Vorbereitungsstunde


Vorbereitungsstunde

Für den Ethik-Kurs musste ich das Schiller-Gedicht herunterbrechen. Ich bediente mich bei Schiller, schrieb für die Schüler Aufgaben und Fragen an das Whiteboard: Erkläre das Wort Tugend. Hältst du ein tugendhaftes Leben für möglich? Begründe deine Antwort. Ein Schüler meinte, Tugend bedeute, einer alten Frau über die Straße zu helfen. Eine Schülerin brachte ebenfalls etwas vor im Zusammenhang mit Hilfsbereitschaft. Ich schaute fragend in die Runde, aber außer der Hilfsbereitschaft fiel den Schülern nichts ein. Was hat es mit der Tugend auf sich im Zusammenhang mit euch selbst? Ratlose Gesichter. Ein Hebel musste her. Denkt an euren Alltag. Wie könnt ihr im Alltag tugendhaft sein – erst einmal euch selbst betreffend, nicht andere? Wieder keine Antwort. Nächster Hebel: Pflicht und Tugend – gibt es einen Zusammenhang? Ich weiß nicht mehr genau, ob hierzu jemand eine Idee hatte, oder ob ich erklärte, dass es tugendhaft sei, wenn jeder an seiner Stelle seinen Job machte, Lehrer wie Schüler. Ich erinnere mich an Kopfnicken. Vielleicht war es ein Fehler, nun die Frage anzubringen Hältst du ein tugendhaftes Leben für möglich? Begründe deine Antwort. – Vorausgesetzt, meine Erinnerung täuscht mich nicht, dass die Reihenfolge des Unterrichts tatsächlich in der beschriebenen Weise erfolgte. Jedenfalls äußerten sich alle, Schüler wie Schülerinnen dergestalt, dass man nicht nur tugendhaft sein könne, man müsse auch egoistisch sein, wenigstens in Maßen. Was versteht ihr unter egoistisch sein? wollte ich wissen. Die Antworten – wieder alle nach gleicher Art – lauteten, dass man seinen Hobbys nachgehen oder auch einfach nur faulenzen wolle. Was ich möglicherweise selbst durch meine Frage provoziert hatte, oder durch den Zeitpunkt, an dem ich sie gestellt hatte, störte mich nun: die Ineinssetzung von Pflicht und Tugend seitens der Schüler. Ist es nicht tugendhaft, ein Hobby zu pflegen oder auch nur zur Ruhe zu kommen? Ich hakte jedoch nicht nach, sondern leitete über zum zweiten Punkt am Whiteboard: dem Goldenen Zeitalter. Was hat es damit auf sich? Liegt es in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Eine Schülerin, die ich schon längere Zeit als junge Denkerin ausgemacht habe, sprach von der griechischen Mythologie, wo es die Erzählung vom Goldenen Zeitalter als einer Epoche des Friedens und Wohlstandes gebe. Das Goldene Zeitalter hätten die alten Griechen in die Vergangenheit gelegt. Ich drückte der Schülerin meine Anerkennung aus über ihre Kenntnisse und fragte, woher sie stammten, aber das wusste sie nicht oder wollte es nicht sagen. Dass das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit liege, sei jetzt also ausgemacht, meinte ein Schüler. Ich widersprach: Was mit Utopien sei? Beschrieben die nicht auch ein Goldenes Zeitalter? Ja, schon, gab der Schüler zu und konzedierte: in diesem Fall laufe es auf die Zukunft hinaus, wo das Goldene Zeitalter erhofft werde. Komme das Goldene Zeitalter auch im Leben des einzelnen Menschen vor, während einer bestimmten Epoche seines Daseins? Am Ausdruck der Augen vor mir erkannte ich, dass die meisten nichts anfangen konnten mit meiner Frage. Ich hatte sie – unangebrachter Weise – gestellt, weil mir ein Bekannter vor kurzem erzählt hatte, dass sein Goldenes Zeitalter von ungefähr 2010 bis ungefähr 2020 verlaufen sei, als er relativ viele Texte in namhaften Publikationsorganen veröffentlichen konnte. Er spüre jedoch, dass diese Zeit sich dem Ende zuneige und wisse noch nicht recht, was er nun anfangen solle, denn er sei es mittlerweile schon gewohnt gewesen, irgendeine Schrift zu verfassen und zu wissen, wo er sie unterbringen konnte. Um die Schüler zu entlasten, erzählte ich, dass sich die Vorstellung eines Goldenen Zeitalters nicht nur auf das gesamte gesellschaftliche Leben einiger weniger Epochen beziehe, etwa der des römischen Kaisers Augustus, als Rom in wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Hinsicht eine Blütezeit erlebt habe, sondern auch auf einzelne Bereiche, etwa die Kultur. Ob ich ein Beispiel geben könne, fragte die junge Denkerin. (Der Blick ihrer Augen verriet mir, dass sie gedanklich bei meinen Worten war und verstehen wollte.) Deutschland um das Jahr 1800 sei politisch ein wenig erhebendes Gebilde gewesen, antwortete ich, aber kulturell sei es eine Großmacht gewesen mit Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Schelling, Hölderlin, Kleist, Fichte usw. Ein Schüler bemerkte, dass die alle bestimmt nicht gewusst hätten, dass sie – kulturell gesehen – in Deutschlands Goldenem Zeitalter gelebt hätten. Richtig, entgegnete ich, derartige Zuschreibungen geschähen im Rückblick durch nachfolgende Generationen. – Jetzt musste ich noch eine Kurve kriegen für den Begriff des Goldenen Zeitalters, bevor ich zum letzten Begriff – Wahrheit – übergehen konnte. Wir haben also festgestellt, sagte ich, dass vom Goldenen Zeitalter gesprochen werden kann im Zusammenhang mit mehreren wichtigen Aspekten eines Landes oder eines Herrschaftsgebietes; mit nur einem Aspekt, etwa der Kultur; oder auch im Zusammenhang mit …? Ich schaute wieder fragend in die Runde. Wenigstens zwei Schüler (ein Schüler, eine Schülerin) meldeten sich neben der jungen Denkerin. Ich nahm die Schülerin dran, sie antwortete: im Zusammenhang mit dem Leben eines einzelnen Menschen … für eine bestimmte Phase. Ganz recht, bestätigte ich. Dann fragte ich noch: Ein Goldenes Zeitalter – in welcher Form auch immer – ist natürlich höchst erwünscht. Kann man konkret darauf zuarbeiten? Viele Finger gingen nach oben. Alle, die sprachen, verneinten meine Frage; alle sagten aber auch, dass man sich bemühen könne, dorthin zu gelangen; wenigstens in die Nähe. Sich bemühen, wenigstens in die Nähe kommen – das war schon etwas. Nun konnte ich den dritten Begriff anschreiben: Wahrheit. Ich schrieb das Wort in die Mitte des linken Whiteboardflügels, schaute die Schüler an, die meinen Blick stumm erwiderten und schrieb anschließend den Artikel die vor Wahrheit. Zu guter Letzt unterstrich ich die. Jetzt waren die Schüler obenauf. Die Wahrheit gebe es nicht, immer nur Teilwahrheiten, sagten sie. Die junge Denkerin bemerkte, dies entspreche dem Sachverhalt, sich um das Goldene Zeitalter nur bemühen zu können … sich ihm nur nähern zu können. Sie schaute mich an mit ruhiger Klarheit. „Wir können nur raten und meinen“, zitierte ich Schiller. Die Schüler dachten wohl, es sei von mir und nickten mir beifällig zu. Ich klärte auf, dass der Vers in einem Gedicht Schillers stehe, wo die drei heute besprochenen Begriffe (meine Geste zu den beiden Sideboardflügeln) thematisiert würden. Können wir das Gedicht mal lesen? fragte Lilly mit ihrem ersten Redebeitrag. Klar; nächste Stunde