Unbeschreiblicher Jubel!


Unbeschreiblicher Jubel!

Erzählung, Teil 1

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Am Montag, den 3. August 1914 las ich in der Zeitung: „Die Schicksalswürfel sind gefallen. Der Krieg ist erklärt und die kriegerischen Ereignisse haben alsbald eingesetzt.“ Ich überflog einige Sätze und gelangte zu der Stelle:

Abermalige Ansprache des Kaisers und Kanzlers. *Berlin, 2. Aug. Vor dem Schloß sammelten sich nach der Bekanntgabe der Mobilmachung Hunderttausende. Jeder Wagenverkehr hörte auf. Sie sangen vaterländische Lieder und riefen immer wieder: ‚Wir wollen den Kaiser sehen.’ Dieser erschien am Fenster, von unbeschreiblichem Jubel begrüßt. Die Kaiserin trat an seine Seite. Unter tiefem Schweigen sprach er mit weithin vernehmbarer Stimme:

‚Wenn es zum Kriege kommen soll, hört jede Partei auf, wir sind nur noch deutsche Brüder. In Friedenszeiten hat mich zwar die eine oder andere Partei angegriffen, das verzeihe ich ihr aber jetzt von ganzem Herzen. Wenn uns unsere Nachbarn den Frieden nicht gönnen, dann hoffen und wünschen wir, daß unser gutes deutsches Schwert siegreich aus dem Kampfe hervorgehen wird.’

Diesen Worten folgte ein Jubel, der nicht enden wollte. Dann erklangen aufs neue aus den hunderttausenden Kehlen die vaterländischen Weisen. Später zog die Menge vor das Palais des Kanzlers und brachte diesem ebenfalls stürmische Huldigungen dar.“

Auch der Kanzler hielt eine Ansprache: dass wir für unseren Kaiser alle einstehen würden, „welcher Gesinnung und welchen Glaubens wir sein mögen, für ihn lassen wir Gut und Blut.“ Er sprach von Gott, dass wir nur siegen könnten in dem festen Vertrauen auf ihn, „der die Heerscharen lenkt und der uns bisher so oft den Sieg gegeben hat.“

Wieder brandete Jubel auf. Dann sprach der Kanzler den Satz:

„Und sollte Gott in letzter Stunde uns diesen Krieg ersparen, so wollen wir ihm dafür danken. Wenn es aber anders wird, dann mit Gott für König und Vaterland.“ „Brausendes Hoch und Hurra“ waren die Antwort.

Von der „Menge“ stand weiter geschrieben, dass sie „bis spät in die Nacht hinein“ noch durch Berlin „flutete […] unter den Linden vom Brandenburger Tor über die Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmbrücke. Ganze Züge mit Fahnen marschierten über die Mittelpromenade“ usw. Natürlich brachte die „Menge“ dabei dauernd Hochrufe aus, „flutete“ in die Wirtshäuser, wo meistens „patriotische Ansprachen gehalten“ wurden und Sammlungen stattfanden fürs Rote Kreuz mit „teilweise recht ansehnlichen Beträgen“.

Auch der Kronprinz wurde erwähnt. Als er „gegen 11 Uhr […] im Automobil die Linden und die Friedrichstadt“ durchfuhr, rief er damit „überall begeisterte Kundgebungen hervor, wofür er fortgesetzt freundlichst dankte.“

Ich weiß noch, wie es mich beeindruckte und regelrecht beseligte, dass das ganze deutsche Volk hinter dem Kaiser, dem Kanzler, dem Kronprinzen und den Fürsten stand und die große Gefahr, die Deutschland vom Ausland drohte, gemeinsam bekämpft werden sollte. Konnte es irgendeinen Zweifel geben über den Ausgang des „Waffengangs“, wie die Zeitung den Krieg auch nannte? Der König von Bayern, der Großherzog von Baden oder der Gouverneur in Mainz – alle erklärten sich rückhaltlos einig im Kampfes- und Siegeswillen für die gerechte deutsche Sache. Das Volk jubelte auch ihnen zu, wie es dem Kaiser und dem Kanzler in Berlin zugejubelt hatte, und sang „Deutschland, Deutschland über alles“ sowie „Die Wacht am Rhein“.

Da stand ich vor der Zeitung und atmete tief. Wollte ich nicht auch zu dieser Menge gehören und mich dem vaterländischen Taumel hingeben dürfen? Zwar gehörte ich noch zu den Jüngeren im Schülerheim, aber spielte das eine Rolle bei der vaterländischen Begeisterung? Wenn für den Kaiser jede Partei „aufhörte“ und er „nur noch deutsche Brüder“ kannte – durfte ich mich dann nicht auch zu diesen „deutschen Brüdern“ rechnen?

Der Präfekt – wir Schüler nannten ihn nur den „Prä“ – unser zweiter Erzieher nach dem Rektor, kam den Gang entlang und fasste mich ins Auge.

„Na, Ludwig, liest du die Zeitung?“

„Ja, es steht so viel Aufregendes darin!“

„Was denn?“

„Der Krieg!“ rief ich beinahe empört, weil ich die Frage „Was denn?“ nicht verstehen konnte. Wusste der Prä nicht, welche neue Zeit angebrochen war? Dass das ganze deutsche Volk hinter dem Kaiser in Berlin und dem Vaterland stand?

„Was denkst du, ist der Krieg? Und wie wird er verlaufen?“

Ich musste überlegen. Meine Verwunderung über den Prä hielt an. Was war mit ihm, dass er solche sachlichen Fragen stellte, wo sich in Berlin und überall im Reich die Menschen begeistert zeigten über den Krieg?

Der Prä schien meine Gedanken zu erraten. Er lächelte mich freundlich an. Dann fragte er noch:

„Hast du auch die Ansprache des Kanzlers gelesen?“

„Ja!“, rief ich fast.

„Was sagte er?“

„Dass wir für unseren Kaiser alle einstehen und Gut und Blut für ihn lassen!“

„Er sagte noch etwas anderes.“

Ich überlegte kurz, dann fiel mir ein:

„Dass wir nur siegen können im Vertrauen auf Gott.“

„Alles richtig“, meinte der Prä, „aber er sagte noch etwas anderes.“

Ich blickte ratlos drein. Daraufhin deutete der Prä mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle der Zeitung, die hinter holzgerahmten Glaskästen hing.

„Lies vor!“, forderte er mich auf.

„Und sollte Gott in letzter Stunde uns diesen Krieg ersparen, so wollen wir ihm dafür danken“, las ich zögerlich.

„Das reicht schon“, meinte der Prä. Er lächelte wieder und sagte:

„Denke darüber nach, was der Kanzler damit meint, dass wir Gott danken wollen, wenn er uns den Krieg erspart; einverstanden?“

Ich nickte bloß. Der Prä verwirrte mich. War es nicht eigentlich fehl am Platz, dass er solche Gedanken äußerte, wo ganz Deutschland den Kriegsausbruch begeistert begrüßte?

„Vielleicht sehen wir uns morgen wieder an den Zeitungskästen“, meinte der Prä. „Ich nehme an, du willst nun regelmäßig die Zeitung lesen?“

(Fortsetzung folgt)