WIE DAS WÜNSCHEN NOCH IMMER HILFT


WIE DAS WÜNSCHEN NOCH IMMER HILFT

Wünsche gehören zweifellos zu unserem Leben, sie erfüllen uns bis ins hohe Alter. In der Kleinkindzeit zeigen sie sich als unwillkürliches Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung, in späteren Jahren erweitern sie sich durch das Streben nach privaten und beruflichen Zielen, und betagte Menschen ersehnen, wenn die Kräfte zur Neige gehen, einen friedlichen Ausklang des Lebens.

Auf gesellschaftlicher Ebene haben Wünsche verschiedene Ausdrucksformen. Wir äußern sie beispielsweise, wenn wir einander begrüßen, am Beginn von gemeinsamen Mahlzeiten, an Geburtstagen oder bei der Würdigung von Verdiensten.

Obgleich Wünsche den persönlichen Entwicklungsweg und das Zusammenleben prägen, sind sie durchaus von heikler Natur. Das hat zum einen seinen Grund darin, dass wir nicht nur erfüllbare, sondern auch unerfüllbare Wünsche hegen. Etwas angestrebt zu haben, was sich als illusorisch erweist, ist zwangsläufig mit Enttäuschungen verbunden. Zum anderen sind Wünsche keine leichte Sache, weil sie Gutes und Böses bergen können – Gesundheit etwa, aber auch Schaden für einen missliebigen Menschen.

Als Buch des Lebens kennt die Bibel beides: Segenswünsche und Fluchworte. So lautet der priesterliche Segen im 4. Buch Mose: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ (6,24−26) Und Paulus spricht im Galaterbrief eine Verwünschung derer aus, die das Evangelium verfälschen. (1,8)

Wünschen, seien sie als Stärkung, seien sie als Schädigung gedacht, wird aus Sicht der Wünschenden Macht zugesprochen, sie sollen etwas bewirken. In dieser erwünschten Fähigkeit lauert allerdings eine Gefahr: die Gefahr der Grenzüberschreitung. Das Wünschen tendiert zur Maßlosigkeit. Denken wir an den Satz William Shakespeares: „Das Meer hat Grenzen, doch tiefer Wunsch hat keine.“ Oder an das Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“, das in der plattdeutschen Fassung auf den frühromantischen Maler Philipp Otto Runge zurückgeht. Ilsebill, die Frau des Fischers, drängt ihren Mann, sich vom Zauberfisch immer größer werdende Wünsche zu erbitten, die stets umgehend erfüllt werden. In ihrer unbändigen Gier verlangt sie schließlich, wie Gott zu werden. In diesem Moment verliert sie alles bisher Erlangte und ist wieder arm. Wir kennen das Motiv der Grenzverletzung aus der Sündenfall-Geschichte des Alten Testaments (1. Buch Mose 3).

„Vor langer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“ – so beginnen häufig Märchen. Und wie ist es im wirklichen Leben? Um der Gefahr, die Wünsche ins Uferlose zu treiben, zu entgehen, besitzen Christen ein treffliches Mittel − die Erinnerung an das Gebet Jesu kurz vor seiner Verhaftung in Gethsemane: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ (Lukas 22,42) Es erscheint heilsam, die mannigfachen Wünsche des Lebens als Kraftquell zu betrachten, der uns befähigt, voranzukommen, Neues zu entwickeln und einander menschenfreundlich zu begegnen – und zugleich wachsam zu sein, wenn der Trieb uns drängt, die Wünsche über alle Maßen zu steigern. Auf diese Weise hilft das Wünschen – Gott sei Dank! − noch immer.