Der Bericht schließt an den vorherigen Beitrag „Jetzt geht es los“ an.
Vollkommen erholt. – Nix tut weh. Es kann weitergehen. Ich packe meine Sachen und gehe zum Frühstück. Hier ist schon sehr viel Betrieb. Es wird wenig geredet. Eine sportive Familie aus Barcelona (Vater, Mutter, zwei Töchter) wird heute getrennt laufen. Die Mädels, ca. 13 und 14 Jahre alt, brechen zuerst auf. Vater folgt später, die Mutter wird in noch größerem Abstand starten. Die Mutter gibt noch einige gute Ratschläge mit. Der Vater und die Töchter grinsen sich an. Stilles Einverständnis. – Die Mutter winkt ab.
Die Wege trennen sich – Abschied von Helen
Das Frühstücksbüfett ist spartanisch. Ich bediene mich. Bin dankbar in so einer guten Herberge untergekommen zu sein. Helen winkt mich zu sich an den Tisch. Sie gibt sich voller Unternehmungslust. Heute geht es weiter zum Kloster Leyre. Es fällt mir nicht leicht ihr zu erklären, dass sich unsere Wege heute trennen werden. Sie hatte auf unserer Wanderung gestern nachweislich die weitaus bessere Kondition, so erkläre ich es ihr. Ergänzend versuche ich ihr auch klarzumachen, dass ich den Jakobsweg grundsätzlich alleine laufen will, ich die Spiritualität des Weges als Einzelpilger intensiver erleben kann.
Helen nimmt meine Erklärungen wortlos auf, ist schon auf dem Sprung. Verabschiedet sich von mir. Ich fühle mich etwas unbehaglich. Das ist offenbar meine Schwäche, ohne schlechtes Gewissen meinen Stand-punkt zu vertreten, ohne das Gefühl den anderen verletzt zu haben. Wir hatten gestern zusammen einen tollen Tag verleben können. Wir konnten uns beide einen großen Wunsch erfüllten, mit der Besichtigung des Klosters San Juan de la Peña. Haben zusammen den ersten Pilgertag mit einer Wegstrecke von 29 Kilometern erfolgreich beendet. Hieraus kann sich doch gar keine Verpflichtung ergeben, auch weiterhin ein Pilgergespann zu sein?!
Peter setzt sich zu mir. Ich erzähle von meinem Zwiespalt. Er versteht mich nur bedingt. Hätte an meiner Stelle mit meiner Entscheidung keinerlei Probleme. Er sagt richtigerweise, jeder müsse seinen Weg gehen und für jeden Tag neu entscheiden. Was ich ja auch getan habe. Meine innere gute Stimmung ist nach dem Gespräch wieder vollkommen hergestellt. Ich breche auf. Vorher versorge ich mich noch mit ausreichendem Trinkwasser. Der Fehler von gestern wird sich nicht mehr wiederholen, verspreche ich mir innerlich. Ich bedanke mich bei dem Hospitalero für die gute Betreuung, lobe ausdrücklich die vorbildliche Herberge, was ihn offensichtlich sehr freut.
Vor dem Refugio genieße ich noch einmal die fantastische Aussicht. Gehe gelassen auf der steilen Landstraße, die zunächst von dem Bergkegel ins Tal führt. Die Markierungen sind nicht zu übersehen. Alles ist gut! Ich werfe den üblichen langen Schatten der Morgensonne vor mir auf den Weg. Diese werden mir jetzt allmorgendlich zeigen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Dem Weg, der immer weiter nach Westen führt. Zum Grab des Apostel Jakobus, in Santiago der Compostela. – Ultreya.
Ultreia, et Suseia, Deus, adjuva nos! – Ist ein alter Pilgergruß und bedeutet: Vorwärts, immer weiter und aufwärts (im geistigen Sinne) Gott helfe uns auf unserem Weg.
Erlebnislust
Ich bin guter Dinge und voller Erlebnislust. Kann es wirklich sein, dass ich gestern geschwächelt habe? Der junge Tag zeigt sich von seiner besten Seite. Übermütig singe ich ein Lied. Die Vögel jubilieren mit mir im Duett. So schön kann pilgern sein, wenn einem nichts weh tut, der Trinkbecher immer voll bleibt und man sich gut behütet weiß. Behütet und gesandt. Ich werde auf dieser Wanderung wohl auch Prüfungen erleben, werde hadern, und sicherlich auch zweifeln. Das gehört dazu. Ich werde jedoch auch die Chance haben vieles neu zu überdenken, oder zu richten. Dies wird nicht immer leicht sein, aber auch das gehört zu diesem Weg, den ich, da bin ich mir völlig sicher, gut zu Ende bringen werde. – Ultreya.
Der Camino verläuft zunächst auf einer Schotterstraße und mündet dann auf eine Landstraße, der ich längere Zeit folgen muss. Von einem schönen Waldweg aus wandere ich oberhalb des Stausees Embalse de Yesa, bei bester Fernsicht.
Der Embalse de Yesa wurde als Wasserdepot für die Gebiete zwischen Pamplona und Zaragoza gebaut. Baubeginn war 1936. Mit der Fertigstellung 1939, wurden fast 2400 ha, auch bestes Ackerland, überschwemmt. Der Stausee zerstörte dabei die Originalroute des Jakobweges, der ursprünglich von Ruesta aus nach Tiermas und von dort zum Kloster Leyre führte. Nach neueren Plänen soll der See weiter aufgestaut werden, soll sogar verdreifacht werden! Bevor mit dem Ausbau des Sees tatsächlich begonnen werden kann, es sind noch einige juristische Hürden zu überwinden, würde leider auch der Teil des Jakobsweges zwischen Artieda und Ruesta veschwinden.
Es ist mittlerweile gut warm. In Ruesta, so entnehme ich meinem schlauen Reiseführer, ist eine Bar. Dort ist jetzt eine längere Pause fällig. Und wen treffe ich? Peter und Helen. Peter gesellt sich sofort zu mir. Helen nickt nur kurz. Peter erklärt mir voll Stolz die Funktionen seines Trekking-Messers. Er ist mit einer Thailänderin verheiratet und zur Selbstfindung auf dem Jakobsweg. Er raucht selbstgedrehte, verdächtig riechende Zigaretten. OK, das ist seine Sache. Irgendwie mögen wir uns. Ich muss, nein ich will weiter. Ciao, vielleicht sieht man sich. Helen ist schon weg. Ich habe sie gar nicht gefragt wie sie nach Leyre kommt, bzw. welche Route sie dorthin nimmt. – Ich schicke ihr gute Gedanken nach.
Aufgrund der gestrigen Erfahrungen kaufe ich in der Bar eine große Wasserflasche. Ein gepflasterter Weg verspricht zunächst eine gute Route. Vorbei an der Kapelle Ermita de Santiago geht es in den Wald, mit wundervollen Ausblicken auf den Stausee.
Dann kommt es knüppeldick. Es geht steil bergauf, und bergauf, und nochmals bergauf. Ich mache eine Rast. Der Käse den ich gestern in Jaca gekauft habe, bessert meine Laune. Die zwei Mädels aus Barcelona, kommen vorbei. Topfit. Auf dann Alter, weiter geht’s. Die Straße ist staubig, unbefestigt, die Sonne brennt. Hässliche, überlaute Motorengeräusche, kommen immer näher. – Motorengedröhn. Vier Quarts rauschen in voller Fahrt den Berg hinunter, ziehen eine dicke Staubwolke hinter sich her. Toll Jungs. Auf euch habe ich gerade gewartet!
Und der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Keine Abwechslung für die Augen. Nur der Weg und ich. Nein doch nicht, die barcelonischen Mädels sitzen japsend am Wegesrand. Wie? Falsch eingeteilt die Kräfte? Jetzt überhole ich! Und nach zwei Stunden Aufstieg stehe ich endlich auf einer Hochebene. Geschafft! Das Tagesziel liegt mir gegenüber, gut sichtbar, auf einer Hochebene.
Wo ist das Credencial?
Neue Kräfte lassen mir Flügel wachsen. Und dann… – habe ich eine Eingebung, bzw. massive Zweifel. Habe ich mein Credencial im Rucksack? Habe ich es wirklich eingepackt? Rucksack ab, die Suche beginnt. Kein Credencial! Einmal suchen, zweimal, dreimal – kein Credencial! Die Mädels tauchen auf, schauen irritiert. Ich erkläre was ich suche. Kopfschütteln. Ist ja gut ich wollte doch nur mein Leid klagen. So was kann doch wirklich nur mir passieren. Zum einen komme ich ohne das Credencial in kein Refugio, zum anderen ist es ja das wichtigste Souvenir.
Jetzt naht der Vater aus Barcelona. Die Mädels laufen weiter. Ich klage auch diesem mein Leid. Er weiß eine Lösung. Die Familie aus Barcelona bucht die Übernachtungen in den Refugien vor. Sie gehen auch nur ein Teilstück des Camino. Señor hat die Nummer des Refugios in dem wir übernachtet haben. Ok, man schaut nach, ich soll mich in 10 Minuten noch einmal melden. Fehlanzeige! Zwischenzeitlich habe ich den Rucksack nochmals erfolglos durchsucht. Wir wandern zusammen weiter. Kommen über eine gut erhaltene alte Römerstraße. Der Abstieg ins Tal, über sehr steinige Pfade, verlangt uns höchste Konzentration ab, Geht voll in die Knochen. Jetzt nur keinen Fehltritt riskieren. Die Mädels warten im Refugio von Undués de Lerda schon auf uns.
Ich erkläre der Señorita an der Reception, die äußerst praktisch zu einer Bar gehört, mein Missgeschick. Natürlich kann ich übernachten. Am Tresen steht Helmut aus Stuttgart und mokiert sich über mich. Kann gar nicht fassen, dass man sein Credensial verlieren kann. Dösbaddel, ich kann es doch auch nicht fassen! Trinken wir erst einmal ein Bier auf den Schreck. Wir fabulieren wie ich zu einem neuen Credencial kommen kann. Der Pfarrer im Ort kann evtl. helfen. Aber der hat mehrere Ortschaften zu betreuen und kommt erst übermorgen wieder ins Ort. Helmut erklärt mir nebenbei, dass er drei Credencials dabei hat. Man könnte ja eines verlieren, erklärt er mir grinsend. Gibt mir aber keines ab. Silvia aus Oberhausen amüsiert sich über uns. Steht mit ihrem Begleiter in der zweiten Reihe und wertet uns altersmäßig ab, Helmut und mich. Volltreffer, wir seien doch weit über Sechzig. Na da stehen wir Zwei, als gestandene Veteranen, doch drüber. – Komm Du einmal in unser Alter!
Das Refugio
Das Refugio befindet sich im Dach eines alten Herrenhauses, oder Palazzo. Schwere, dunkle Holzbalken machen den Raum urig und gemütlich. Hier schlafen Männlein und Weiblein gemeinsam in einem Raum. Ich richte mich ein. Gehe duschen, wasche mein verschwitztes Hemd, mache mich fit für das Abendessen, packe den Rucksack wieder, diesmal vorschriftsmäßig und habe urplötzlich, wie von Zauberhand, mein Credencial in den Händen? Stoße einen Freudenschrei aus. Kann’s gar nicht einordnen. Wo war das Ding? Weshalb konnte ich es nicht finden? Egal, ich bin heilfroh. Irgendwie fühle ich mich jetzt beobachtet. Drehe mich um und entdecke im Hintergrund des Raumes – Helen. Sie schaut mich mit großen Augen an, lächelt still! (?)
Abendessen und Gespräche
Das Abendessen (spanisch Cena) wird in einem rustikalen Restaurant eingenommen. Stolz wie ein Spanier (stimmt diese Feststellung für mich?) zeige ich meinen neuen Bekannten und der Señorita an der Reception mein Credencial. Unglaublich wie sehr sich alle mit mir freuen. Wir kennen uns doch kaum. Offenbar vereint der Camino alle Wanderer! Man wird, ohne eigenes Zutun ein Teil der Karawane die sich auf dem Jakobsweg befindet. Ich sitze mit Helmut an einem Tisch, zusammen mit Vera aus Hamburg. Vera ist vom Somport-Pass gestartet und klagt über starke Beschwerden in beiden Knien. Sie zweifelt an einer erfolgreichen Beendigung ihrer Wanderung. Wir sprechen ihr Mut zu. – Ob’s wohl geholfen hat?
Helmut und ich unterhalten uns prächtig über Sport, Hausbau, Religion und stellen schließlich fest, dass wir beide im Druckgewerbe tätig waren. Helmut war Offset-Drucker. Seine Firma hat sich auf den Druck von Landkarten spezialisiert. Er berichtet von enormem Stress dem er zum Ende seiner Tätigkeit ausgesetzt war. Er geht den Weg nicht bis nach Santiago. – Evtl. nur bis Burgos.
Silvia aus Oberhausen und Ihr italienischer Begleiter, nennen wir ihn Gino, kommen zu uns an den Tisch. Sie sind ein Paar das nur zu Urlaubszwecken auf dem Camino ist, die sich auch nur sporadisch zu gemeinsamen Urlauben treffen. Sie nennen sich eine Urlaubsbeziehung. Mehr wäre nicht. Gino nennt sich Weltenbummler, der sein Leben nicht plant. Silvia ist alleinerziehend. Die Tochter befindet sich derzeit bei ihrem Vater, der aber von der Urlaubsbeziehung nichts wissen darf. Mit der Idee des Jakobsweges, der Mystik und Tradition haben sie nichts gemein. Sie nutzen lediglich die Übernachtungen in den preisgünstigen Refugios. Für meine Kritik, dass sie evtl. echten Jakobspilgern damit den Schlafplatz streitig machen, schenken sie mir lediglich ein spitzbübisches Lächeln.
Noch ein kleiner Rundgang durch das Ort nach dem Abendessen. Viel zu sehen gibt es hier jedoch nicht. Aufatmen. Alles ging gut heute. Wie war das mit dem Credencial? Ich bin mir vollkommen sicher den Rucksack gründlich durchsucht zu haben. Helen? – Nein! Lass ab Pilger, der Weg wird wohl noch mehr Überraschungen für dich bereithalten. Mit dieser Empfehlung von meinem besseren Ich beschließe ich den Tag.