Wie es bröckelt und schwindet Erzählung, Teil 6


Wie es bröckelt und schwindet

Erzählung, Teil 6

Das Haus war von ernüchternder Funktionalität. Ein aufgestellter Quader mit einem Flachdach! ging es mir durch den Kopf. Im Erdgeschoss wurde eine „Spielhölle“ betrieben. (Noch heute – vierzig Jahre später! – blinken dort die Automaten!)

Ich öffnete die Haustür, erstieg die Treppen und drückte die Klingel mit dem Namen „Schramm“. Da hörte ich ihn schon zur Tür kommen. Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte er mich und reichte mir die Hand – eine große und schwere Hand, was ich noch gar nicht erwähnt habe – mit festem Druck. Er bat mich in den kleinen Flur, an dem vier Zimmertüren zu sehen waren.

Auf den ersten Blick verstand ich, dass ich mich in einer normalen Wohnung befand und wehrte mich innerlich dagegen, dass dies die Behausung des Präfekten sein sollte, wahrscheinlich für den Rest seines Lebens. Waren die schönen alten Mauern des Internats, die großen Säle und langen Gänge mit hohen Decken und auch das weitläufige Freigelände mit einem Fischteich und alten ernsten Bäumen keine würdigere Umgebung für ihn gewesen?

Er las in meinem Gesicht und lächelte. In seinem Wohn- und Arbeitszimmer standen auf einem runden kleinen Tisch, an dem zwei Sessel postiert waren, Tee und Gebäck bereit. Sein Schreibtisch stand in der einen Ecke, sein Bücherregal mit Plattenspieler und Radiorekorder in der anderen. Ein winziges Fernsehgerät fesselte kurz meinen Blick. Noch nie hatte ich einen so kleinen Fernseher gesehen.

„Setz dich“, forderte er mich auf und wies auf einen der Sessel. „Du trinkst doch Tee?“

„Ja, sehr gerne.“

Als der weiße Kandis in der Glaskanne über dem brennenden Stövchen knackte und der Tee in unseren Gläsern dampfte, sagte der Präfekt:

„Dann erzähl mal! In der Zwischenzeit hast du ja wohl viel gelesen, und zwar nicht nur Wildschwein- und Märtyrer-Geschichten, oder?“

Die Anspielung auf die schon sagenhafte Tischrunde im Internat verwirrte mich. – Oh ja, das eine und andere Buch hatte ich gelesen, aber was bedeutete das? Ohne zu wissen, wie ich anfangen sollte, sagte ich:

„Ich beobachte mich als Leser und stelle mir dabei Fragen.“

Der Präfekt wartete freundlich, wie ich fortfahren würde.

„Bei manchen Büchern ist mir klar, dass ich sie nicht verstehe, aber ich lese trotzdem weiter…“

„Wie meinst du das?“

„Anscheinend geht von den Büchern eine ‚Melodie’ aus – oder wie soll ich es nennen? – die mich jenseits rationalen Verstehens an sie fesseln kann.“

„Das hast du schön ausgedrückt. Aber nun sage: Was stört dich daran?“

„Nichts, außer dass es mir vielleicht zu wenig vorkommt.“

„Nun ja, mit dem Wort ‚vielleicht’ drückst du Unsicherheit aus. Es ist ja auch nicht so, dass du tatsächlich nichts verstehst – in diesem Fall würdest du nämlich die Lektüre rasch beenden. Welches Buch liest du gerade?“

„’Doktor Faustus’ von Thomas Mann.“

„In der Tat ein anspruchsvolles Werk! Aber auch darüber kannst du mir gewiss einiges sagen – worum geht’s im Mann’schen Alters-Roman?“

„Der fiktive Erzähler ist ein sechzigjähriger Mann – Dr. phil. Serenus Zeitblom – der in der Bürgerwelt eine respektable Person darstellt, aber immer weiß, dass er an das Genie seines verstorbenen Freundes Adrian Leverkühn nicht heranreicht.“

„Na also! – Und da sagst du, dass dir der Roman ein Buch mit sieben Siegeln ist?“

„Es gibt so viele Aspekte…“

Der Präfekt vollführte eine wegwischende Handbewegung:

„Denke an unser beider ehemalige Wohnstätte, die du gerade verlasen hast. Sie ist groß und weitläufig – bist du während deiner Anwesenheit dort wirklich in jedem einzelnen Raum gewesen?“

Ich dachte nach – aber der Präfekt lag wohl richtig: in viele Zimmer der Oberstufenschüler hatte ich nicht einmal einen Blick hineingeworfen; ja es gab Gänge im Südflügel, von denen ich nur gehört, die ich aber in sechs Schuljahren nie betreten hatte.

„Siehst du!“ erriet der Präfekt meinen Gedanken, „aber du hast dich trotzdem wohl gefühlt im Internat, auch wenn du nicht in jeden Winkel hineingeschaut hast, oder?“

„Ja, das ist richtig!“

„Nicht anders verhält es sich mit den Büchern. Du kannst dich wohl fühlen bei ihnen, auch wenn du sozusagen nicht in jedes Zimmer siehst. Allerdings ist es möglich, die Zimmer zu ahnen, die Schwingungen voraus zu spüren, die von ihnen ausgehen – womit wir fast wieder bei deinem Melodie-Vergleich angelangt wären!“

Ich nickte. Der Präfekt hatte recht. Eine Frage gab es aber noch:

„Ist es überhaupt möglich, jeden Aspekt eines Buches zu begreifen?“

„Nein. Diejenigen, welche sich dieses Ansehen geben wollen, treiben der Literatur nach meiner Auffassung ihre eigentümliche Kraft aus, obgleich ihre Ergebnisse im einzelnen ganz interessant sein mögen.“

„Worin besteht die eigentümliche Kraft der Literatur?“

„Hast du schon einmal die Loreley gesehen? Ein Schieferfelsen wie andere auch, hätte Heinrich Heine nicht sein bekanntestes Gedicht darüber geschrieben. Dadurch wurde der Felsen berühmt – bis heute, wo kein „Intercity“ an ihm vorbeifahren kann, ohne dass er staunende und bewundernde Blicke erntet.“

„Ja“, sagte ich nur.

„Aber du hast ja gar keinen Tee mehr!“ meinte der Präfekt, „schenk dir doch bitte selbst ein und nimm von dem Gebäck; es schmeckt dir doch?“

Wir unterhielten uns jetzt eine Weile über meinen bevorstehenden Orts- und Schulwechsel, mein Studien-Wunsch nach dem Abitur usw. Schließlich fand ich in Momenten des Schweigens die Gelegenheit, mich im Wohn- und Arbeitszimmer, in dem wir saßen, umzusehen. Es war rot tapeziert, mit einem großmaschig-netzartigen und schwarzen Muster. An den Wänden hingen zwei

große Darstellungen griechisch-antiker Figuren sowie ein kleineres Portrait von Stefan George. Beim Bücherregal – mit gebundenen Ausgaben der Werke Thomas und Klaus Manns, an die ich mich heute noch besonders erinnere – stand auch sein Schallplattenspieler, den er – wie er mir im Gespräch erklärt hatte – mit dem Radiorekorder verbunden hatte, um den Stereo-Effekt herzustellen. Eine Schallplatte mit dem Konterfei Roger Daltreys, des Sängers von „The Who“, war die erste in einer ansehnlichen Reihe. Schließlich blieb mein Blick an seiner Pfeifen-Sammlung hängen.

„Das ist jetzt die perfekte Gelegenheit, um zusammen ein Rauchopfer darzubringen, was meinst du?“ fragte er.

Schon stand er auf, suchte einige Pfeifen heraus, legte sie mir vor und ließ mich wählen. Ich entschied mich für eine mit gebogenem Mundstück (die ich bis heute verwahre, wenn auch nicht mehr rauche). Dann lief er in sein Schlafzimmer, von wo er ein Etui mitbrachte, das er sogleich mit Pfeifenutensilien – Stopfer, Filter, Reiniger, Streichhölzer und Tabak – füllte.

Er holte auch für sich selbst eine Pfeife. Wir stopften unsre Rauchwerkzeuge, entzündeten sie, lobten den Tabak und saßen bald schweigend und schmauchend da…

Nach einer Weile sagte der Präfekt:

„Du hast sicher einen Blick auf das Haus werfen können, bevor du zu mir hochkamst. Es ist ungefähr das Gegenteil des prachtvollen Gebäudes, in dem ich vierundzwanzig Jahre lang – seit dem 2. Januar 1950 – gelebt habe; die Ferienzeiten natürlich abgerechnet. In meiner Erinnerung ist es längst ein Haus geworden zwischen waldigen Hügeln und kleinen stillen Seen, mit einem malerischen Tor, durch das ich auf einen weiten und stillen Platz gehen kann…“

„Wo ein Brunnen läuft und alte ernste Bäume stehen“, ergänzte ich.

„Ja“, lächelte der Präfekt, „aber die Preisfrage lautet: Wie viele Zimmer gibt es dort?“

Jetzt war ich es, der lächelte – und stumm blieb.

Plötzlich fragte der Präfekt: „Wie hat dir denn meine Ansprache über Augustinus gefallen?“

„Sehr gut! Haben Sie nicht auch einen Aufsatz über Augustinus veröffentlicht?“

„Ja, in der ‚Neuen Rundschau’ im Jahr 1941.“

„’Neue Rundschau’?“ fragte ich.

„Eine 1890 im S. Fischer Verlag gegründete Literaturzeitschrift“, antwortete der Präfekt.

„Gibt es sie noch?“

„Die Nazis haben die Zeitschrift 1944 verboten, aber nach Kriegsende hat sie Gottfried Bermann Fischer wiedergegründet. Sie erscheint bis heute.“

„Darf ich Ihren Aufsatz einmal sehen?“

„Ich habe leider nur noch ein einziges Exemplar zur Verfügung… Warte mal…“

Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er in den Schubladen suchte. Nach kurzer Zeit hatte er den Text gefunden: Eine Maschinen-Schrift-Fassung mit Bleistift-Verbesserungen von seiner Hand, wie ich sofort sah.

Er blätterte die mit einer Heftklammer zusammengehaltenen Seiten zurück und las:

„Von Reginas Nachtschwester in Prof. Caffiers Klinik in Berlin aus dem Heft der ‚Neuen Rundschau-Dezember 1941’ im Februar 1942 während stiller Nachtstunden abgeschrieben.“

Ich machte große Augen. Der Präfekt lachte; aber anstatt mir zu erklären, was es mit dieser Notiz auf sich hatte, meinte er nur:

„Deswegen findest Du auf jeder Seite Verbesserungen mit Bleistift von mir.“

Er überreichte mir das Typoskript:

„Nimm und lies! Es gehört dir!“

„Aber wenn es das einzige Exemplar Ihres Aufsatzes ist“, wandte ich ein, „haben Sie ja keins mehr!“

Da lächelte er mich an, aber es war kein gewöhnliches Lächeln, sondern eins voller Glanz, und auch so, dass ich mich darüber verwirrte oder erschrak.

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