, Ermittlungsbehörden, etc.; politisch unabhängige Gerichte), die Souveränität jedoch beim Volke liegt. Anders verhält es sich bei völkisch-nationalistischen Diktaturen und Autokratien aller Couleur.
- Eine Besonderheit der russischen Palingenese lässt sich m.E. an der Funktion und Stellung des russisch-orthodoxen Episkopats belegen: Die aktive Rolle des russisch-orthodoxen Episkopats unter Kyrill I. und Putins bewusst russisch-orthodoxe Propaganda-Inszenierung. Religiöser und ideologischer Glaube werden untrennbar miteinander vermischt. Zwar kommt es unter Putin nicht zum Kirchen-Staat, wohl aber zur Staats-Kirche. Der Putin-Imperialismus bekommt nicht nur kirchlichen Segen, sondern wird im Zuge einer religiösen Propaganda (!) zudem heilig gesprochen. Somit ist es eine „heilige Pflicht“ eines jeden Russen, der ideologischen Palingenese anzugehören. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den historischen, faschistischen Bewegungen.
Vor seiner Machtübernahme suchte Putin Anfang der 2000er Jahre die Nähe zur russisch-orthodoxen Kirche und ihren Würdenträgern. Noch war er, der KGBler aus St. Petersburg, in Moskau ein politischer Parvenü ohne nennenswerten Einfluss oder Macht. Damals brauchte er die Reste der (moralischen) Autoritäten, um im Chaos der sich auflösenden Sowjetunion regieren zu können. De facto war die russisch-orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen von Moskau der klägliche Rest eines seit tausend Jahren kontinuierlich regierenden Kirchen-Reiches. Putin suchte den Schulterschluss, um selbst nicht gestürzt zu werden. Wie seinerzeit bei Mussolini und Hitler ging es beiden Seiten zunächst lediglich darum, gemeinsame Interessen auszuloten und die jeweiligen Machtsphären verbindlich abzustecken. Auch den faschistischen Parvenüs ging es in den 1920er und 1930er Jahren darum, ihre Macht-Basis zu festigen, zu sichern, auszubauen; den Päpsten (Pius XI., Pius XII.) wiederum, die Souveränität des Kirchenstaates (Patrimonium Petri) sowie die Unabhängigkeit des christlichen Glaubens von ebenjenen Machthabern garantiert zu bekommen. Während nun die beiden Päpste Pius XI. und Pius XII. mit verschiedenen Konkordaten einen Interessenausgleich mit den Faschisten zu erreichen suchten (Mussolini: Feb. 1929 Lateranverträge; Hitler: Sept. 1933 Reichskonkordat) — auch sie scheiterten letztlich an der faktischen Brutalität der faschistischen Regime —, wurde der russische Episkopat mehr und mehr zum Teilbereich des „System Putin“. Und wie bereits unter den Zaren, entwickelte sich im Laufe der Putin-Herrschaft eine scheinheilig-unheilige Macht-Allianz aus Staats-„Kirche“ (Putins ideologischer Großrussland-Glaube, Laienglaube, Politischer Glaube) und Kirchen-„Staat“ (russisch-orthodoxes Patriarchat) mit all ihren Implikationen, Abhängigkeiten und verheerenden Folgen. So etwa, wenn Popen die russischen Soldaten „mit Gottes Segen“ in die Schlacht schicken, sei es nun in Butscha oder Charkiw. Oder wenn sie (Lenk-)Waffen segnen. Oder wenn der Moskauer Patriarch, Kyrill I., selbst zum Krieg gegen die Ukraine aufruft, und diesen Vernichtungs-Krieg als die eschatologische Entscheidungsschlacht zwischen „Gut und Böse“, also als die russische Version eines apokalyptischen „Harmagedon“, stilisiert. Putin-Mythos trifft auf Kyrill-Mystik. Diese ergänzt jene, lässt sie in einem Neuen Licht aufstrahlen. Schon sprechen kritische orthodoxe Theologen von einem „Mord am Brudervolk“, der die biblischen Züge von „Kain und Abel“ (vgl. Gen 4, 1-26) trägt. Zu offensichtlich und willfährig hat sich der Moskauer Patriarch vor Putins Propaganda-Karren spannen lassen und ist auf diese Weise selbst zum Protagonisten der Putin-Show geworden. Mal segnend, mal medienwirksam andächtig lauschend, wenn er die militärischen „Erfolgsmeldungen“ aus dem Ukraine-Krieg entgegennimmt.
— Fortsetzung folgt —
Quellen und Verweise
Putins Krieg in der Ukraine, Übersicht DW
https://www.dw.com/de/krieg-in-der-ukraine/t-60978725
Putins erste Amtszeit, chronologischer Aufriss, DW
https://www.dw.com/de/die-erste-amtszeit-putins-eine-chronik/a-1135041
Historische Bezugspunkte in Putins Großrussland-Narrativ
Die (mythischen) Herrscher und Zaren Russlands
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_russischen_Herrscher#Zaren_von_Russland
Rjurik I., Begründer der Rurikiden-Dynastie
https://de.wikipedia.org/wiki/Rjurik
Wladimir I., Großfürst der Kiewer Rus
https://de.wikipedia.org/wiki/Wladimir_I.
Überblick zur Geschichte Russlands
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Russlands
Überblick zur Geschichte der Kiewer Rus
https://de.wikipedia.org/wiki/Kiewer_Rus
Überblick zur Geschichte der Ukraine
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Ukraine
Faschismus — Begriffsklärung
Faschismus, wiki
https://de.wikipedia.org/wiki/Faschismus
Faschismustheorie
https://de.wikipedia.org/wiki/Faschismustheorie
wichtige Faschismus-Forscher
Emilio F. Gentile (nicht zu verwechseln mit Giovanni Gentile, dem faschistischen Chefideologen)
https://de.wikipedia.org/wiki/Emilio_Gentile
Roger Griffin
https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Griffin
Der italienische Faschismus
Italienischer Faschismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Italienischer_Faschismus
Benito Mussolini, der „Duce“
https://de.wikipedia.org/wiki/Faschismus
Der deutsche Nationalsozialismus
Deutscher Nationalsozialismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialismus
Adolf Hitler, der „Führer“
https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Hitler
Papst Pius XI.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pius_XI.
Die Lateranverträge mit Mussolini, Februar 1929
https://de.wikipedia.org/wiki/Lateranvertr%C3%A4ge
Papst Pius XII.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pius_XII.
Das sog. „Reichskonkordat“, 20. Juli 1933
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichskonkordat