Überlebende berichten


Überlebende berichten

Rezension

 

Reiner Engelmann: Wir haben das KZ überlebt. Zeitzeugen berichten. München 2015 (cbj, Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House, ISBN 978-3-570-17197-4), 253 S., zahlreiche Abbildungen.

 

Das Buch enthält zehn Biografien über Menschen, die dem Rassenwahn der Nazis ausgeliefert waren, aber nicht zu seinem Opfer wurden, sondern ihr Leben retten und die Freiheit wiedererlangen konnten. Als Jugendbuch qualifiziert sich das Werk durch seine einfache Sprache, aber auch jeder Erwachsene kann (und sollte) es lesen. Manche der Texte beginnen mit der Schilderung „normaler“ Kindheits- und Jugendjahre; der Bruch setzte ein mit der Verfolgung durch den NS; mit der Verhaftung verwandelte sich das Leben plötzlich in einen Albtraum. Oder der Autor erzählt sogleich von den Bedingungen im KZ und erwähnt die familiäre Vergangenheit seiner Hauptfigur nur in Rückblenden. Die Bedingungen im KZ waren immer gleich: Miserable Unterkunft und Ernährung, Ungeziefer in Mengen, Zwangsarbeit, Schikanen, unglaubliche physische und psychische Gewalt und ständige Todesangst. Als einzige Lichtblicke gestalteten sich Gesten der Solidarität mit dem Häftling; wenn er oder sie heimlich ein Stück Brot oder einen Apfel erhielt oder zu einer leichteren Arbeit eingeteilt wurde, welche die ohnehin immer schwächer werdenden körperlichen Kräfte langsamer aufzehrte, als bei einer Arbeit in einem Steinbruch oder Metallwerk. Welche Bedeutung erlangten Zufälle in einer Welt vollständiger Willkür und entschieden über Leben oder Tod! War die Freiheit erreicht, durch Flucht oder weil der Häftling das Kriegsende erlebt hatte und das KZ verlassen konnte, galt es, das „normale Leben“ – das so lang ersehnte! – wieder aufzunehmen; aber die Erinnerungen wogen schwer! Wie sollte das bürgerlichen Leben bewältigt werden, das von zivilisierten Umgangsformen geprägt war, wenn man immer wieder eingeholt wurde von den Albträumen der Jahre im Lager? Wie konnte man es vergessen, hinabgeblickt zu haben in den Abgrund des Menschen? Hinzu kam, dass viele der jahrelang Gefangenen nun erst von der Ermordung ihrer Angehörigen erfuhren oder darüber Gewissheit erlangten. Es gehört zu den vielen Besonderheiten der Leseerfahrung mit diesem Buch, dass Edward Paczkowski (Jg. 1930), Josef Königsberg (Jg. 1924) oder Philomena Franz (Jg. 1922) sich durchringen konnten zu einer Haltung, die mit „erinnern ohne Hass“ umschrieben werden kann. Welche innere Größe muss damit verbunden sein, die Täter für das unendliche Leid, das sie verursacht haben im Leben jedes einzelnen Menschen, der in Reiner Engelmanns Buch portraitiert wird, nicht mehr zu hassen? „Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich!“ lautet ein Zitat von Philomena Franz, das die Überschrift ihres Textabschnittes bildet.

Neben den bereits Genannten werden von Reiner Engelmann noch beschrieben: Esther Bejarano (1924), Erna de Vries (Jg. 1923), Heinz Hesdörffer (Jg. 1923), Karol Tendera (Jg. 1923), Eva Mozes Kor (Jg. 1934), Tadeusz Sobolewicz (1925-2015) und Max Mannheimer (1920-2016). Wenn man ihr reichhaltiges Wirken nach der Befreiung aus dem KZ (oder der Flucht daraus) nachliest (Zeitzeugenschaft über viele Jahre vor unzähligen Schülerinnen und Schülern, Verfasserschaft von Erinnerungswerken, Vorsitzende von Organisationen ehemaliger KZ-Gefangener usw.), erhält man eine Ahnung, welche Zerstörung der Nationalsozialismus bedeutete bei Millionen Opfern, die nicht das Glück hatten, das KZ zu überleben.

 

Erstveröffentlichung in „informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945 e.V.“, Nr. 86, November 2017, 42. Jg., S. 37.

 

 

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