Zeit und Ewigkeit — Advent, als das Kommen einer neuen Welt
11.12.2016
Friedrich Weinreb (1910-1988) war in jungen Jahren Professor der Mathematik in Rotterdam (1938) sowie in den 1950er und 60er Jahren Professor für Ökonometrie und Statistik, ferner arbeitete er als Ökonom in verschiedenen Kontinenten und war gleichzeitig wissenschaftlicher Berater bei den Vereinten Nationen in Genf (1961-1964). Vielleicht seine größte Berühmtheit erlangte er jedoch als Erzähler, Vermittler, Exeget und Deuter der chassidischen (osteuropäisches Judentum) und kabbalistischen Quellen und Schriften. Dieser Arbeit widmete er sich ab 1970 ausschließlich. Er lebte in Zürich, stdierte jedoch zeitweise in Jerusalem.
Sein äußerer Lebens-Weg gleicht der jüdischen Diaspora (gr. dia-speíro) , jenem Unbeheimateten, Unbehausten, diesem „Versprengt-sein unter die Völker“ — geboren in Lemberg, in den Kriegswirren des Ersten Weltkrieges Flucht nach Wien, sodann Kindheit und Jugend im holländischen Scheveningen, dort nach eigenem Bekunden im Widerstand gegen die Nazi-Besatzer, jedoch nach dem Kriege von verschiedenen holländischen Institutionen der Kollaboration mit eben diesem Regime bezichtigt und von 1945-1948 inhaftiert, danach Lehrtätigkeiten in Indonesien und der Türkei, Arbeit in Indien, Beratertätigkeit in Genf und zuletzt in Zürich arbeitend und lebend. Sein innerer Lebens-Weg jedoch verstand er als ein Lebens-Weg zu Gott. Dort war ihm eigentliche Heimat. Und das Wort, das zwischen Gott und dem Menschen kor-respondierte, das wechselseitig und wechselweise einander „Antwort“ gab, das also wie ein „Weberschiffchen“ zwischen beiden Wirklichkeiten hin und her „webte“, das eine spirituelle „Textur“ wirkte und dem Menschen einen spirituellen Kontext erschuf, dieses Wort war ihm heilig und „Wohnung“ zugleich. Einerseits ein „Unbehauster“, ein „peregrinus“, ein Wanderer nicht nur zwischen den Ländern sondern auch zwischen den „Welten“, wusste sich Weinreb zugleich doch beheimatet und „verortet“ in jenem Wort, das das Geheimnis jenes Gottes in sich trug, an den er glaubte. Ein Geheimnis so umfang-reich und „groß“, dass es selbst nach über 4.000 Jahren der ununterbrochenen Ausleuchtung, der Erhellung, der Ausdeutung durch Menschen jedem Menschen aufs Neue genügend „Raum“ darbot und auch zukünftig darbietet, um „Es“ als seinen persönlichen Lebens-Weg zu erfassen, zu deuten, zu beschreiben und vor allem: zu beschreiten. Lebens-Weg, aufgefasst und verstanden als ein suchender Weg zu Gott. In diesem Bezugs-„Rahmen“ lebte und arbeitete Friedrich Weinreb und verstand hierin sich selbst.
Von ihm stammt folgendes Wort zum Thema „Advent“: „Diese Erwartung, dieses Hoffen, — wissen und doch nicht wissen vom Kommenden — ist vielleicht eine der wichtigsten Säulen unseres Lebens überhaupt. Wir denken, wir wissen: Weihnachten wird Er geboren, das ist schon feststehend. Und man fragt sich eigentlich nicht, was es bedeutet, dass Er noch nicht da ist.“
Advent heute. Das ist vor allem ein Milliarden-Geschäft, das wie kein anderes Fest global Arbeitsplätze nachhaltig sichert. Ob nun Smartphones in China produziert, oder „Nikolausis“ aus Indien oder Pakistan, ob nun Flachbildschirme aus Indonesien oder Taiwan, oder „Küchenhilfen“ und Garnelen aus Thailand und Vietnam. Advent boomt. Und im Lichtermeer aus Neonreklamen und LED-Screens, in der schieren Warenflut, die nun wie ein künstlicher Tsunami die Konsum-Wohnzimmer flutet, da fragt sich kaum ein Mensch mehr, wessen wir da gedenken, wenn wir „Advent“ sagen. Und was das Wort besagt und benennt, wenn wir Advent an-sprechen.
Ad-vent. Inne-Halten. Heraus-Fallen aus dem Getrieben-Sein unseres Treibens, unseres Betriebes, unseres selbst-gemachten „Hamster-Rades“. Drop-Out.
Und Drop-In. Ad-vent, von lat. ad-venire, ad-ventus, verstanden als das An-Kommen, die An-Kunft. An-Kommen jenes Geheimnisses, das als Wort bei Gott war, jedoch im Wort bei den Menschen „Wohnung“ suchte und noch immer sucht. Dieses Wort sucht uns — jeden einzelnen Menschen. Es ist die Suche des Wortes, die diese ungeheuere Erwartung, dieses unverbrüchliche Hoffen im glaubenden Menschen auslöst und erschafft — bei Juden wie Christen gleichermaßen. Wissen, dass dieser Weg einstmals eröffnet wurde. Erfahrung der menschlichen, glaubenden Existenz, dass Gott ist. Dass Gott mit seiner Schöpfung unterwegs, d.h. zusammen mit dieser „auf dem Weg“ ist. Dem Menschen ein unsichtbar anwesender Weg-Gefährte, gr. hetairos, seiend. Durch die Schriften der Tora und der Bibel wissen Juden und Christen um die An-Kunft — sie vollzieht sich tagtäglich im persönlichen Glauben des einzelnen Menschen. Und doch bleibt immer auch ein Nicht-Wissen vom Kommenden, d.h. solange ein Mensch lebt, ist die Mensch-Werdung Gottes in ihm, das An-Kommende, nicht abgeschlossen, nicht vollendet. Es bleibt bei aller Vertrautheit, bei aller Erfahrung, bei allem gegen- und wechsel-seitigem Sich-Kennen-Lernen ein dem Wissen unaufhebbarer „Rest“ von Geheimnis. Dies erst eröffnet dem Menschen jenen Frei-Raum, um Vertrauen und authentischen Glauben wachsen lassen zu können. Sein Vertrauen auf Gott und in Gott (vgl. z.B. „Hiob“ oder die Psalmen). Das wachsende Vertrauen auf und in Gott mag tatsächlich eine der „wichtigsten Säulen unseres Lebens überhaupt“ sein. Gerade in einer zunehmend profaner werdenden Gesellschaft und einer ins bodenlose umstürzenden „Welt“.
Und vielleicht ahnt der Eine oder die Andere noch immer, dass es hinter dem Konsum-Horizont von „Weihnachten“ eigentlich um etwas völlig Anderes gehen könnte. Vielleicht mag der Eine oder auch die Andere noch immer eine schemenhafte, verschwommene Andeutung dessen wahrzunehmen, dass es bei Chanukka und Weihnachten um eine Geburt geht. Nicht um irgendeine Geburt von irgendeinem Menschen oder Tier, wie es sich milliardenfach in der Natur zuträgt. Nicht um eine rein genetisch-biologische Geburt im Sinne der gr. physis. Sondern um die Geburt Gottes als Mensch unter Menschen. Es geht — im jüdisch-christlichen Sinne — um die Menschwerdung Gottes und die Erfüllung des Wortes aus der Ewigkeit her. Die Erfüllung der Verheißung Jahwes findet ihren Zeit-Punkt und ihren Ort in der Geburt des Jesu aus Nazareth. Das denken und wissen wir, das ist feststehend, wohl seit es Karl der Große und seine Berater auf den 24.Dezember festgelegt hatten. Christliches Weihnachten. Zwar noch ohne Nikolausi und Tannenbaum. Wohl aber als „Hochfest der Christenheit“ als Andenken daran, dass Gott Mensch geworden ist. Der Tag als Zeit-Punkt des Festes, der ist definiert, der ist bekannt, der ist „feststehend“. Als ein winziger Augenblick von Ewigkeit in unserer Zeit. Das ist der äußere Bezugs-Rahmen aus Jahres-Zyklen, kirchlichen Feiertagen und „Hochfesten“, kalendarischen Monats-Abläufen.
Aber der existentielle Lichtblick, um den es Friedrich Weinreb eigentlich ging, das war dieses Aufstrahlen der Mensch-Werdung Gottes in uns Menschen, quasi die „Wiedergeburt [des Menschen] aus dem Geiste“, wie es etwa im „Nachtgespräch des Nikodemus“ (vgl. Joh. 3,1-8 bzw. 3,1-21) heißt. Eine spirituelle Geburt, die sich nicht nur in einzelnen Mystiker/-innen, nicht nur in den Ausnahme-Gestalten der Propheten und Prophetinnen, nicht nur in den herausragenden Persönlichkeiten jüdisch-christlicher Tradition ereignet hat — sondern sich in jedem von uns ereignen kann. Mensch-Werdung im wechsel-seitigen Dialog von Mensch und Gott. Menschwerdung-Gottes im Menschen als die eigentlichste Menschwerdung des Menschen. Augenblick für Augenblick. Tag für Tag. Und dieses lebendige „Da-Sein“ — ‚da‘ als der Ort im je einzelnen Menschen innerhalb der Menschen-Zeit und ‚Sein‘ als die Weise wie das ‚da‘ ist und in der Zeit anwesend ist — dieses singuläre, individuelle Da-Sein als spiritueller Lebens-Weg im Werden, dieses Da-Sein ist noch immer ausstehend. Sowohl in der Partikularität des je Einzelnen, als auch im Ganzen der „Heils-Geschichte“. Und es bleibt ausstehend, also noch immer in der An-Kunft als Ad-vent verweilend, solange, bis man sich eigentlich fragt, was es bedeutet, dass Er noch nicht da ist. Anders gesagt: Woran mag es nur liegen, dass wir von Gott wissen, dass wir um Gottes Anwesenheit unter den Menschen wie auch innerhalb der „Welt“ wissen, aber dass Gott in unserem eigenen Leben, in unserer eigenen Existenz wie auch in der Welt (siehe all die Kriegs-Wirren und Gräueltaten in unserer Zeit…) gleichsam wie „abwesend“, wie „Geistes abwesend“ erscheint? Dieses existentielle, spirituelle Paradoxon: Einerseits zwar allzeit anwesend, aber gleichzeitig noch immer nicht „da“. Teil unserer selbst — aber noch immer nicht Wirklichkeit meines Selbst. Ad-vent als An-Kunft Gottes im Menschen steht immer noch bevor. Sie ist uns Menschen Auftrag und möglicher Lebens-Weg zugleich. Für Juden wie Christen gleichermaßen. Und jenseits aller religiösen Gottes-„Bilder“ der monotheistischen Weltreligionen, für jeden Menschen, der glaubt.
Quellen
Friedrich Weinreb
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Weinreb
Friedrich Weinreb Stiftung
http://www.weinreb-stiftung.org/index.php
Friedrich Weinreb. Gottes verborgener Ort im Wort, Vortrag von Heini Ringger, Bad Schönbrunn, 2006
http://www.jiddischkurs.de/resources/FriedrichWeinreb.pdf