WAS IST EIN WALD?
Eine Umfrage
Angenommen, wir würden eine Umfrage planen, um zu erfahren, was der Wald sei. Wäre dann nicht die Antwort klar und eindeutig? „Wald“, erklärt das deutsche Bundeswaldgesetz, „ist jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche.“ Und der entsprechende Paragraph rechnet „auch kahlgeschlagene oder verlichtete Grundflächen“ sowie „Lichtungen“ hinzu. Mit dieser einleuchtenden Definition dürfte sich unser Umfrage-Plan erübrigen. Dennoch schlage ich vor, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Fragen wir Mountainbiker, also Menschen, die mit einem Geländefahrrad unterwegs ist. Ein Wald, sagen sie, ist ein Gebiet, in dem ansteigende und abfallende Wege zu sportlichen Freizeitaktivitäten einladen. Wenn nur nicht die Spaziergänger wären, ergänzen sie lächelnd – die stören nicht selten den Geschwindigkeitsrausch.
Gehen wir weiter und wenden uns an Waldbesucher, die bei feucht-warmem Wetter gern allein mit Korb und Messer unterwegs sind. Für diese Pilzsammler bieten Wälder spannende Plätze, um den oft hektischen Alltag hinter sich zu lassen. In meditativer Ruhe, teilen sie mit, können sie auf ihrer Entdeckungstour umherstreifen, entlegene Pfade und dämmriges Fichtendickicht aufsuchen, um fündig zu werden.
Was ist der Wald nach Ansicht von Forstwirten? Auch sie wissen Bescheid. Ein Wald, so ihre Auskunft, ist eine Fläche zur Erzielung von Einkünften, beispielsweise durch Neuanpflanzungen von Forstkulturen, Pflegemaßnahmen oder durch Tätigkeiten im Rahmen der Holzernte.
Sodann treffen wir auf eine Gruppe von Umweltschützern. Auch sie sind um eine Antwort nicht verlegen. Der Wald ist in ihren Augen ein schützenswertes Ökosystem. Deshalb fordern sie, dass ein höherer Anteil des Waldes als bisher üblich überhaupt nicht bewirtschaftet werden soll. Zudem verlangen sie einen besseren Waldbodenschutz und vermehrtes Totholz.
Auch die Weidmänner befragen wir. Sie halten den Wald für ein notwendiges Terrain, um etwa Rehe und Wildschweine aufsuchen und erlegen zu können und auf diese Weise die Regulierung der Wildtierpopulationen zu ermöglichen. Dadurch lassen sich Schäden durch Wildverbiss an der Naturverjüngung des Waldes begrenzen.
Schließlich bitten wir die Wanderer um Stellungnahme. Wie in Zeiten der Romantik erfreuen sich auch heute Menschen an der „Waldeinsamkeit“. Sie schätzen den Wald als einzigartigen Erlebnisraum, als natürliche Lebensgemeinschaft von dicht stehenden Bäumen, Pflanzen und Tieren. Das spezielle Waldklima möchten sie in keiner Jahreszeit missen.
Was ist der Wald? Die unterschiedlichen Antworten lenken auf einen auch in religiöser Hinsicht wichtigen Aspekt: Jeder Mensch nimmt die Welt aus seiner persönlichen Perspektive wahr. In diesem Sinne fragte der Schriftsteller Bertolt Brecht einmal: „Weißt du, was ein Wald ist? Ist ein Wald etwa nur zehntausend Klafter Holz? Oder ist er eine grüne Menschenfreude?“ Wenn Wahrnehmung stets subjektiv ist, dann erweist sich Nächstenliebe als Toleranz, als gegenseitiges Sich-Ernstnehmen. Aus diesem Grund ein letzter Vorschlag: Laden wir Mountainbiker, Waldbesucher, Forstwirte, Umweltschützer, Weidmänner sowie Wanderer ein, führen wir Gespräche miteinander und feiern wir gemeinsam ein Fest – zu Ehren des Waldes.