ZEIT DES SCHRECKENS
Über das Buch Gespräche am Teetisch von Johannes Chwalek
Warum schreibt ein versierter Autor über autobiographisch gefärbte Erlebnisse im Familienkreis? Und weshalb brauchen wir ein solches Buch?
Gespräche am Teetisch – so lautet der harmlos anmutende Titel des Romans, der im Jahre 2019 in dem unabhängigen Verlag edition federleicht in Frankfurt am Main erschien. Harmlos ist das, wovon Johannes Chwalek erzählt, keineswegs: Es geht um Missachtung, Unterdrückung und Gewalt.
Zum beschriebenen Haushalt gehören nach dem frühen Tod der Mutter fünf Geschwister sowie zwei weitere Kinder aus der Beziehung zwischen dem Vater und der Stiefmutter. Während die Frau ihre eigenen Kinder schont, übt sie unsäglichen Druck auf die „fremden“ Kinder des Mannes aus, der im Text bezeichnenderweise stets als „biologischer Vater“ tituliert wird. Welche Rolle spielt er in der zerstörerischen Familienatmosphäre, in der körperliche und seelische Gewalt an der Tagesordnung sind? Er bleibt entsetzlich passiv, schützt seine leiblichen Kinder nicht vor der krankhaft herrschsüchtigen Frau und gibt lediglich beschwichtigende Äußerungen von sich, welche die Fortdauer des Schreckens ermöglichen.
Jeannot, der Protagonist, ist eines der gepeinigten Kinder. Er nimmt gedanklich Zuflucht zum Schreiben eines Tagebuchs, um so über die quälenden Erfahrungen nachzusinnen. Als er schließlich wegen schlechter Schulleistungen in ein Internat kommt, wird der Präses, ein Erzieher, zu seinem Retter. Mit ihm führt der Junge Gespräche am Teetisch, ihm vertraut der Ich-Erzähler die im Schutz der Schule tatsächlich geschriebenen Tagebuch-Aufzeichnungen an. In der Folge geht das Sorgerecht von den Eltern auf den Internatserzieher über.
Warum schreibt ein versierter Autor über autobiographisch gefärbte Erlebnisse im Familienkreis? Und weshalb brauchen wir ein solches Buch?
Johannes Chwalek, geboren 1959 in Flörsheim am Main, ist im Hauptberuf Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie. Er hat bereits zahlreiche Titel veröffentlicht: Einzelausgaben, Aufsätze und Belletristik in Sammelbänden und Anthologien, Rezensionen sowie weitere Beiträge. Gegenwärtig verfasst er überwiegend didaktische Literatur. In seinem beruflichen Wirken mag einer der Gründe für das Entstehen des Buches Gespräche am Teetisch liegen. Denn Johannes Chwalek versteht es, sich auf Menschen einzulassen, über sie zu reflektieren und Probleme zu erkennen und zu benennen. Diese Fähigkeit zeigt sich auf eindrückliche Weise in dem Roman, dessen Fundament die eigenen jugendlichen Aufzeichnungen sind. Schon der damalige Tagebuch-Schreiber der 1970er Jahre war in der Lage, Erlebtes in Worte zu fassen und damit den Boden für das Verstehen zu bereiten. Schülerinnen und Schüler, die einen Lehrer haben, der Sensibilität und Einfühlung in andere besitzt, kann man nur beglückwünschen.
Neben der pädagogischen Ader zeichnet Johannes Chwalek ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein aus. Ich denke dabei an eine Aussage des französischen Philosophen Gilles Deleuze, der in dem Werk Was ist Philosophie? im Blick auf den Holocaust von der „Scham, ein Mensch zu sein“ spricht und erläuternd hinzusetzt: „Wir sind nicht für die Opfer verantwortlich, vielmehr vor den Opfern.“ In diesem Sinne lässt sich sagen: Der Autor Johannes Chwalek übernimmt mit seinem Buch Gespräche am Teetisch, indem er persönlich Erlebtes in Sprache setzt, gleichsam Verantwortung vor allen Opfern von Gewalt und Apathie.
In einer Zeit zunehmender Radikalisierung in der Gesellschaft ist die einfühlsame Auseinandersetzung mit Gewalterfahrungen hilfreich. Deshalb brauchen wir ein solches Buch, das nicht allein von einer einzelnen Familie und einer pfälzischen Kleinstadt handelt, sondern darüber hinaus eine gesellschaftskritische Dimension besitzt.