Weihnachtsferien


Johannes Chwalek

Weihnachtsferien

Novelle

 

*

 

Den Abreisetag in die Weihnachtsferien versuchte ich unauffällig zu überstehen. Ich ging hier- und dorthin; es sah so aus, als ob ich auch abreisen würde – bis mir einfiel, dass der Werkraum auf mich wartete und das frühere unschlüssige Leben ein Ende hatte. Rainer I. zog seinen Erzieher-Schlüssel aus der Hosentasche – „um zehn nach eins bist du aber in der Küche zum Mittagessen!“, sagte er –, und da stand ich nun und war sehr zufrieden. Es roch nach Holz und Farben, nach Terpentin und Leim… – Gipsbinden, Schere, Papier, Karton, Klebeband, Pinsel, Lappen, Draht und Zange – alles war da! Nur der Gedanke an die Fahrt nach F. in mein sogenanntes Elternhaus – schon übermorgen! – störte mich. Immerhin: es war Weihnachten, und sie würden sich zusammennehmen und so tun, als ob sie wüssten, was sich gehört an diesen Feiertagen.

Ich brauchte ein „Rückgrat“ für meine Figur. Vielleicht eine leere Küchenrolle? Mit zusammengeknülltem Papier und Klebestreifen sollte meine Arbeit Form annehmen.

Was den Kopf betraf, hatte ich eine Idee – besser gesagt ein Bild vor mir: An meiner Schule hatte sich vor einigen Wochen eine Klasse älterer Schülerinnen und Schüler zu einem Foto aufgestellt. Mein Blick traf eine Schülerin – eigentlich kam sie mir vor wie eine Frau – die den Kopf auffällig stark zur rechten Schulter neigte; ihr langes dunkles Haar fiel in Locken herunter. Dieses Bild hatte ich bis jetzt mit mir herumgetragen. Die schönen Gesichtszüge der Schülerin würde ich nicht nachgestalten können mit Papier, Klebestreifen und Gipsbinden, aber die Kopfhaltung wollte ich hinbekommen!

Ich öffnete die Verpackung einer Gipsbinde, füllte Wasser in eine Schale, griff nach einer leeren Küchenrolle, stellte sie auf den Werktisch, nahm ein Stück Packpapier und formte es für den Mantel der Figur zurecht. Dann legte ich den Mantel um die Küchenrolle und befestigte ihn mit Klebestreifen. Mit der Schere schnitt ich den ersten Streifen Gipsbinde ab, ergriff an einer Seite die beiden Enden mit Zeige- und Mittelfinger sowie Daumen und Ringfinger der rechten Hand und zog ihn einmal durchs Wasser. Er musste gut befeuchtet sein, aber auch nicht so stark, dass er zu viel Gips an die Wasserschale verlor, außerdem musste ich beim Herausziehen aus dem Wasser aufpassen, dass sich die Gipsbinde nicht verwickelte. Zur Sicherheit fasste ich das andere Ende auf die gleiche Weise mit der linken Hand an, wie ich es mit der rechten beschrieben habe, und so konnte ich dem Packpapier eine erste Gipsbinden-Schicht auflegen. Ich dachte an die ältere Schülerin meiner Schule, die für das Klassenfoto den Kopf ihrer rechten Schulter zugeneigt hatte – als ich plötzlich auf meine Armbanduhr sah! Ich hatte die Zeit vergessen, ließ alles stehen und liegen und stürmte nach oben in die Küche, wo schon zwei Kameraden um einen Tisch saßen. Rainer I. schaute mich missmutig an.

„Der Herr Künstler kommt gleich beim ersten Essen zu spät! Das war aber auch das letzte Mal, sage ich dir, sonst kannst du nach den Weihnachtsferien zum Strafdienst antreten! Und die Hände hast du dir auch nicht gewaschen! Geh ans Spülbecken und bring das in Ordnung!“

Ich sah auf meine Hände, an den Nägeln klebten vereinzelte Gipspunkte; sie konnten dem Wasserstrahl des Spülbeckens nicht Stand halten.

Die beiden Kameraden, die mit mir am Tisch saßen, hießen Jost und Eugen. Jost hatte einen Tumor im Kleinhirn gehabt, der operativ entfernt worden war. Seit dieser Zeit hatte er Schwierigkeiten mit der Koordination, wenn er zum Beispiel eine Tasse nehmen wollte, musste er sich ihr mit der Hand langsam nähern und griff dann trotzdem noch daneben. Manchmal hielt er den rechten Arm mit der linken Hand fest, dass sie auf Kurs blieb und das Ziel nicht verfehlte.

Vor seiner Krankheit war Jost schon Schüler des Internats gewesen, aber er war vom Vorgänger unseres Rektors rausgeschmissen worden, weil er irgendetwas angestellt hatte; ich kriegte nie heraus, was. Nachdem er die Operation über sich hatte ergehen lassen müssen, fragte sein Vater beim neuen Rektor an, ob er Jost noch einmal aufnehmen würde, und der neue Rektor sagte ja. Josts Vater war Ingenieur und baute überall auf der Welt Straßen, auch in den Ferienzeiten. Deshalb war Jost im Internat geblieben. Ob er auch zu den Weihnachtsfeiertagen hier sein würde, wusste ich nicht. Was mit seiner Mutter war, wusste ich auch nicht.

Mit Eugen war es ganz einfach: er hatte keinen Vater mehr, sondern nur eine Mutter, und die war arm. Sie konnte ihm nicht das Fahrgeld geben, damit er in den Ferien zu ihr kommen konnte, nicht einmal an Weihnachten. Nur in den Sommerferien fuhr Eugen zu ihr, denn in den Sommerferien durfte kein Schüler im Internat bleiben.

Rainer I. forderte mich auf, Linsensuppe zu nehmen, die in einer Schüssel dampfte. Auch ein Würstchen dürfe ich mir auf den Teller legen.

„Apropos Würstchen“, sagte Jost zu Eugen gewandt, „schneide mir das mal!“

Eugen schnitt die Wurst auf Josts Teller in kleine Stücke und schob Jost den Teller wieder zu. Rainer I. und ich sahen schweigend zu. Jost bedankte sich und wandte sich an mich:

„Was bist du denn für ein Künstler – oder was machst du gerade?“

„Eine Gipsfigur“, antwortete ich und befürchtete schon die nächste Frage, die prompt kam:

„Was für eine Gipsfigur?“

„Eine Figur in einem Mantel, vielleicht eine Frau, ich weiß noch nicht.“

Rainer I. grinste. Jost merkte, dass es mir unangenehm war, darüber zu sprechen und nickte nur.

„Übermorgen fahrt ihr alle weg und feiert Weihnachten“, sagte Rainer I.

Ich schaute Jost und Eugen an.

Jost nickte wieder und meinte:

„Eugen kommt mit mir zu meinem Onkel nach Berlin, vielleicht schafft es auch mein Vater, uns zu besuchen.“

„Schön“, sagte Rainer I. Dann blickte er mich an:

„Und du, John, fährst auch zu den Weihnachtsfeiertagen weg?“

„Ja, übermorgen“, bestätigte ich. Eigentlich wollte ich noch nicht daran denken. Ich dachte an meine Frauen-Figur, und dass ich gleich nach dem Essen weiterarbeiten wollte.

„Kann ich nach dem Essen wieder in den Werkraum gehen?“

Der Erzieher nickte, konnte es sich aber nicht verkneifen zu sagen:

„Aber zum Abendessen pünktlich sein!“

„Darf ich dir zugucken, wenn du arbeitest?“, fragte Jost freundlich. Erst stieg der Ärger in mir auf, weil ich lieber allein werkeln wollte, aber dann sagte Jost etwas, das meinen Ärger verschwinden ließ:

„Ich hätte auch Lust, so etwas zu machen wie du, aber es geht ja wieder nicht!“

„Ja, natürlich kannst du zugucken!“, beeilte ich mich zu antworten.

„Ich auch?“, fragte Eugen.

„Klar“, entgegnete ich, „warum nicht.“

Dass auch Rainer I. fragen würde, ob er zugucken dürfe, befürchtete ich nicht, höchstens dass er einmal hereinplatzen würde in den Werkraum, wenn ich bei der Arbeit wäre, und mit beiden Vermutungen sollte ich Recht behalten.

 

 

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