Unbeschwerte Stunden des Erzählens – in meiner Jugend erlebte ich sie, ungefähr über zwei Jahre hinweg, als ich während der Schulwochen meinen Mentor aus dem Internat in seiner Pensionärswohnung besuchte und wir in zwei Sesseln um ein rundes Tischchen mit Tee und Gebäck saßen.
Heute, gut fünfundvierzig Jahre später, werde ich, so hoffe ich, vielleicht noch einmal den Anklang von damals erleben, wenn mich der Autor Thomas Berger besucht und ich ihm meine Bücherregale zeige. Ich stehe in meinem Arbeitszimmer – ich nenne es Studiersaal wie damals im Internat – und betrachte die Bücherregale. Die Führung Thomas Bergers an meinen Bücherregalen entlang wird den Anfang seines Besuches ausmachen, so stelle ich es mir vor.
Als ich ihn zum ersten Mal in seiner Wohnung in Kelkheim im Vordertaunus besuchte, warf ich meinerseits interessierte Blicke auf seine Bücherborde mit ordentlich nebeneinanderstehenden Bänden und sorgfältig einsortierten Aktendeckeln mit Feuilletonartikeln zu den jeweiligen Schriftstellern.
Die Besichtigung, die er mir angedeihen ließ, betraf jedoch nicht die Bücherborde, sondern ein Naturalienkabinett – niemals hätte ich dies bei ihm vermutet, kannte ich ihn bisher doch nur als Verfasser von Essays, Gedichten und Erzählungen. Er sagte mir, dass er bewusst die alte, für das 18. Jahrhundert typische Bezeichnung gewählt habe. Das Naturalienkabinett ist in einem Zimmer seiner Wohnung untergebracht, das damit seinen einzigen Zweck erfüllt. An allen Wänden stehen reich gefüllte Glasvitrinen, an denen kleine Schilder mit zoologischen und botanischen Begriffen die jeweilige Abteilung kennzeichnen. So finden sich etwa im lepidopterologischen Schrank Schaukästen mit Schmetterlingen, in der koleopterologischen Vitrine Käfer, in der limakologischen Schneckengehäuse und Schneckeneier und in der oologischen Vogeleier (von den kleinsten bis zu den größten der Laufvögel Nandu, Emu und Strauß). Andere Abteilungen – auch diese mit wissenschaftlichen Bezeichnungen versehen – bergen Muscheln, verschiedenfarbige Kristalle und Sand-Arten. Daneben sind zahlreiche Tierpräparate zu sehen, wie Strandläufer, Schnepfen, Eichelhäher, Marder, Igel und Eichhörnchen. Die größten Exponate betreffen, frei an der Wand hängend, zwei Geweih-Schädel von einem Elch – dieser wiegt 64 kg – und einer Elenantilope.
Thomas Berger erläuterte mir seine Schätze, erklärte mir dabei eine Reihe von Fachausdrücken und beantwortete meine Fragen, wo er dies und das erstanden habe, erzählte mir auch, welche Schwierigkeiten bei der Lagerung der Exponate auftreten können, da sie leicht von Schädlingen befallen würden.
Er zog einen Glaskasten aus der arachnologischen Vitrine hervor mit präparierten Vogelspinnen. Viele seiner Besucher hätten zu diesem Zeitpunkt der Führung durch sein Naturalienkabinett genug und würden die Flucht ergreifen, sagte er. Ganz ruhig hörte ich ihm zu und sah auf die präparierten Spinnen unter Glas. Nach Flucht war es mir nicht gleich zumute, aber angenehm fand ich den Anblick trotzdem nicht. In meiner Jugend, kurz nach dem Weggang vom Internat, leistete ich ein Soziales Jahr ab, ich wohnte in einer nordhessischen Stadt in einem Kellerzimmer. Wenn ich sonntagabends dort ankam und die Tür aufschloss, fiel mein Blick auf große schwarze Spinnen, die während meiner Abwesenheit die Wände hochgekrabbelt waren. Nicht dass ich erbaut war von meinen Mitbewohnern, aber ein Erschauern packte mich auch nicht, wie das heute zweifellos der Fall wäre. Heute könnte ich nicht wie damals einfach das Licht ausschalten und mich ins Bett legen zum Schlafen.
Neben den erwähnten zoologischen befinden sich botanische Sammlungen in Thomas Bergers Kabinett. Diese bieten viele Teile unterschiedlicher Pflanzen, untergebracht in Glasbehältern, darunter Stein- und Nussfrüchte, Samen, Kräuter und Gewürze sowie eine Reihe von Zapfen. Auch mehrere Herbarien mit getrockneten und gepressten Pflanzenteilen gehören dazu.
Unbeschwerte Stunden des Erzählens – die Hoffnung auf eine Wiederholung der vor Jahrzehnten gemachten Erfahrung mit meinem Mentor aus dem Internat, sei es auch nur für ein einziges Mal, wenn mich Thomas Berger in meiner Wohnung in Mainz-Kostheim besucht, nährt sich davon, dass er bei meinem Besuch in seiner Wohnung in Kelkheim aufmerksam war für das, was ich sagte. So erwähnte ich vor seinen Schmetterlings-Präparaten Hermann Hesses Erzählung Das Nachtpfauenauge, die er nicht kannte, und berichtete knapp den Inhalt. Später, als ich mich mit ihm wieder in seinem Arbeits- und Bibliothekszimmer befand, holte er einen Band mit Hesse-Erzählungen hervor, suchte und entdeckte Das Nachtpfauenauge. Die ersten drei, vier Sätze las er laut vor, lächelte mich an und machte wohl auch eine anerkennende Bemerkung. Am Abend wollte er die Erzählung lesen. – Oder ich hatte sein Naturalienkabinett kommentiert mit dem vermeintlichen Goethe-Zitat, Sammler seien glückliche Menschen. Auch das hörte er mit Bedacht. Später griff er nach einer Zitatentafel und las einige Beispiele vor, und siehe da, das Zitat von den glücklichen Sammlern befand sich mit Goethes Namen darunter.
Unbeschwerte Stunden des Erzählens – ich male mir den Idealfall aus, dass Thomas Berger ein guter Zuhörer ist, also auf die rechte Weise Ohr ist und geistreich repliziert. Meine Bücherregale sind nicht nur Bücherborde mit ordentlich aneinandergereihten Bänden, sondern enthalten Bilder, Fotografien, Erinnerungsstücke, Gipsplastiken, Zeichnungen usw. Im Grunde sind sie das Museum meines Lebens. Meinetwegen ein aktives Museum, ein Museum zum Mitmachen oder wie das heute heißt, weil ich ja mit einigen Bänden arbeite, aber letztlich stehen doch mehr Erinnerungsstücke darin als Bücher oder andere Gegenstände, die ich noch brauche. Wann habe ich auf diese Weise zu denken gelernt, dass meine Bücherregale zum Museum meines Lebens geworden sind? Es muss schon bald zwanzig Jahre her sein, dass ich folgenden Dreizeiler schrieb:
bücher vergilben
der weg alles irdischen
in meinem besitz
Im Verlauf von wiederum bald zwanzig Jahren kamen weitere Ereignisse und Überlegungen hinzu, von denen die Führung Thomas Bergers durch sein Naturalienkabinett den Abschluss bildete. Sie ließen in mir den Gedanken reifen, selbst eine Führung zu veranstalten. So besuchte ich im Sommer 2005 meinen alten Philosophieprofessor Richard Wisser. Ich hatte bei ihm im Jahr 1997 die Prüfung zum Ersten Staatsexamen gemacht und später – 2004 – einen Band seiner Lyrik in einem kleinen österreichischen Verlag herausgegeben. Der Professor führte mich nach Kaffee und Kuchen, den wir zusammen mit seiner Frau im Wohnzimmer einnahmen, durch seine Heimatstadt Worms, erläuterte mir das Lutherdenkmal, zu dem wir nur die Straßenseite wechseln mussten; erklärte mir den Dom von außen und innen sowie den alten jüdischen Friedhof. Zurück zu seinem Haus, führte er mich in das Kellergeschoss, wo sein Büro, seine Bibliothek und sein Archiv untergebracht waren. Im Büro bogen sich die Regalbretter an den Wänden förmlich unter der Last der aufgereihten Folianten und allen weiteren Schriftgutes, das sie noch zu tragen hatten. Oder kam es mir nur so vor, dass sich die Regalbretter bogen, weil sie über und über gefüllt waren? Ich sehe noch, wie der Professor einen Schrank öffnete, in dem Abschlussarbeiten seiner Doktorandinnen und Doktoranden, Habilitandinnen und Habilitanden in großer Anzahl standen, außerdem lagen auf dem Schrankboden, in mehreren Kartons verpackt, Tonbänder mit Mitschnitten seiner Vorlesungen. Schließlich führte mich der Professor zu einer Kommode, auf der wiederum eine ganze Anzahl seiner in einem Kopierladen gebundenen Lyrik-Bände zu sehen waren. Ich machte große Augen. Zwar hatte ich für die Auswahl und Herausgabe seines Buches in einem kleinen österreichischen Verlag einige dieser Bände von ihm geschickt bekommen, aber dass er noch so viele davon zu Hause stehen hatte – die vier- oder fünffache Anzahl – hatte ich nicht vermutet. Nun geschah etwas Seltsames: Der Professor blickte mich für einen Moment eindringlich an. Ich erkannte sofort, was sein Blick zu bedeuten hatte: Ich sollte mich um seine Gedichte kümmern, insgesamt wie sie auf der Kommode standen oder wenigstens eine erkleckliche Auswahl davon; ich sollte für ihre Veröffentlichung sorgen. Auf den Blick des Professors erwiderte ich nichts, wusste jedoch schon, dass es nicht einfach werden würde, seinem Wunsch zu genügen. Die Veröffentlichungsgeschichte seines Lyrik-Buches im kleinen österreichischen Verlag hatte es mich gelehrt.
Mit der Leiterin eines literarischen Blogs, Frau S., besuchte ich Professor Wisser nach elf Jahren wieder in seinem Haus in Worms; in der Zwischenzeit waren wir, wie vorher auch, in brieflichem Kontakt geblieben. Das Lutherdenkmal, der Dom und der alte jüdische Friedhof wären mir gewiss unverändert erschienen gegenüber dem Sommer des Jahres 2005, aber der Professor war ein anderer geworden. Seine Frau war gestorben. Er müsse für seine beiden Söhne kochen, erzählte er mit einer Stimme, die seine Beanspruchung erkennen ließ. Frau S. und mich führte er durch sein großes Haus mit vielen Zimmern, Korridoren und Wohntrakten; Räumlichkeiten, die ich bei meinem ersten Besuch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ein Fernsehgerät aus den sechziger oder siebziger Jahren wurde mir zum Leitmotiv der Führung des Professors durch den Trakt seines Hauses: als einer Welt von gestern. Teilweise waren Möbelstücke mit Folien überdeckt. Alles atmete den verblichenen Glanz vergangener Jahrzehnte. Der Professor sprach viel, beinahe ununterbrochen, Frau S. und ich waren Zuhörer. Auch sonst hatte der Professor immer viel gesprochen, aber sich doch auch wirklich für sein Gegenüber interessiert, hatte Fragen gestellt, zugehört und war auf die Antworten, die er erhielt, eingegangen. Nun bemerkte ich dies nicht mehr an ihm. Was war geschehen? Frau S. und ich unterbreiteten ihm den Vorschlag, seine Gedichte wöchentlich auf dem Blog zu veröffentlichen. Der Professor war einverstanden und hielt darauf, dass ich die Gedichte heraussuchen und an Frau S. mailen würde, damit sie sie hochladen könnte – das Prozedere hatte Frau S. ihm, dem Ahnungslosen in allen Computerangelegenheiten, zuvor darzulegen versucht. (Ein früherer Mitarbeiter des Professors erzählte mir, Wisser sei froh gewesen, der Digitalisierung durch seine Emeritierung im Jahr 1998 gerade noch entkommen zu sein.) Nur ein Bild wollte der Professor nicht mehr von sich veröffentlichen lassen auf dem Blog, wie es bei den anderen Autorinnen und Autoren der Fall war, weil er mit fast neunzig Jahren bei Weitem der älteste Teilnehmer war. Sein Sohn sandte mir kurz darauf mit der Post alle in einem Kopierladen gebundenen Bände, die mich im Sommer 2005 ob ihrer großen Anzahl in Erstaunen versetzt hatten.
Jeden Montag ging der Professor in die Stadtbibliothek Worms und ließ sich am Computer zeigen, welches seiner Gedichte von Frau S. im Blog eingestellt worden war. Wenn Frau S. in den Urlaub fuhr und die wöchentliche Veröffentlichung unterbrochen war, rief er mich an und fragte nach dem Grund. Sonst wollte er nichts mehr wissen. Sein Geist hielt im Kontakt mit mir nur noch diesen einen Gedanken fest: dass ich zusammen mit Frau S. dafür sorgte, dass möglichst jeden Montag ein Gedicht von ihm online in der Stadtbibliothek Worms zu lesen war.
Als der Professor mit zweiundneunzig Jahren starb, waren 161 Gedichte von ihm auf dem Blog eingestellt. Zu einer Fortsetzung der Veröffentlichungsreihe kam es nicht mehr. Frau S. bemühte sich um die Erlaubnis der Söhne, die jedoch nicht reagierten, so oft Frau S. ihre Anfrage auch erneuerte. Auch eine ehemalige Mitarbeiterin des Professors, die er promoviert und habilitiert hatte, welche auch die Familie des Professors gut kannte und nun selbst Professorin war an einer kaum entfernten Universität, wusste keinen Rat, um den sie Frau S. zweimal gebeten hatte.
Ich sitze in meinem Studiersaal wie eine Spinne in ihrem Netz und betrachte meine sieben Bücherregale. Das Netz ist wohlig und umfängt mich. Versinke ich schon darin? Aber im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn. Thomas Berger, der Essayist, Lyriker, Erzähler und Naturalien-Sammler, möge mir helfen bei der einzigen Führung, die ich geben kann. Was habe ich zu sagen? Taugt eine Probe für unbeschwerte Stunden des Erzählens?