„Unbeschwerte Stunden des Erzählens. Erinnerungen“ von Johannes Chwalek
Stuttgart: Scholastika Verlag, 2023. ISBN 978-3-947233-79-3. 154 Seiten. Preis: 14,- Euro.
Rezension von Rüdiger Jung
bücher vergilben
der weg alles irdischen
in meinem besitz
Von diesem Dreizeiler her, in seiner herrlichen paradoxen Struktur, liesse sich das ganze Buch verstehen. „bücher“ – ein Kondensat, um Wissen und Erfahrung zu bewahren – „vergilben“, bleiben also sehr wohl der Vergänglichkeit ausgesetzt. Die Mittelzeile ist von einiger Ambivalenz: „der weg alles irdischen“ könnte der gesamte Wissens- und Erfahrungsschatz sein – in Form einer universalen Bibliothek. Dagegen steht die gebräuchliche Lesart: „der weg alles irdischen“ ist der Inbegriff der Vergänglichkeit, der alles Materielle, alles Organische zumal, anheimfällt. Mit den Worten „in meinem besitz“ kulminiert die Ambivalenz: In der Tat kann ich einen Schatz an Wissen und Erfahrung in Form einer Bibliothek bewahren, aufbewahren, greifbar halten. Dies freilich in dem Wissen, dass auch Bücher und ihre Erkenntnis Zeit und Zeitlichkeit ausgesetzt bleiben. Nicht zu vergessen ich selbst: als sterblicher Mensch ist jeder echte oder vermeintliche „besitz“ ein Leihgut. Dessen Weitergabe verantwortungsvoll zu regeln mir aufgetragen bleibt. Zumal ich selbst einmal den „weg alles irdischen“ werde zu gehen haben.
Kein Zweifel: in diesem Buch findet sich der Leser in einem Hort humanistischer Bildung wieder. „Die Verbindung von Antike und (katholischem) Christentum verkörperte mein Mentor“ (S. 23). Am Anfang steht ein Gnadenakt: der Bruch des Silentium-Gebotes wird nicht geahndet (S. 41 f.). Tatsächlich gründet die (zuerkannte) Mentorenrolle im Allerheiligsten katholischer Begrifflichkeit: „Meine eigentliche Taufe und meine eigentliche Firmung erhielt ich durch meinen Mentor.“ (S. 42) Die Taufe, als der Präfekt einen Blick auf die Tiergeschichten des Internats-Zöglings wirft. Die Firmung, als er ihm das Buch „Demian“ zum Geschenk macht (S. 44). Man kann von einer geistig-literarischen Initiation sprechen, wie sie heute nur noch schwer vorstellbar ist: „Mein Mentor wäre als Jesuit wohl höchst verwundert […], wenn ich ihm heute vom Ansehensverlust der katholischen Kirche erzählen würde infolge des Missbrauchsskandalds.“ (S. 75)
Eine Mentorenrolle wie die im Buch geschilderte ist und bleibt einzigartig. Aber wer solch einen Mentor hatte (und einmal nicht mehr hat), wird immer auf Gesprächspartner aus sein, die eine ähnliche Rolle einnehmen. Die auf demselben Fundament humanistischer Bildung beruhen und gelernt haben, eigenes Denken und Empfinden auf der Basis von Philosophie und Theologie, Geschichte und Literatur zu kommunizieren. Ein solches würdiges Gegenüber findet Chwalek in dem Polyhistor Thomas Berger. Auf weite Strecken ist Chwaleks Buch ein Gespräch mit ihm. Chwalek zeigt ihm und kommuniziert dabei seine sieben eigenen Buch-Regale und – vermittels ihrer – letztlich sehr, sehr viel von sich selbst.
Im Buch werden wir mehrfach Zeuge, wie dieses Gespräch seitens des Autors antizipiert wird. „Ich überlegte, welche Bücher ich Thomas Berger aus dem zweiten Fach noch präsentieren könnte und schalt mich innerlich, dass ich im Verlauf seines Besuchs keinen notizgestützten Plan erstellt hatte. Andererseits sperrt ein Plan die Spontaneität aus.“ (S. 83) – „Wird mich Thomas Berger angehen, dass meine beiden Regale, die er bis dahin von mir vorgeführt bekommen hat, tatsächlich zu Erinnerungsstätten und Museen geworden sind? Wird er mich angehen mit der Frage, ob ich mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart und Zukunft leben würde? – Doch vor solchen Fragen fürchte ich mich nicht. Nietzsches Bemerkung über den Nutzen der Historie, wenn sie das Lebensgefühl im Hier und Jetzt steigert, mache ich mir zu eigen.“ (S. 52)
Als einen der faszinierendsten und profiliertesten Themenstränge des ganzen Buches wird man Chwaleks Nachdenken und Diskutieren über das Wesen der Erinnerung (S. 108 – 110) betrachten dürfen.
Verblüffend ist mir die Einschätzung des Historikers Chwalek: „Die geschützte Zuschauerrolle ist immer gegeben.“ (S. 121) Selbst der Buchtitel „Unbeschwerte Stunden des Erzählens“ überrascht mich – enthält es doch u.a. die sorgsam und empathisch gearbeitete Rezension des Buches von „Franz Josef Schäfer: Einmal Theresienstadt und zurück. Familie Lansch wehrt sich gegen die Nazis“, das in nuce die ganze Perversion eines unmenschlichen und unchristlichen Systems entlarvt.
Wie sehr Chwalek in Thomas Berger den adäquaten Gesprächspartner gefunden hat, erweist sein Lob von dessen „Hauptwerk“, „Auf Dichterspuren“: „Die ‚Literarischen Annäherungen‘, wie der Untertitel lautet, geschehen, wenn ich es richtig sehe, auf zwei Wegen: literarturwissenschaftlich und nach persönlicher Einschätzung.“ (S. 95)
„Was bewirkt die Literatur? Was bewirkt das viele Lesen? Eine Bewusstseinserweiterung und -vertiefung, was menschliche Begebenheiten und sprachliche Kunstfertigkeit betrifft? Wie muss ein Mensch innerlich beschaffen sein, um als Leser oder Leserin zu taugen? Lese ich heute nicht beinahe nur noch zweckgebunden, anstatt wie damals in der Konviktszeit aus freien Stücken? Damals war ich innerlich frei, anstatt an dies und das zu denken, was noch zu tun und zu beachten wäre.“ (S. 62)
Der Gesprächsansatz ist faszinierend: Sage mir, was Du liest, was Du dabei denkst und empfindest – und ich sage Dir, wer Du bist! Vom Gutenberg-Zeitalter heißt es, es sei vorbei. Das gilt dann wohl auch für Biographien, wie sie die humanistische Bildung schreibt. Ein unersetzlicher Verlust. Schade!