Wie es bröckelt und schwindet
Erzählung, Teil 7
Ich sah auf die Uhr: Mein Zug fuhr bald.
Beschenkt mit dem Pfeifenetui, vor allem aber mit dem Typoskript stand ich zum Aufbruch bereit.
Er gab mir die Hand, seine große, schwere Hand mit festem Druck und umarmte mich.
Die Frage nach der Bibliothek im Internat lag mir noch auf der Zunge. Wo war sie denn nun eigentlich untergebracht gewesen? Der Präfekt musste es doch wissen. Aber ich spürte einen Widerstreit wie damals, als ich mich nach unten zum Studiersaal der Sekundaner geschlichen hatte und vom Präfekten entdeckt worden war – und diesmal gehorchte ich.
Am Bahnsteig blickte ich durch die Sträucher hinüber zu seiner vielleicht dreihundert Meter entfernten Wohnung. Stand er am Fenster und winkte mir? Ich war mir nicht sicher, aber winkte auf den Verdacht hin. Es wäre das letzte Mal gewesen, dass ich ihn gesehen hätte.
III
Bald vierzig Jahre sind vergangen – vierzig Jahre! – seitdem ich zum zweiten Mal zur „Tischrunde des Präfekten“ eingeladen wurde. Ich wohne im Erdgeschoss eines fast fertig renovierten Hauses. Es ist wirklich das Erdgeschoss (wenn ich die Haustür öffne, schaue ich ebenerdig über einen kleinen Vorplatz auf die Straße) nicht wie damals im Internat ein Erdgeschoss, das eigentlich das erste Stockwerk war usw. (Mittlerweile weiß ich natürlich, womit diese Architektur zusammenhängt: mit der Hügellandschaft, in der Ende des 19. Jahrhunderts die Fundamente für das Internat gelegt worden waren; auf der Südseite befindet es sich an einer steil verlaufenden Straße.) Übrigens wurde das Internat im Jahr 1981, noch zu Lebzeiten des Präfekten – er starb 1985 – geschlossen und zwei Jahre später nach großen Umbauarbeiten als neues Rathaus der Stadt B. eröffnet.
Wie viele Zimmer gibt es in dem prachtvollen Gebäude zwischen waldigen Hügeln und kleinen stillen Seen? Ich gehe durch das malerische Tor und gelange auf einen weiten und stillen Platz. Hinter mir die Gegenwart – den Zuchtmeister-Stab erhoben und Gleichheit fordernd. Unterschiede gelten als verdächtig; sie werden diskreditiert. Kontrolle und Funktionalität sind die neuen (alten) Leitbilder. Statt Funktionalität ließe sich auch sagen: Austauschbarkeit. Gibt es ein Gegenmittel, für das ich Achtung tragen könnte?
Während der Arbeit an Aufsätzen über die ehemalige Bildungsstätte meiner Jugend kontaktierte ich den letzten Rektor des Hauses. Er lud mich zu einem Besuch ein und überließ mir alle möglichen Andenken, die er noch vom Internat besaß. Auch ein Stempel war dabei. Ich betrachtete ihn genau. Woran erinnerte er mich? Da fiel mir das Buch „Traumfährte“ ein, das mir Gerold H. aus der Bibliothek geholt hatte und worin ein solcher Stempelabdruck vorhanden war. War er mit dem Stempel gemacht worden, den ich in der Hand hielt? Mit den anderen Andenken sowie drei Aktenordnern mit Recherche-Material übergab ich ihn schließlich dem Archiv der Stadt B.