Was aber ist ein Flüchtling?


Was aber ist ein Flüchtling?

 

03.04.2016

 

Ostern ist vorbei, der „Weg nach Emmaus“ ist gegangen, manche können das „Wunder“ der Auferweckung glauben, andere, wie etwa der Apostel Thomas, glauben nicht dem Wort der Jünger, sondern verlangen „handfeste Beweise“. Sie misstrauen dem Hörensagen. Deshalb müssen sie sich selbst vom Wahrheits-Gehalt einer Nachricht, einer „Sache“, einer Situation überzeugen. Sie möchten begreifen, was dem Verstand, dem Geist schlichtweg unbegreiflich ist: Wie kann ein getöteter Mensch nach dem Tode „auferstehen“? Unbegreiflich bis heute! Das ist die eine Seite der Realität.

 

Auf der anderen Seite der Realität: In den letzten 14 Tagen kamen — meist erst sehr spät am Abend oder auch erst in der Nacht — verschiedene Reportagen und Dokumentationen zum Thema „Flucht“, „Flüchtlinge“, „Syrien“, aber auch zu den fast vergessenen Flüchtlings-Schicksalen aus Ost- und West-Afrika über die „Sahara-Route“ etwa nach Lybien und dann weiter nach Lampedusa (vgl. Phoenix, 3sat, arte).

Auch von dieser Realität gilt: für unseren Verstand und Geist schlichtweg unbegreiflich. Eine der größten humanitären Katastrophen der Menschheits-Geschichte wird von sog. „Schleusern“ zur „Goldader“ umfunktioniert; bei diesen herrscht euphorische „Goldgräber-Stimmung“ — „Bares ist Wahres!“ Mit Menschen-Handel wird zur Zeit mehr Geld verdient, als etwa mit Drogen- oder Waffen-Handel. Menschen-Handel ist zu einem florierenden Wirtschafts-Zweig geworden.

 

Die Europäische Union, die faktisch nur noch „auf dem Papier“ besteht, in der Realität jedoch schon längst wieder in der National-Staaterei angekommen ist, übt sich indes im Abfeuern von „Nebelkerzen“ und im Trommelfeuer von Worthülsen-Versprechungen. Sie scheint nach außen hin inzwischen völlig unfähig geworden zu sein, irgendein konkretes Problem ebenso konkret anzupacken und zu lösen. Statt dessen: endlose Konferenzen, zahllose Sondergipfel und ergebnislose Plenardebatten, die allesamt in einem „ganz entschiedenen Vielleicht….“ enden.

Nach innen hin — also bgzl. der 28 National-Staaten, die keine Gemeinschaft mehr miteinander sein wollen — hangelt man sich von einem „kleinsten Nenner“ zum nächsten. Immer unter der Prämisse: „Wir sind dagegen, dass wir dafür sind…“ So sieht sich etwa das achso christliche Polen völlig außer Stande auch nur einen einzigen Syrer im Lande aufzunehmen, geschweige denn, diesem Asyl zu gewähren. Muslime haben unter diesen „Christen“ offensichtlich kein Bleibe-Recht. Ob sie dort, in den „rechten Köpfen“ der PiS-Partei, überhaupt noch ein Lebensrecht haben, ist fraglich. Der Flüchtling als der Ausgegrenzte an der inneren „Außen-Grenze“ einer nationalstaatlichen, rechten Politiker-„Denke“.

 

Aber mit Menschen-Handel lassen sich auch ausgezeichnete „schmutzige deals“ einfädeln — etwa wie jener zwischen der EU und Recep Tayyip Erdogan (nicht mit der „Türkei“ und schon gar nicht mit den „Türken“; denn der türkische Staat ist weitaus mehr, als seine jetzigen Macht-Haber, und das türkische Volk ist weitaus vielgestaltiger und vielschichtiger als seine heutigen Polit-Funktionäre…). Gleichviel. Gibst Du mir dies, bekommst Du von mir das… Früher hätte man von „Kuhhandel“ oder offen-verdeckter Erpressung gesprochen. Heute jedoch ist dieses Verhalten der „Leitwert“ aller Realpolitik geworden. So kauft man einerseits Syrer aus türkischen Flüchtlings-Lagern „frei“ und schaut andererseits bei Menschenrechts-Verletzungen und Knebelung der Pressefreiheit durch die türkischen Macht-Oligarchen diskret „zur Seite“. Im Gegenzug für Milliarden sagt Erdogan der EU eine bessere Kontrolle der Grenzen zu. Welcher Grenzen…? Jener dies-seits von Lesbos? Jen-seits der Kurdengebiete? Jener Grenzen des eigenen, politischen Macht-Kalküls…—? Der Flüchtling als politische Handels-Ware. Und wie immer in einem globalisierten Markt, so bestimmt auch in dieser Situation das Angebot und die Nachfrage den „Dumping-Preis“. Was aber ist ein Flüchtling wert…—?

 

Was und wie waren die Menschen von Homs, Aleppo, Kobane, etc. und vielen anderen erbittert umkämpften Städten (um stellvertretend nur die bekanntesten von ihnen zu nennen), bevor sie in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen wurden? Nun, sie waren zunächst einmal Familien in ihrer Heimat-Region oder Heimat-Stadt. Eltern und Kinder. Väter und Söhne — Mütter und Töchter. Verwandte einer Großfamilie (wie wir sie in Deutschland nicht mehr kennen), vielleicht auch ein Clan oder eine Sippe aus mehreren Familien, die sich durch Namen und Verwandschafts-Grad miteinander und untereinander verbunden fühlten.

Sie pflegten ihren Glauben (gemäß unterschiedlicher Riten), sie pflegten ihre Kultur, ihre Werte, ihre Lieder und Tänze, ihre Bräuche und Sitten (manche können wir als „Deutsche“ verstehen, andere können wir jedoch nicht akzeptieren — z.B. die Blutrache und den „Ehrenmord“). Meist gingen die Männer der Arbeit nach, waren kleine Händler, Ladenbesitzer, auch Ärzte, Rechtsanwälte, u.ä.m., während die Frauen sich um die Familien kümmerten (eine Rollenverteilung, die, als Standard, auch in Deutschland und in Europa noch bis in die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gültig war). Die Einwohner/-innen von Homs, Aleppo, Kobane freuten sich, wie sich jeder Mensch weltweit freuen kann. Sie lachten bei Familienfeiern wie etwa einer Hochzeit oder bei einer Geburt. Und sie trauerten über erlittene Verluste wie etwa durch Krankheit oder Tod eines geliebten Menschen. Sie führten ein ganz unspektakuläres, alltägliches Leben. Sie waren (und sind…) Menschen „wie Du und ich“. So viel — bei aller unterschiedlichen, kulturellen, religiösen und politischen Differenz — das weltweit uns Verbindende; das „humanum“ des Menschen. Der Wert eines Menschen — nicht sein „Preis“ — beruht völlig unabhängig davon, wie wir ihn „katalogisieren“ (etwa als „Flüchtling“, als „Asylant“, als „Ausländer“, als „Fremder“, als „Weißer“, als „Schwarzer“, als…), auf der Tatsache, dass er/sie Mensch ist. Und laut Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist eben dieser Wert eines Menschen, seine Würde, durch den Staat „unantastbar“, d.h. der Einzelne ist gegen Übergriffe seitens des Staates durch den Staat selbst, durch sein Grundgesetz, geschützt. Und mehr noch: diese Würde nicht nur zu achten, sondern sie aktiv zu schützen, ist „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (vgl.: Art. 1, Abs. 1, GG). Bei allem Trennenden, das uns unüberbrückbar von anderen Kulturen unterscheidet, scheint es doch weitaus mehr Verbindendes zu geben, das uns menschlich eint.

 

Die Heimat der Flüchtenden ist nicht unsere Heimat, Deutschland. Weder gibt es in München, Hamburg, oder Berlin die vertrauten Geräusche, noch die vertrauten Gerüche, die etwa flüchtende Syrer aus ihrer Heimat her kennen, oder aber flüchtende Afrikaner aus ihrem Kontinent. Weder gibt es in unseren Großstädten die verwinkelten und vertrauten Souks / Basare mit ihren Gewürzdüften und den hunderttausend verschiedensten Eindrücken aus Handel und Wandeln, aus betriebsamer Geschäftigkeit und gediegenem Nichtstun bei Chai oder Mokka. Auch duften unsere Speisen nicht wie jene der Großküchen auf den Marktplätzen des Nahen Ostens oder Afrikas. Weder gibt es in Deutschland die Gräser, die Sträucher und Bäume, diese ganzen vertrauten Landschaften und Regionen, wie sie die Flüchtenden von ihrem zu Hause her kennen. Noch gibt es bei uns die typischen „Stimmungen“ während des Sonnenauf- bzw. Sonnenunterganges, oder jenen berstend vollen, funkelnden Sternenhimmel auf dem pechschwarzen Samt des Firmaments, wie er sich über den Wüsten dieser Welt aufstrahlend wölbt. All das sind unverrückbare emotionale Eck-Werte, gleichsam Grundpfeiler seines emotionalen Lebens, die einem Menschen je nach Heimat-Region zu eigen sind, die ihn emotional in einer bestimmten Gegend verankern. Muss er diese Werte preisgeben, etwa weil er fliehen muss, dann wird ihm dieser Verlust als seine Heimatlosigkeit, als „Heimweh“ erlebbar. Parabel des „Odysseus“. Anders als der wurzellose, postmoderne „Kosmopolitan“ mit seinem „ubi bene, ibi patria“, will kein Syrer noch Afrikaner auf Dauer in der Fremde eine „neue Heimat“ finden — jeder will letztlich zurück, dorthin, wo sein geographisches „zu Hause“ ist. Sei es nun eine Großstadt in Syrien oder ein Dorf an der Elfenbeinküste.

 

Dennoch stellt die schiere Zahl der Flüchtenden — vor allem der rasante Anstieg der beiden Jahre 2014-2015 — den deutschen Staat wie auch die deutsche Gesellschaft vor gravierende Probleme. Diese sind indes zu meistern. Meist sind es eher finanzielle Probleme, die mit Geld gelöst werden können. Ganz anders sieht es jedoch mit den emotionalen Problemen der einzelnen Menschen in Deutschland aus. Etwa mit ihrer Angst, dass „Flüchtlinge“ irgend etwas von ihrem Wohlstand wegnehmen könnten; oder, schlimmer noch, weil es die Ärmsten in Deutschland trifft: dass diese Fremden etwas von ihrer „Stütze“, von ihren „Hartz IV“-Geldern, von ihren „sozialen Leistungen“ wegnehmen würden. Der jetzige „Flüchtlings-Strom“ macht somit lediglich überdeutlich sichtbar, dass Deutschland schon seit Jahrzehnten ein immer massiver und umfangreicher werdendes Armuts-Problem hat. Laut verschiedener Verbände leben in Deutschland mehr als 12,5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze (vgl. etwa Armutsbericht des Paritätischen Wohfahrtsverbandes; Stand 2015). Und das bei Rekord-Ergebnissen der Wirtschaft. Die „Kluft“ zwischen Armen und Reichen in Deutschland interessierte jedoch niemanden in „Berlin“. Denn der Arme in Deutschland und der Fremde aus Syrien haben beide eines gemeinsam: Sie haben keine Lobby in Berlin.

Während in Deutschland sich die Bürger/-innen um den Zusammenbruch ihres „Wohlfahrt-Staates“ sorgen, geschieht in Syrien und Afrika jedoch der Ausverkauf der Zukunft eines Landes bzw. eines ganzen Kontinentes. Denn wer die Kinder und die Jugendlichen eines Landes „hat“, der hat auch die Zukunft dieses Landes bzw. dieses Kontinentes. Trotz unserer Ängste — sie mögen nun berechtigt oder aber unbegründet sein — sollten wir auch dies mit bedenken.

Vorübergehende Zuflucht und menschenwürdigen Umgang miteinander — das mag der Minimal-Konsenz sein, den Staat und Gesellschaft realistischerweise auch umsetzen und leisten können. Denn das „Haus Deutschland“ ist groß und reich genug, um flüchtenden Menschen menschenwürdig zu begegnen. Wenn Deutschland jedoch schon die eigenen Armen nicht mehr in seine Gesellschaft integrieren kann oder auch will, wie könnte die selbe Gesellschaft, die sich immer weiter von den eigenen Armen entsolidarisiert, dann Fremde integrieren…—? Auch ist das „Haus Deutschland“ real zu klein, um allen Flüchtenden dieser Welt zugleich „Dach“, „Schutzraum“ und „Zukunft“ auf Dauer sein zu können. Oder, um es in ein anderes Bild zu fassen: Die „Herberge“, die „Krawanserei“, ist der Ort, an dem man Schutz vor den Unbill des Wetters oder aber der hereinbrechenden Nacht findet. Man wird gastlich aufgenommen, auch bewirtet; im Schutz der Mauern kann man sich erholen und gesichert schlafen. Nach geraumer Zeit zieht der Reisende jedoch weiter, weil die „Herberge“ nicht sein zu Hause noch seine Heimat ist…—

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