WIRKLICHKEIT IN KUNST UND LITERATUR


WIRKLICHKEIT IN KUNST UND LITERATUR

 

Um es gleich vorweg zu sagen: Es gibt – das ist das Spannende – keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem künstlerischen und literarischen Wirklichkeitsverständnis. Vielmehr öffnet sich dem Suchenden ein breites Spektrum an Positionen. Und auch diese Standpunkte bilden nur einen Ausschnitt aus den vielfältigen – einander durchaus widersprechenden − Untersuchungen des Begriffs Wirklichkeit.

 

Denken wir etwa an die naturwissenschaftliche Disziplin. Eine der Auffassungen lautet: Wirklich ist, was wir wahrnehmen oder dessen Vorhandensein wir durch Messungen und Modelle bestätigen; was wir von subjektiven Elementen läutern, was wir auf der Basis von Schlussfolgerungen als objektiv seiend akzeptieren. Wirklichkeit ist demnach das, was außerhalb des Denkens existiert.

 

Nehmen wir eine Anschauung aus der Psychologie: Wirklichkeit ist eine Interpretation unseres Gehirns, also etwas Subjektives. So deutet beispielsweise das Hirn Wellenlängen als Farbe.

 

Oder blicken wir in das Reich der Philosophie. Wählen wir den Idealismus: Die Wahrnehmungen in Raum und Zeit sehen demnach nur eine Scheinwelt; wirklich ist einzig die unserer Erkenntnis prinzipiell nicht zugängliche geistige Welt-an-sich; von dieser erblicken wir lediglich ihre Erscheinungen in unbeständiger sinnlicher Erfahrung.

 

Die Beispiele aus anderen Kulturzweigen lassen erahnen, wie vieldeutig das ist, was wir Wirklichkeit nennen. Widmen wir uns in der begrenzten Zeit den Sphären der Kunst und der Literatur.

 

Von seiner lexikalischen Bedeutung her ist der Begriff der Kunst weit gefasst: Er umgreift alle auf Wissen und Übung gegründeten Tätigkeiten. Ich verwende das Wort im Folgenden für die bildenden Künste.

Insofern Kunst– etymologisch gesehen – das von Kenntnis und Fertigkeit Hervorgebrachte, also das von Menschen Gestaltete meint, steht sie im Gegen-

satz zur Natur, dem unabhängig vom Menschen Bestehenden und sich selbst Reproduzierenden. Für die Frage nach der Wirklichkeit in der Kunst und in den literarischen Schöpfungen ist damit eine fundamentale Doppelstrukturgegeben: auf der einen Seite das vom Menschen Vorgefundene, nennen wir es: die Wirklichkeit, auf der anderen Seite das von ihm ins Werk Gesetzte.

Wie lässt sich nun das Verhältnis der beiden Seiten zueinander denken, kurzum: Welchen Stellenwert besitzt die Wirklichkeit in Kunst und Literatur?

 

Hören wir Friedrich Schiller als Vertreter eine idealistischen Auffassung:

In seiner philosophischen Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, erschienen 1795, beschreibt der Dichter die Distanz zur Wirklichkeit als Wesensmerkmal der Kunst. Im 24. Brief stellt er den „physischen Zustand“ dem höherwertigen „ästhetischen Zustand“ des Menschen gegenüber. Auf der niedrigen Stufe ist der Mensch an die Natur gefesselt: Einerseits will er das, was er vorfindet, begierig in sich aufnehmen, andererseits ist er ihren zerstörerischen Wirkungen ausgesetzt und verabscheut sie deshalb. In diesem rohen Entwicklungsstadium ist alles an Zwecke gebunden, ist der Mensch an die Wirklichkeit gefesselt.

Es kommt nach Schiller  darauf an, das höhere Niveau zu erreichen, eben das Ideal des Poetischen und Künstlerischen. Es ist dadurch charakterisiert, dass „wir das Schöne der lebendigen Natur […] genießen können, ohne es zu begehren, das Schöne der nachahmenden Kunst […] bewundern können, ohne nach einem Zwecke zu fragen“. (1) Schiller verknüpft also Schönheit und Freiheit. Freiheit, meint er,  gelange in der Schönheit zum Ausdruck, werde in der Schönheit erfahrbar. Unter diesem Gesichtspunkt ist Schönheit mit dem Spielen verwandt, das frei von Notwendigkeiten und Pflichten der Wirklichkeit ist.

 

Ganz anders als Schiller, der die Wirklichkeit idealistisch, also mit Hilfe eines kulturellen Wunschbildes, zu transzendieren bestrebt war, betrachteten Vertreter des literarischen und künstlerischen Naturalismus Wirklichkeit. Ihnen ging es nicht darum, Wirklichkeit lediglich als Stoff zu begreifen, dessen sich künstlerische Subjektivität bedient, um ihn ins Werk zu transformieren. Vielmehr galt ihnen Wirklichkeitstreue als zentrales Anliegen. Naturalistische Künstler und Schriftsteller suchen die Wirklichkeit abzubilden, und zwar unter bewusster Einbeziehung des Alltäglichen, der kleinbürgerlichen Idylle und des sozialen Elends.

 

In der bildenden Kunst ist der Naturalismus eine Strömung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Schweizer Kunsthistoriker Georg Schmidt, der bis zu seinem Tod 1965 Professor an der Akademie der bildenden Künste München war, bestimmte als Kriterien naturalistischer Malerei neben anderen: zeichnerische, anatomische und farbliche Richtigkeit. Grundsätzlichist freilich

festzuhalten, dass die angestrebte exakte Abbildung der empirisch fassbaren Wirklichkeit nicht Neutralität bedeutet, sondern auch sozialkritische Absichten verfolgt.

Die Intentionen der Naturalisten teilten, um zwei Beispiele zu nennen, Max Liebermann (1847−1935)und Käthe Kollwitz (1867−1945). Liebermann, dessen Gemälde Die Gänserupferinnen (1871)ihm das Etikett „Maler des Hässlichen“ eintrug und dessen Kunst in Deutschland lange als „Schmutzmalerei“ galt,  war von Kollwitz‘ Blätterfolge Ein Weberaufstand (1893−1897) fasziniert. Er schlug deshalb die junge Künstlerin für die Verleihung einer Medaille vor. Doch Kaiser Wilhelm II., der die damals moderne Kunst als „Rinnsteinkunst“ herabwürdigte, lehnte das Ansinnen ab.

Auch Max Liebermann geht – wie Schiller – vom künstlerischen Individuum aus, aber in einem gänzlich anderen Sinn: Nicht die „Vorstellung von der Idee“, sondern die „Vorstellung von der Wirklichkeit“ charakterisiere naturalistische Ästhetik, wie Liebermann in seinem 1916 veröffentlichten Essay Die Phantasie in der Malerei feststellt.

 

Mit dem erwähnten Weberzyklus bezieht sich die Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz auf das soziale Drama Die Weber, das der naturalistische Dichter Gerhart Hauptmann (1862−1946) in den Jahren 1891 bis 1892 schuf. Hauptmann verarbeitet darin die Erhebung schlesischer Weber 1844, die durch deren Ausbeutung und Verelendung hervorgerufen wurde. Hauptmann betrieb für das Schauspiel genaue historische Studien und reiste sogar im Frühjahr 1891 in das Webergebiet Schlesiens, um die menschenunwürdigen Lebensverhältnisse wirklichkeitsgetreu verarbeiten zu können. Erst nach langwierigen juristischen Auseinandersetzungen durfte das Drama aufgeführt werden. Kaiser Wilhelm II. beklagte die „demoralisierende Tendenz“ des Werkes und kündigte nach gerichtlicher Aufhebung des Verbotes die kaiserliche Loge im Deutschen Theater in Berlin.

Schon vor ihren Weber-Lithographien und Weber-Radierungen entschied sich Käthe Kollwitz für eine literarische Vorlage: Émile Zolas 1885 erschienenen Roman Germinal. Der französische Schriftsteller Zola (1840−1902) gilt als Wegbereiter des naturalistischen Literaturkonzepts. Im dreizehnten Teil seines Zyklus‘ Das Leben der Familie Rougon-Macquart  beschreibt er präzise und sachlich die verzweifelte Lage von Bergleuten und deren Angehörigen. Auch hier liegt – wie bei dem Drama Gerhart Hauptmanns – ein konkretes historisches Ereignis zugrunde: ein gescheiterter Streik von Minenarbeitern 1884. Und auch Zola lebt eine Zeitlang unter den Menschen, deren Elend er dokumentiert.

Käthe Kollwitz‘ Szenenfolge zu Germinal, für die sie Studien von Figuren in Matrosenkneipen betreibt,  blieb wegen der 1893 einsetzenden Arbeiten über die Weberunvollendet.

Noch ein drittes Mal finden im Werk der Käthe Kollwitz Literatur und bildende Kunst zusammen, auch diesmal streng an der geschichtlichen Realität orientiert. In den Jahren 1901 bis 1908 fertigt sie sieben Blätter: den Zyklus Bauernkrieg. Die Kenntnisse der historischen Ereignisse des Jahres 1525 eignet sie sich durch

die intensive Beschäftigung mit dem geschichtswissenschaftlich fundierten Werk Allgemeine Geschichte des großen Bauernkriegesan. Verfasser des zuletzt 1999 aufgelegten Opus war der Theologe und Dichter Wilhelm Zimmermann (1807−1878). Er beurteilt den Bauernkrieg als Kampf gegen Willkür und Unterdrückung.

Käthe Kollwitz veranschaulicht in ihren Blättern als Chronistin die Rechtlosigkeit der Bauern und die Grausamkeit des Krieges. Dabei widmet sie sich verstärkt der elenden Lage der Frauen. Sie stellt ganz im Sinne des literarischen Naturalismus die Wirklichkeit dar, um auf diese Weise das Bewusstsein der Betrachter zu sensibilisieren.

 

Neben Gerhart Hauptmann und Émile Zola seien noch als Vertreter naturalistischer Literatur der Norweger Henrik Ibsen (1828−1906), der Schwede August Strindberg (1849−1912) angesprochen.

Ibsen schrieb Gesellschaftsdramen, die auch Entdeckungs- oder Enthüllungsdramen genannt werden. Beziehungen der Personen untereinander werden aufgedeckt, unerwartete Wahrheiten bloßgelegt. Ich nenne die Werke Stützen der Gesellschaft (1877), Nora oder Ein Puppenheim (1879), Gespenster (1881) und Ein Volksfeind (1882). Ähnlich wie Gerhart Hauptmann erging es übrigens Henrik Ibsen: Seine Werke erregten Empörung. So durfte beispielsweise das Drama Gespenster, in dem es um Ehebruch und Syphilis geht,  an vielen Theatern lange nicht aufgeführt werden. Die Zeit verschloss die Augen vor der Realität; die Wahrnehmung der Wirklichkeit erfolgte höchst selektiv.

 

Ein scharfer Beobachter des Alltags war auch August Strindberg, der in seinem Frühwerk dem Naturalismus, im Spätwerk dem Expressionismus zuzuordnen ist. Schonungslos schildert und kritisiert zum Beispiel der Roman Das rote Zimmer(1879) die gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit. Exakte Milieuschilderung ist Strindbergs Anliegen; seine Texte sollen ein Spiegel der Wirklichkeit sein. Der Einakter Fräulein Julie (1888), der die Gattungsbezeichnung Ein naturalistisches Trauerspiel trägt, geht auf die tatsächliche Affäre einer Adligen mit einem Knecht zurück. Im Verlauf des Stückes wird die Herrin zur Gedemütigten, der Diener zum Herrn. Der Schriftsteller verfolgt nach eigenem Bekunden die Intention, ohne moralisches Urteil, ohne subjektive Stellungnahme auf dem Boden der Tatsache zu bleiben, dass stets der Stärkere triumphiert. Der Realismus des Schauspiels wurde als schockierend empfunden, das Stück nach der deutschen Erstaufführung 1892 vom Spielplan genommen.

 

In Abgrenzung von der naturalistischen Kunstauffassung entwickelten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert Stilrichtungen wie der Impressionismus und der diesem entgegengesetzte Expressionismus.

Der Impressionismus, dessen Name auf das Ölgemälde Impression, Sonnenaufgang (187273) des französischen Malers Claude Monet (1840−1926)

zurückgeht, überwindet die malerische Abbildungsfunktion. Sein Ziel ist die  Darstellung des Lichtes und der atmosphärischen Bedingungen. Hier zeigt sich erneut ein spezifisches Wirklichkeitsverständnis. Wenn der Verstand Dinge benennt, trennt er sie voneinander; ein rationales Verhältnis zu den Gegenständen ist wesentlich durch sprachliche Unterscheidungen charakterisiert. Gegenüber Definitionen, welche mittels Abgrenzung festsetzen, was eine Sache wirklich ist, halten impressionistische Künstler den lichtdurchfluteten Zusammenhang von Dingen für wahr. Einzelnes hebt sich höchstens silhouettenhaft vom Licht ab. Die Form von Gegenständen ist nicht entscheidend. Wirklichkeit erscheint als Darstellung dessen, was das Auge in einem bestimmten Moment wahrnimmt, wobei die Freilichtmalerei den direkten Kontakt mit der Natur ermöglicht. Der Impressionismus, der zugunsten der Wiedergabe des augenblicklichen optischen Eindrucks auf antike, mythologische und religiöse Motive verzichtet, will Phantasie und Sensibilität der Betrachter anregen.

 

Im Expressionismus ist nicht die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Impressionen das Ziel. Es ging Malern wie Paul Gaugin(1848−1903), Vincent van Gogh (1853−1890) – beide Vorläufer des expressionistischen Stils −, der 1905 in Dresden gegründeten Künstlergruppe Brücke  und den dem Blauen Reiter zugerechneten Künstlernvielmehr darum, subjektives Erleben, persönliche Regungen auszudrücken. Die Motive der Expressionisten sind Ausdrucksträger von Empfindungen. Im freien Spiel mit Farben und auf das Wesentliche reduzierten Formen, in der Abkehr von herkömmlichen Proportionen und Perspektiven bringen die expressionistischen Maler ihre Emotionen zum Ausdruck – Gefühlsbewegungen sind das, was ihnen als wahr gilt.

 

Etwa zeitgleich mit dem Expressionismus bildete sich in der Weimarer Republik  sowohl in der Kunst als auch in der Literatur die Richtung der Neuen Sachlichkeit.

Vor dem Hintergrund der zerstörerischen Wirkungen des Ersten Weltkrieges wandten sich die Künstler der Neuen Sachlichkeit – hierin dem Naturalismus verwandt – mit traditionellen Techniken nüchtern den Objekten der Alltagswirklichkeit zu: beispielsweise Glühbirnen, Radioapparaten, Litfaßsäulen, Reklameschildern. Die Gattungsmalerei spielte wieder eine Rolle:

Stillleben, Porträts, Akte, Landschaften und Stadtansichten entstehen. In objektivierender Malweise rückt die sichtbare Wirklichkeit in den Mittelpunkt.

Auf dem Gebiet der Literatur entstanden in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Werke, die von illusionslosem, politisch-sozialem Engagement geprägt sind. Es war das Anliegen der Autoren der Neuen Sachlichkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit objektiv und präzise wiederzugeben. So schreibt der österreichische Schriftsteller und Journalist Joseph Roth (1894−1939) im Vorwort seines Romans Flucht ohne Ende (1927): „Ich habe nichts erfunden,

nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu ‚dichten‘. Das Wichtigste ist das Beobachtete.“ (2)  Die Neue Sachlichkeit nahm die Alltagssorgen der Menschen  ernst. Der Stil der Texte war kühl, dokumentarisch und durch die Alltagssprache bestimmt.

 

Eine ganz eigentümliche und, wie ich finde, hochinteressante Rolle nimmt die Wirklichkeit im künstlerischen Schaffen des belgischen Malers René Magritte (1898−1967) ein, auf den ich nun noch eingehen möchte.

Der Künstler begann mit Bildern im impressionistischen Stil, schuf während seines Kunststudiums kubistisch-futuristisch geprägte Arbeiten, erhielt Anregungen aus der dadaistischen Bewegung und malte dann bis zu seinem Tod als Surrealist.

Der Begriff Surrealismus ist eine Zusammensetzung aus den französischen Wörtern sur „über“ und réalisme „Realismus“. Die mit diesem Wort bezeichnete künstlerisch-literarische Bewegung verband Reales und Traumhaft-Phantastisches zu einer „absoluten Wirklichkeit“, eben zur surréalité.

Auf dem Feld der Literatur gelingen neue Erzähltechniken, etwa Collage und Fragment. Ich nenne nur die Dichter André Breton (1896−1966, Louis Aragon (1897−1982), Yvan Goll (1891−1950) und den Maler und Lyriker Hans Arp (1886−1966).

Doch verweilen wir, um einen bedeutenden Vertreter surrealistischer Malerei etwas näher zu betrachten, bei René Magritte.

Der Künstler war beeinflusst von der italienischen Pittura metafisica und der

modernen Tiefenpsychologie. Bei Giorgio de Chirico (1888−1978) und Carlo Carrà (1881−1966), den beiden Begründern der Metaphysischen Malerei, steht das nur im Denken zu erkennende Übersinnliche im Zentrum ihres Wirkens. Die Bilder künden von einer anderen Wirklichkeit, die hinter dem Sichtbaren verborgen ist. Das Dargestellte erscheint fremd und rätselhaft. So vereinigt Chiricos Bild Das Lied der Liebe (1910) Gummihandschuhe, das Antlitz einer antiken Statue, einen Ball, eine Ziegelmauer, ein Arkadenelement und die Silhouette einer Lokomotive. Das, was dem herkömmlichen Betrachter unvereinbar erscheint, wird in künstlerischer Freiheit kombiniert.

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856−1939) stellt dem Bewusstsein die unterdrückten Triebe gegenüber. So revoltiert auch im Surrealismus das Verlangen nach freiem Schöpfertum gegen zweckverhaftete Rationalität.

Magritte unterteilte sein malerisches Lebenswerk in zwei Perioden. Zunächst suchte er, angeregt durch das erwähnte Bild Chiricos, den „überwältigenden poetischen Effekt“. Später jedoch analysiert er seine Malerei, reflektiert sie kritisch.

Den „ungewohnten poetischen Sinn“ erhoffte er sich „durch die Inszenierung von Gegenständen, die der Realität entlehnt waren“, wie er in einem Vortrag 1938 rückblickend bemerkte. Wir begegnen Tischbeinen aus gedrechseltem Holz, die einen Wald beherrschen, Dessous der Jungfrau Maria, der Verknüpfung von Bildern mit Wörtern. Die verfremdende Zusammenstellung von Elementen der alltäglichen Welt sollte die Gegenstände in einem sensationellen Licht erscheinen lassen und so vertraute Sehweisen durchbrechen.

In der nachfolgenden Schaffensphase arbeitete Magritte drei Orientierungsgrößen für seine Arbeit heraus, die er in seinem Vortrag benennt: „den Gegenstand, das ihm im Dunkel meines Bewußtseins anhaftende Ding und das Licht, in das dieses Ding gelangen sollte.“ Ich wähle als Beispiel das Gemälde „Die Entdeckung des Feuers“ (1936). Wir sehen eine große Posaune, die lichterloh brennt, obgleich das Material des Instruments dies schwerlich zulässt. Magritte äußerte sich hierzu so: Das Bild „verschaffte mir das Privileg, dasselbe wie die ersten Menschen zu fühlen, die durch das Aneinanderschlagen zweier Steine Feuer erzeugten. Ich habe mir meinerseits vorgestellt, ein Stück Papier in Brand zu setzen, ein Ei und einen Schlüssel.“ (3) Vor unseren Augen erscheint ein bekannter Gegenstand in Verbindung mit Feuer – beides Elemente der Wirklichkeit. Die verborgene Assoziation des Malers findet ihren Ausdruck im Gemälde, das die neue Wirklichkeit verkörpert.

Auf die Beziehung zwischen außenliegendem Objekt, Bezeichnung und Repräsentation des Objektes lenkt uns das berühmte, 1929 entstandene Gemälde „Der Verrat der Bilder“ mit dem Schriftzug „Das ist keine Pfeife“. Das plastische Element der realistisch gemalten Pfeife und die verbalen Zeichen bilden das Gemälde. Nach der Deutung des Bildes durch den Philosophen Michel Foucault (1926−1984) zielte Magritte zum einen darauf ab, auf den Unterschied zwischen einem Originalgegenstand und dessen Abbild hinzuweisen, zum anderen darauf, die Betrachter zu der Überlegung anzuregen, was die Wirklichkeit eines Gegenstandes überhaupt ist. (4)

In Anspielung auf dieses Gemälde gab die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main während der diesjährigen Magritte-Ausstellung diese Papiertüte heraus. Sie sehen neben der Pfeife die Worte: Dies ist keine Tüte.

 

Einigen, längst nicht allen, Aspekten des Themas Wirklichkeit in Kunstund Literatur sind wir in dieser Stunde begegnet. Fragen bleiben: Mit den Worten des Psychotherapeuten Paul Watzlawick (1921−2007): „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Und: Sind künstlerische und literarische Werke in der Lage, das Wirkliche abzubilden, metaphorisch gesprochen, Spiegel der Realität zu sein? Oder: Können wir von Wirklichkeit angemessen nur im Plural sprechen?

 

Ich schließe als Autor mit zwei gegensätzlichen Äußerungen der Schriftsteller Theodor Fontane (1819−1898) und Arno Schmidt (1914−1979), des Eremiten aus Bargfeld in der Lüneburger Heide.

Theodor Fontane erklärte: „Es soll sich die Dichtung nach dem Leben richten, an das Leben sich anschließen [ … ].“ (5)

Arno Schmidt hingegen setzte Wirklichkeit und Fiktion in ein wirklich originelles Verhältnis setzte: „Die ‚Wirkliche Welt‘?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!“ (6)

 

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QUELLENANGABEN:

 

(1) Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer

Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und

Herbert G. Göpfert, Fünfter Band, Darmstadt, 9. Aufl. 1993, Seite 661

(2) Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende, hrsg. von Karl-Maria Guth, Berlin

2015, Vorwort

(3) Die angeführten Zitate nach: Magritte, Der Verrat der Bilder. Katalog der

deutschen Ausgabe anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle Schirn,

Frankfurt am Main 2017, Seiten 32,33

(4) Michel Foucault, „Dies ist keine Pfeife“, mit zwei Briefen von René

Magritte, aus dem Französischen und Nachwort von Walter Seitter,

München 1974

(5) Theodor Fontane, Autobiographische Schriften, Band II, Berlin und

Weimar 1982, Seite 216

(6) Arno Schmidt, Die Schule der Atheisten. Novellen-Comödie in sechs

Aufzügen, Frankfurt am Main 1972, Seite 166