Wegmarken mit Heinrich


Wegmarken mit Heinrich

Teil 1 von 2

 

Heinrich war Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Zivildienstleistender an einem Internat seiner Heimatstadt B., wo ich die Schülerjahre verbrachte. Wir beide interessierten uns für Philosophie und Literatur; er mehr für Philosophie als Literatur; ich umgekehrt mehr für Literatur als Philosophie. Die Schnittmenge reichte für häufige Gespräche aus, auch wenn ich, der Sechzehnjährige, mich nie ganz wohl fühlte, wenn er, der Zwanzigjährige, sprach. Warum war das so? War es Heinrichs Art? Wie war seine Art– von der ich mich auch wieder angezogen fühlte, sonst wäre ich den Gesprächen mit ihm aus dem Weg gegangen. Irritierte mich sein Vorwissen? Georg Picht oder René Descartes erwähnte er oft; zwei Autoren, die mir fremd waren. Den „Discours de la méthode“ sollte ich unbedingt lesen – eine Aufforderung, der ich bis heute, mehr als dreißig Jahre später, da ich Philosophie studiert habe und das Fach unterrichte, nur ausschnittweise nachgekommen bin. Die Frage, warum ich mich in den Gesprächen mit Heinrich nie ganz wohl fühlte, konnte ich damals nicht beantworten.

Als Ernst Bloch in Tübingen seinen Neunzigsten feierte, saßen wir abends vor dem Fernseher und hörten den Sonnenbrille tragenden blinden Denker den Kommunismus loben. Ich war fasziniert, so ein berühmter Philosoph wollte ich auch werden! Angeregt durch Heinrich und Ernst Bloch kaufte ich eine sechsbändige Philosophiegeschichte mit reichhaltigen Quellentexten. Heinrich blätterte kurz darin und fällte ein negatives Urteil: eine Sammlung von Originaltexten, knapp eingeleitet, mehr sei das nicht. Mein enttäuschtes Gesicht veranlasste ihn zu höflicher Korrektur: Zur Einführung seien die Bände vielleicht doch ganz gut. (Hätte ich die Schriften von der Antike bis Hegel ernsthaft studiert, wäre es ein Gewinn für mich gewesen. Aber ich renommierte mehr damit. – Renommieren vor wem? Bei Heinrich war der Versuch gescheitert; dann eben vor mir selbst und jedem, der mein Bücherregal betrachtete!)

Nach der Mittleren Reife, mit siebzehn Jahren, verließ ich das Internat und gab Heinrich zum Abschied die Hand; nicht ohne ihn vielsagend anzulächeln, was soviel heißen sollte wie: Bald sehen wir uns wieder und dann sind wir so berühmt wie Ernst Bloch! – Wir sollten uns wiedersehen, im Laufe von Jahrzehnten, mit großen Abständen dazwischen, aber unser beider Berühmtheit ist bis heute ausgeblieben.

Ende der Siebziger besuchte mich Heinrich in meinem Heimatort F. Drei oder vier Erinnerungen habe ich noch daran. Ernst Bloch hatte er gesehen bei einem Seminar in Tübingen (kurz nach meinem Weggang vom Internat). Die mündlichen Beiträge des blinden Mannes, der die Leitung der Seminare seinen Studenten übertragen und sich wie ein Student zu Wort gemeldet habe, seien druckreif gewesen, man hätte sie nur noch aufschreiben brauchen. Ich hörte gespannt zu und hätte gerne mehr über den Autor des „Prinzip Hoffnung“ erfahren. Aber Heinrich schwieg; das druckreife Sprechen schien ihm am wichtigsten zu sein. Abends saßen wir an meinem kleinen Küchentisch und unterhielten uns über Hermann Hesses Erzählung „Peter Camenzind“, besser gesagt: Ich hätte gerne eine Unterhaltung darüber begonnen, aber daraus wurde nichts. Heinrich las den ersten Satz des Buches: „Im Anfang war der Mythus“ und wollte wissen, was es damit auf sich habe. Ich konnte nichts erwidern, ich hatte diesen Satz überlesen, mich interessierte an dem Text alles, was nach diesem ersten Satz kam. Außerdem war ich der Auffassung, dass es sich nicht gehöre, bei der schönen Literatur so genau nachzufragen. War ein unbestimmter Gesamteindruck, ein ästhetisches Gefühl nicht wichtiger als eine rationale Erkenntnis? Heinrich verstand nicht, was ich meinte, er hackte weiter auf dem ersten Satz herum. Als ich meinen Gast am nächsten Tag zum Bahnhof begleitete, war es kalt. Heinrich fragte nach einer meiner Jacken, die er sich ausleihen wollte. Ich gab ihm nur einen Schal, betonte aber, wie wichtig es sei, dass der Nacken gewärmt würde. Der Zug hatte Verspätung. Heinrich sagte, ich solle nur schon gehen, er packe dann gleich einige Artikel aus und lese.

Unsere nächste Begegnung fand vielleicht sieben oder acht Jahre später statt, nicht mehr in F., sondern in M. Heinrich zeigte mir Fotos eines am 1. September 1983 abgeschossenen Flugzeuges. Es handelte sich um den Korean-Air-Line-Flug 007. Alle 269 Personen an Bord, 240 Passagiere und 29 Besatzungsmitglieder, wurden getötet. Unter den Passagieren war Heinrichs Freundin gewesen. Von ihrem gemeinsamen Studienort in den USA wollte sie zurück in ihre Heimat nach Japan fliegen. Er hatte sie dazu bringen wollen, ein späteres Flugzeug zu nehmen, erzählte er, aber schließlich ihrem Drängen zu früherem Aufbruch nachgegeben.

Im Jahr 1994 führte ich mit einer Studenten-Gruppe im Mainzer Gutenberg-Museum ein Stück über den jungen Georg Forster auf. Einer der Zuschauer war Heinrich. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum Essen. Heinrich berichtete, dass er den Doktor gemacht habe und an einer Schule Physik und Englisch unterrichte. Ich brachte ihn noch in Verbindung mit Georg Picht und René Descartes, aber er winkte ab; die Philosophie sei seine Sache nicht mehr. Er ging davon aus, dass auch ich fertig mit dem Studium sei, was ich – Absolvent des Zweiten Bildungsweges – verneinte. Wovon ich lebe, wollte er wissen. Ich erzählte von einem Privaten Lehrinstitut in M., wo ich seit drei Jahren Deutsch und Geschichte unterrichtete. Wir waren zu einer Art Kollegen geworden, wenn ich auch seine Stelle höher einschätzte als meine, die ich als Student auf Honorarbasis versah.

Nach diesem gemeinsamen Essen verstrichen zwölf Jahre, in denen wir nichts voneinander hörten. Erst im Frühjahr 2006 merkte ich, wie mich ein Mann vor dem M.er Hauptbahnhof anstarrte. Fast schon fühlte ich mich belästigt, da begriff ich: das ist Heinrich! Seltsam! Gerade in letzter Zeit hatte ich wieder öfter an ihn gedacht, auch deshalb, weil ich ein Erinnerungsbüchlein an meine Internatsjahre verfasst hatte und dabei auch Heinrich vor meinem geistigen Auge gestanden war. Einen Bauch hatte er bekommen, und keinen schlechten, aber sonst war er noch der alte. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Ich freute mich auf dieses unverhoffte Wiedersehen. Meine Bedenken, die ich früher in der Gemeinschaft mit ihm hatte, waren vergessen. Bist du noch Lehrer?, fragte ich. Heinrich nickte, bemerkte aber, er würde gerne etwas anderes machen, wenn er nur etwas finden könne. Bevor er sich näher erklären konnte, wurde ich von einem Bekannten, auf den ich gewartet hatte, abgeholt.

Noch am selben Abend rief mich Heinrich an. In die Wiedersehensfreude, die mich ergriffen hatte, mischte sich bald wieder der alte Zweifel. Heinrich berichtete in einem fort von vielfältigen Aktivitäten; von Bekannten in der wissenschaftlichen und politischen Welt; überall, über den Globus verstreut, säßen Würdenträger, Direktoren und Professoren, die er kenne und bei passender Gelegenheit kontaktiere. Auch berühmte Persönlichkeiten habe er getroffen, einmal in der Nähe Willy Brandts gesessen und in Tübingen ein Seminar mit Ernst Bloch besucht (das wusste ich schon, sagte aber nichts); der Erblindete habe frei gesprochen, in einer Weise, dass man es sofort hätte drucken können. Vor kurzem sei er im Osten gewesen, wo er einen Bürgermeister kenne, und sie hätten in kultureller Hinsicht dies oder das gemacht, dass allen „die Ohren nur so geschlackert“ hätten. Morgen fahre er zu einem Kongress der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft usw. Wie macht er das alles?, fragte ich mich. Wie kann er diesen Aufwand mit dem Lehrerberuf vereinbaren? Ich verstummte am Telefon. Er wollte mich besuchen, einen Termin ausmachen, aber ich wehrte ab, erwähnte meine vielfältigen Verpflichtungen an der Schule (nicht mehr an dem Privaten Lehrinstitut meiner Studentenjahre, sondern an einem städtischen Gymnasium); außerdem hätte ich Familie; wir lebten in einer engen Wohnung; lassen wir es vorerst bei E-Mails, sagte ich, womit Heinrich einverstanden war.