Thomas Berger: Gedanken zur Karwoche
Was ist der Mensch?
Eine uralte und zugleich aktuelle Frage
Seit Menschengedenken kreisen Überlegungen um die Frage nach dem menschlichen Wesen. Was macht den Menschen aus? Was unterscheidet ihn von bloßer Materie, von Tieren und Pflanzen?
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ So lesen wir im Alten Testament (Psalm 8, Vers 5). Protagoras, Philosoph der griechischen Antike, behauptete, der Mensch sei das Maß aller Dinge, sei also allem anderen übergeordnet. Andere Denker bewegte immer wieder die Frage, ob der Mensch im Wesentlichen Seele oder Körper oder die Einheit von Seele und Körper sei. Zahlreich und höchst unterschiedlich sind die Antworten, die auf derartige Fragen gegeben wurden. Auch der Gedanke, eine eindeutige Definition des Menschen sei im Grunde nicht möglich, findet sich darunter.
Was ist der Mensch? Vielleicht wusste es Pontius Pilatus, Statthalter des römischen Kaisers Tiberius in Judäa diesseits des Jordans. Der Präfekt, der im Verhör Jesu keine Schuld entdecken konnte, führte den zum Spott mit einer Dornenkrone und einem Purpurgewand Ausgestatteten dem wartenden Volk vor. Dabei sprach er die Worte: „Seht, welch ein Mensch!“ Dies berichtet das Neue Testament (Johannesevangelium 19,5). Nach der ursprünglich griechischen Textfassung müsste man übersetzen: „Siehe, der Mensch“. Berühmt wurde allerdings die aus der im Mittelalter verbreiteten lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, stammende Formulierung „Ecce homo“ – „seht, der Mensch!“
Ganz ähnlich wie die bekannte an Jesus gerichtete Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“ (Johannesevangelium 18,38) sind auch die Ecce-homo-Worte nicht leicht zu deuten. Sie bedürfen der Interpretation, da nicht klar ist, was der Statthalter ausdrücken wollte. In der christlichen Überlieferung und in der bildenden Kunst gibt es verschiedene Deutungen des Ecce-homo-Motivs. Zwei Beispiele aus dem breiten Spektrum seien angeführt, eines aus der theologischen Literatur und eines aus der Malerei.
Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe und Vertreter der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, verknüpfte den Ausruf des Pilatus mit der Selbsterkenntnis der Menschen: „Ecce homo – seht den von Gott gerichteten Menschen! Die Gestalt des Jammers und des Schmerzes. So sieht der Weltversöhner aus […] Nur indem Gott an sich selbst das Gericht vollzieht, kann Friede werden zwischen ihm und der Welt und zwischen Mensch und Mensch. Das Geheimnis aber dieses Gerichtes, dieses Leidens und Sterbens,
ist die Liebe Gottes zur Welt, zum Menschen […] In der Gestalt des
Gekreuzigten erkennt und findet der Mensch sich selbst.“ (Ethik, Werke, Bd. 6, S. 74f.)
Lovis Corinth, aus Ostpreußen stammender Maler und Grafiker, schuf in seinem Todesjahr 1925 das bedeutende und weithin bekannte Ecce-homo-Ölgemälde. Das große Bild zeigt den gefesselten Jesus, den auf Jesus zeigenden Pilatus in Arztkleidung und einen Soldaten mit kräftiger Statur und bedrohlichem Äußeren. Interessant ist, dass Corinth die Szene aus der Perspektive der Menschenmenge darstellt. Dadurch rücken automatisch die Betrachter in die Rolle des auf Jesu Verurteilung zum Tod begierig wartenden Volkes. Im Kern stehen sich also gegenüber: der Gemarterte und wir, die das Gemälde Anschauenden, religiös gesprochen: Jesus, der für die Menschen leidende Gottessohn, auf der einen Seite, und die Menschen auf der anderen Seite. Worin liegt der Unterschied zwischen Jesus und der Menschheit? Was ist der Mensch?
Es gibt ein bemerkenswertes Gedicht der 2006 verstorbenen jüdischen Lyrikerin Hilde Domin, veröffentlicht in „Gesammelte Gedichte“, das sich in gewisser Weise als Parallele zu Lovis Corinths Bild begreifen lässt. Es trägt den Titel „Ecce Homo“ und lautet:
Ecce Homo
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immer
Nur der Gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der Hier-bin-Ich
Die Dichterin sieht in dem von Pilatus zur Schau gestellten Gefangenen schon den Gekreuzigten und bezieht das Ecce homo auf ihn. Denen, die das Corinth-Gemälde ansehen, entspricht im Gedicht der einarmige Mensch, die unfertige, fehlerhafte, zu wirklicher Empathie unfähige oder nicht willige, Hoffnungen enttäuschende Menschheit. Das ist nach Hilde Domin der Mensch: ein um sich allein kreisendes, nach den Worten Martin Luthers: in sich gekrümmtes, Wesen. Unsere Lage wäre, wenn das alles wäre, zum Verzweifeln. Aber, so die lyrischen Zeilen, es gibt gottlob den Erlöser am Kreuz, der uns mit beiden ausgestreckten Armen, mithin vollkommen, umfängt, für uns da ist. Als Leidender teilt er das Leiden der Menschen. Ecce homo – seht, der Mensch, der ganz und gar einzigartige Mensch!