Toxische Narrative und ihre möglichen Folgen für Deutschland
Das Spektrum politischer Narrative — ein exemplarischer Einblick, Teil II,6
23.06.2021 bis 12.07.2021
— Fortsetzung zu Teil II,5 —
Die gesellschaftliche Gefahr des Antisemitismus — verdeutlicht am Beispiel Litauens, 1941
Kehren wir nochmals zum Feindbild des Antisemitismus zurück und zeigen am Beispiel der Shoah Litauens, wie der nationalistisch-völkische Hass sozialisiert und die Eigenverantwortung daran u.a. an „Befehlshierarchien“ delegiert wurden. Litauische Freunde und Nachbarn wandelten sich binnen kürzester Zeit zu willfährigen litauischen Nationalisten als Schergen der SS-Einsatzgruppen. Sie und SS-Sonderkommandos (u.a. die „Einsatzgruppe A“ unter SS-Brigadeführer Walter Stahlecker, die SS-Einheiten des „Einsatzkommandos 3“ unter Karl Jäger sowie das sog. „Rollkommando Hamann“) mordeten als nationalpatriotische Herrenmenschen mit „gutem Gewissen“. Sie machten Wilna, Kaunas, Alytus und das gesamte durch die deutsche Wehrmacht eroberte „Ostland“ innerhalb weniger Monate des Jahres 1941 im Sinne der NS-Diktion „judenfrei“. Ob nun litauische Bürger*innen in Zivil oder deutsche Einheiten in Uniform, sie alle tragen die untilgbare Schuld des Einzeltäters an den Geschehnissen der litauischen Shoah. Zwar gab die jeweilige Organisation den ideologischen Handlungsrahmen vor — also die politischen Ziele, basierend auf toxischen Narrativen und antisemitischen Feindbildern, auch die bürokratisch buchhalterisch penible Logistik der Durchführung seitens der SS-Organisatoren — aber die Straftaten selbst, die konkreten Morde in Ghettos bzw. die Massenexekutionen vor Ort, begingen einzelne Überzeugungstäter*innen, denen sie bis heute etwa als „Verbrechen gg. die Menschlichkeit“ oder aber als „Völkermord“ zugeordnet und durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag geahndet werden können…—
Martin Buber wird in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 1953, auf die Ursprünge der Shoah in der Sprache, im Gespräch, im Sprechen, im Wort als Grundlage unseres Denkens, Bezug nehmen. Daher gehört diese Rede ebenfalls in diesen Kontext.
Und eingedenk des Überfalles auf die Sowjetunion durch Nazideutschland am 22. Juni 1941 können wir mit Martin Buber attestieren, dass Krieg keinerlei „Gottesurteil“ ist, das uns von-außen-her geschickt oder uns als „Schicksal“ unabwendbar auferlegt würde. Vielmehr ist die historische Tatsache des „Krieges“ ein präzise durchorganisiertes Geschehen, ein strategisch minutiös geplantes Unternehmen, das von denkenden, planenden, organisierenden und ausführenden Menschen als Ergebnis ihres Tuns aktiv gewünscht und gewollt wird. Die ideologische Überzeugung, einer Herrenmenschen-Rasse anzugehören — gleichviel ob nun als „Landser“, SS- oder Polizeiangehöriger, Milizionär, o.ä. — eingebettet in einen nationalistischen Patriotismus sowie der fanatisch gesteigerte Hass im einzelnen Menschen, projiziert in mörderische Feindbilder, all das waren die Bedingung der Möglichkeit aller Kriegsgreuel sowie des Genozids an den europäischen Juden, Sinti und Roma (vgl. den sog. „Porajmos“ der Sinti und Roma). Es würde meiner Auffassung zufolge eine grundlegende Verkehrung von Ursache und Wirkung, von Planung, Organisation und Tat darstellen, würde man annehmen, dass der Krieg selbst in seinem mehrjährigen Verlauf die Menschen dermaßen verrohen ließ, ihre Verrohung also eine unmittelbare Folge des Kriegsgeschehens selbst gewesen wäre. Vielmehr lässt sich historisch beweisen, dass fanatisierte Menschen aus ideologischer Überzeugung heraus (Stichwort „Stahlecker-Bericht“, „Jäger-Bericht“, Heydrichs Wannseekonferenz, etc.pp.), und damit freiwillig, „Jagd auf…“ Mit-Menschen machten oder unter militärischem Gehorsam SS-Mord-Befehle bereitwillig ausführten. Es ist doch die tiefgreifende seelische Verrohung ganzer Bevölkerungsbereiche, bedingt durch ideologisch indoktrinierten Hass und Hetze, die, nicht nur in Nazideutschland, aufgrund eines mörderischen „kategorischen Imperativs“ einen Vernichtungs-Krieg apokalyptischen Ausmaßes — auch und gerade gegen die Zivilbevölkerung — erst ermöglichte. Zuerst war die seelische Verrohung in Worten, Gedanken, der Alltags-Sprache, legalisiert durch völkische Rassengesetze, verankert in Vorurteilen einer Rassenhygiene eines Überlegenheits-Gefühls im Bannkreis eines Herrenmenschen-Ideals, die als wesentliche Teilaspekte eines ent-grenzten Nationalismus‘ Juden, Sinti und Romaper se nicht nur diskreditierten und uni sono kriminalisierten, sondern als „lebensunwert“ definierten. Und aus dieser Melange entwickelte sich nach-folgend und wechselseitig sich verstärkend, jener fanatische Hass, der aus einem menschlichen Antlitz eine dämonisch-bestialische Fratze zu machen vermag. Dieser legalisierte, völlig entgrenzte Hass war einerseits Ursache und zugleich auch reflexbedingte Wirkung einer inhumanen Gesinnung sowie einer sittlich-bestialischen Verrohung der Einzeltäter*innen. Und als die Menschen erst einmal indoktriniert, verhasst und psychisch verroht waren, als ihr „rationales“ Denken und emotionales Erleben zu fanatischer Hetze verkehrt worden waren, da folgten sie als Überzeugte gemäß ihrer jeweiligen ideologischen Überzeugungen als „Faschisten“, „Nationalsozialisten“, sowjetische „Stalinisten“, etc.pp. bereit-willig und skrupellos in den nachfolgenden Vernichtungs-Krieg, mit all seinen Schlachten, Gemetzeln, Greueltaten, den Massakern (Stichwort: Katyn, Paneriai) und Massenhinrichtungen, den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in den Ghettos sowie dem industriell durchorganisierten Holocaust in den Vernichtungs-Lagern.
Ausdrückliche Differenzierung: Nicht alle Menschen in Europa und Asien mutierten in der Epoche der Diktaturen von 1918-1945 zu fanatisch-indoktrinierten Überzeugungstäter*innen. Es gab seinerzeit auch Menschen des Widerstandes, die unter Einsatz ihres Lebens sowohl gegen eine militärische Übermacht ankämpften als auch in Zivil den Verfolgten und Opfern so gut sie es konnten, Schutz gewährten. Allein, die schiere Zahl der Willfährigen, der im Hass Überzeugten, reichte seinerzeit aus, um das, was wir Heutigen historisch betrachten und moralisch aufarbeiten können, als Tat-Sache einer historischen Apokalypse geschehen zu lassen.
Anhand des Litauen-Beispiels geht es mir u.a. darum, zu zeigen, wie zersetzend, spaltend und entmenschlichend Hass wirkt. Wie er alles, was er berührt, zu vernichten vermag — seien es nun die über Generationen gewachsenen Beziehungen einer Nachbarschaft oder Freundschaft in Wilna, Kaunas, etc., oder aber die Entartung des eigenen, menschlichen Charakters (vgl. die charakterisierenden Beinamen von Reinhard Heydrich als „der Henker von Prag“; Klaus Barbie als der „Schlächter von Lyon“; oder aber Adolf Eichmann als der „Buchhalter des Todes“, et al.). Charakter hier als der veränderliche Teil einer Persönlichkeit verstanden. Denn die Topographie der „Persona“ war bei Heydrich, Barbie, Eichmann, et al. — diesen „Bürokraten des Todes“ — vor dem Zweiten Weltkrieg eine andere, als während ihrer aktiven NS-Zeit, da sie bedenkenlos als Nazi-Funktionäre bzw. Nazi-Schergen fungierten und funktionierten. Und sie war nach dem Zweiten Weltkrieg, da sie in Ländern wie etwa Argentinien untergetaucht waren oder aber in der Bundesrepublik völlig unbehelligt leben konnten (vgl. u.a. Causa Karl Jäger), erneut geprägt von einer gänzlich unauffälligen, „gutbürgerlichen Normalität“.
Apropos: Vielleicht ist dies die erschreckendste Erkenntnis aus historischen Belegen, dass etwa ein musikalisch begabter Reinhard Heydrich, dessen Vater Komponist war, sobald er zu seiner Violine griff, nach Bekunden von Zeitzeugen „ein völlig anderer Mensch“ war — sensibel, warmherzig, selig, ganz dem musikalischen Spiel ergeben. Auch scheint er ein fürsorglicher Vater gewesen zu sein, der sich rührend um Frau und Kinder kümmerte. Zog er jedoch seine hochglanzpolierten Lederstiefel und seine SS-Uniform an, rückte seine Schildmütze zurecht und griff zu seinem Füllfederhalter anstatt zur Violine, so war ein und derselbe Mensch augenblicklich in der Lage, völlig skrupellos mit seiner bloßen Unterschrift hundertausende Todesurteile und deren Vollstreckung zu besiegeln. Voller Genugtuung nannte er dies: „Pflichterfüllung“. Ein sensibler musischer Mensch und sein „alter Ego“. Nazideutschland brachte Hunderte solcher „Charakter-Genies“ hervor.
Doch retour: Auch heute gleicht unsere Gesellschafts-„Kultur“ mit ihrer gelebten Humanität sowie unser eigener persönlicher Charakter einer hauchdünnen Firnis, durch deren Transparenz die Abgründe des Inhumanen, des Widermenschlichen (Buber) aufscheinen. Weder 75 Jahre „Frieden“ noch gewirkte Demokratie können dieses existentielle Faktum als anthropologische Konstante verändern, verwandeln, oder dauerhaft befrieden, wie dies u.a. der kontinuierliche Zulauf zu rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Positionen durch die AfD-Propaganda überdeutlich zeigt. Die „Vergangenheit der Greueltaten“ schlummert folglich als Existenz-bedrohende Gegenwart noch immer in jedem von uns. Nicht, dass wir alle menschliche Ungeheuer vom „Vormat Heydrich“ sind. Sondern, dass wir, sofern auch wir Heutigen den nationalextremistischen, völkisch-nationalistischen Parolen der Rechtspopulisten und der AfD bedenken-los folgen, AfD-Politiker*innen zu unseren Neuen Führern erheben, ihre Unwerte und ihren Hass (vgl. Höcke) als unsere neuen ethischen Leitwerte in unsere Persönlichkeit integrieren, dass wir als unmittelbare Folge dessen sodann in unsere eigenen existentiellen Abgründe stürzen und zu inhumanen Widermenschen mutieren können. Dagegen sind wir nicht gefeit. Wir sind dies „potentiell“, noch nicht „aktuell“. Und ganz offensichtlich bedarf es nur Wenigem, um unsere Neigungen gezielt zu manipulieren, sie bald in diese bald in jene Richtung „geneigt“ und „gewogen“ zu machen. Es ist daher unsere tägliche Ent-Scheidung, welchen Charakterzug wir als Lebensinhalt ausgestalten, ausleben möchten. „Menschliches Antlitz“ oder „fanatische Fratze“. Welchem ethisch-moralischen Wert verleihen wir konkrete Gestalt als unser Leben — im All-Tag? Das ist das existentielle Wagnis unserer menschlichen Freiheit. Und jede Ent-Scheidung — die zum Wohle aller, wie die Vernichtung des Anderen bzw. der Anderen — bleibt in unserer persönlichen Eigenverantwortung. Hieraus gibt es kein Entkommen. Der Mensch lebt in Situationen, und weil er in diesen existiert, trägt er für die Gestaltung der jeweiligen Situation Eigen-Verantwortung.
Wenden wir uns — aus einem persönlichen Blick-Winkel — der litauischen Shoah zu. Mein eigener Weg zur litauischen Shoah führte nicht über Bubers Dankesrede, sondern über Zvi Kolitz zum gleichen Thema. Seit Jahren steht Zvi Kolitz‘ „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ in meinem Bücherregal und möchte von mir gelesen und angeeignet werden. Mal fehlte es an Zeit, mal ermangelte es mir an nötiger Muße, um mich diesem Text anzunähern. Im Zuge der diesjährigen Blogbeiträge griff ich eines Abends zu dieser wahren Geschichte, die Zvi Kolitz (1919-2002), seinerzeit ein sechsundzwanzigjähriger jüdischer Journalist, der selbst nie im Warschauer Ghetto gewesen ist, 1946 in einem Hotel in Buernos Aires genial erfand. Es war ein Beitrag für eine jüdische Zeitung. Sein Text war so „dicht“ und lebendig verfasst, dass seine Leser*innen von der Echtheit des Erzählten überzeugt waren und seine Erzählung für ein authentisches Zeitdokument des Warschauer Ghettos hielten. Fälschlicherweise glauben seit 1946 viele Überlebende der Shoah, dass Jossel Rakover selbst diese Zeilen in seinen letzten Lebensminuten verfasst habe, bevor auch er, wie alle anderen Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettos, von SS-Einheiten erschossen wurde.
Ein literarisches Paradoxon — hinter dem sowohl der ursprüngliche Text als auch sein Verfasser, Zvi Kolitz, gänzlich verschwanden. Juden und Jüdinnen, die die Shoah überlebten, schmückten den ursprünglichen Text beim Weitererzählen so lange mit eigenen, wahren Details aus, bis dieser zum unsterblichen Gegenentwurf zur realen Shoah sowie des Holocaust’s wurde. Ein wahrer Lebens-Mythos; ein moderner Hiob. Ein modernes Gründungs-Epos für Juden in aller Welt — und damit ein unsterblicher, ein wahrer, ein authentischer Text, in dem die Wahrheit über vernichtende Brutalität und den Tod selbst triumphiert. Wort für Wort.
Und wie sooft steht auch bei dieser Geschichte die Wahrheit zwischen den Zeilen geschrieben und ruht geborgen hinter dem Wort, woraus sie, wie Jossel Rakovers „Flaschenpost“, von Zeit zu Zeit erneut aufscheint. Dann nämlich, wenn spätere Generationen nach den Hinter-Gründen zu forschen beginnen, wenn fragendes, bohrendes Wissen-Wollen sich durch die Schuttberge ehemaliger Herrenmenschen-Narrative und ruinierter Weltmacht-Überzeugungen voranarbeitet, sich sachkundig und umsichtig in die „historischen Sedimente“ einer fanatischen Ideologie und eines Terrorstaates gräbt, diese Schicht um Schicht sorgfältig abträgt, wie ein Paläontologe Artefakte, Fragmente und Beziehungs-Netzwerke mit kriminalistischer Sorgfalt heraus-arbeitet und letztlich die Wahrheit ans Licht bringt.
Es ist daher Paul Baddes Recherchen und akribischen Arbeiten an diesem Text zu verdanken, dass sowohl Historisches aus dem Dunkel der Vergangenheit aufzuscheinen vermag, als auch, dass das Wahre und Erzählens-werte einer Geschichte von deren sie umrankenden Legenden-Bildung unterschieden werden konnte. Diese Wahrheit, verpackt in einer existentiell dargestellten Ghetto-Geschichte, ist m.E. heute deshalb so lesens-wert, da sie als Prototyp den Weg von einer Jahrhunderten währenden, intakten Gesellschaft in die Hölle der Shoah beschreibt: von anfänglichem antisemitischen Hass nazionalsozialistischer Glaubens-Genossen*innen und nationalpatriotischer Hetze weniger Litauer*innen (1938f.), hin zu fanatischen Überzeugungen der litauischen „Hilfsgruppen“ sowie der SS-Demagogen (1941), und von dort zur massenmörderischen Tat all jener in SS-Uniformen sowie der litauischen „Überzeugungstäter*innen in Zivil“ — an Nachbarn, Freunden und Bekannten.
Es ist sinnvoll, zunächst Paul Baddes detaillierte Reportage zur Entstehung des Textes zu lesen, um sodann „mit dem Herzen“ Jossel Rakover, dem Warschauer Hiob, persönlich zu begegnen.
Die Welt der toxischen Feindbild-Stereotype…
Die Shoah Litauens
Wie gefährlich das tradierte Feindbild des Antisemitismus war und heute schon wieder ist, zeigt u.a. die historisch belegte Shoah Litauens, hier speziell die Geschichte der Region von Wilna/Vilnius, Kaunas/Kauen und Alytus.
Seit dem 11. Jh. lebten christliche Litauer (jiddisch: Litwiner) und jüdische Litauer (jiddisch: Litwische/Litwakes) friedlich zusammen, bildete das litauische Judentum im Laufe der Jahrhunderte eine ganz eigenständige, gelehrte Richtung innerhalb der Aschkenasim aus, strahlte seine Kultur weit über das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen nach Osten ins Zarenreich und nach Südosten bis ans Schwarze Meer hinaus (ab dem 14. Jh.), solange, bis 1939 zunächst durch sowjetische Truppen der Roten Armee und ab Juni 1941 durch SS-Kommandos die Shoah in Litauen begann. Das Besondere an diesem Genozid: Es waren nationalistisch gesinnte, mit den SS-Kommandos kollaborierende Litauer*innen, die die Scheiterhaufen jüdischer Litauer*innen am Brennen hielten. Zivilisten, einstmals „rechtschaffene Bürger*innen“, äscherten nach 800 Jahren friedlicher Koexistenz als militanter Mob bereitwillig und willfährig das kulturelle Gebilde „Lithuania“ / Lite ein…—
Historischer Aufriss — der politische und gesellschaftliche Zerfall Litauens ab 1938/39
Im Februar des Jahres 1918 wurde die Erste Litauische Republik gegründet. Ein instabiles Staatsgebilde im Baltikum, das bereits 1920 im Zuge des Polnisch-Litauischen Krieges seine mehrheitlich polnisch besiedelten Gebiete rund um Vilnius an Polen abtreten musste. Kaunas wurde vorübergehend Hauptstadt. Ende September 1939 expandierte die Sowjetunion in Richtung Baltikum, und erklärte im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag Litauen zu ihrem Interessengebiet. Zwar gab sie die polnischen Gebiete rund um Vilnius an Litauen zurück, stationierte dort aber gleichzeitig eigene Truppen und unterminierte die Souveränität des litauischen Staates. Zu diesem Zeitpunkt lebten ca. 230.000 Juden im litauischen Staatsgebiet. Im Juni 1940, Nazideutschland hatte Polen überfallen („Polenfeldzug“ vom 01.Sept. bis 06. Okt. 1939), und marschierte gen Osten, marschierte die Rote Armee nun ihrerseits in Litauen ein. Am 03. Aug. 1940 wurde der Staat als „Litauische Sozialistische Sowjetrepublik“ an die UdSSR angeschlossen.
Ab August 1940 begannen Einheiten des sowjetischen „Innenministeriums“, NKWD, unverzüglich damit, all jene Personen zu verfolgen, zu inhaftieren und zu verschleppen, denen man konterrevolutionäre bzw. antisowjetische Gesinnung unterstellte, oder die man der Wirtschaftssabotage bezichtigte. Von August 1940 bis Juni 1941 wurden 20.000, nach anderen Angaben bis 35.000 Litauer*innen, darunter auch viele Juden, nach Sibirien verschleppt. Das war Stalin-„Normalität“.
Litauische Nationalisten definierten ihre nationale Identität über ihre Sprache. Linguistisch gehört „Litauisch“ zur indogermanischen Sprachenfamilie und ist Teil der Baltischen- bzw. Ostbaltischen Sprachen. Gegen anderssprachige Minderheiten im litauischen Staatsgebiet wie Juden, die Jiddisch sprachen, sowie gebietsweise Polen und Russen, wurde seit 1938 nationalpatriotisch Front gemacht. Die einstmalige kulturelle Einheit Litauens zerfiel in nationalistisch gesinnte Litauer*innen und angefeindete, ausgegrenzte „Andere“. Diese Litauer*innen bezichtigten etwa Juden der Kollaboration mit den verhassten sowjetischen Besatzern, ferner der Priviligierung bei Ämtervergabe, u.v.a.m. . Es waren toxische Narrative und antisemitische Feindbilder, die bereits in der Zeit der „sowjetischen Besatzung“ zu ersten Progromen gegen jüdische Litauer*innen führten. Der Beginn einer Überzeugungs-Täterschaft.
Der Überfall auf die Sowjetunion durch Nazideutschland im Juni 1941
Als nun Nazideutschland am 22. Juni 1941 seinen Überfall auf die Sowjetunion startete, marschierten deutsche Einheiten in Litauen ein und wurden von jenen nationalistisch orientierten Litauer*innen als Befreier von der Sowjetherrschaft frenetisch gefeiert. Unter den Augen der neuen Schutzmacht kam es noch am selben Tag zu geduldeten bzw. insgeheim veranlassten Übergriffen gegen litauische Juden. Die systematische Shoah in Litauen nahm ihren Lauf.
Was diese nationalpatriotischen Litauer*innen nicht wissen konnten (oder wollten…): Bereits seit seiner Ernennung zum „Reichsführer SS“ (1929) hatte Heinrich Himmler die „SS“ zu einer bewaffneten, paramilitärischen Eliteeinheit auf- und ausgebaut. Unter Mitarbeit und Koordination von Reinhard Heydrich, nach Himmler die Nr. 2 des SS-Terrorstaates, wurde der sog. „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ (1931/33) gegründet, durchorganisiert sowie als zentraler Machtapparat, der sich auch die Polizei mit ihren verschiedenen Abteilungen unterordnete, als SS-Staat im NS-Staat integriert.
Ab Juli 1939 ließ Himmler unter der Leitung Heydrichs fünf sog. „Einsatzgruppen“ aus den Reihen der SS-Verbände bilden. Diese wurden den fünf Armeen, die für den Überfall auf Polen und die Sowjetunion vorgesehen waren, zugeordnet und waren dem OKH unterstellt. Die Einsatzgruppen waren ihrerseits in 16 „Einsatzkommandos“, „Sonder-“ bzw. „Spezialeinheiten“ gegliedert, für deren Aufbau und Ausrüstung Werner Best, SS-Obergruppenführer, verantwortlich war. Ziel dieser SS-Spezialeinheiten war einerseits die Stabilisierung und Sicherung des rückwärtigen Raumes hinter den voranschreitenden Frontlinien der kämpfenden Truppe (Partisanenbekämpfung, Erstickung jedweden Widerstandes in der Bevölkerung, u.ä.m.) und andererseits die „Säuberung“ der eroberten Ostgebiete von Juden, Sinti und Roma sowie von all jenen Menschen, die nach der NS-Rassenideologie und Völkermordpolitik als „lebensunwertes Leben“ galten. Dieses Spektrum reichte folglich von den gesellschaftlichen Eliten und der Intelligentia in den eroberten Gebieten, zu den politischen Gegnern, etwa den Kommunisten, über vermeintliche bzw. tatsächliche Partisanen, ferner umfasste es alle Menschen, die per Himmler-Erlass als „asoziale Elemente“ bzw. als „geborene Asoziale“ definiert wurden, sodann Homosexuelle und Lesben, bis hin zu psychisch Kranken und körperlich oder geistig Behinderten. Die Pläne dieser „Säuberungen“ waren zu Kriegsbeginn bereits fertig ausgearbeitet und warteten nun auf ihre Durchführung in Ost und West (Stichwort: „völkische Flurbereinigung“). Zur Erlangung der darin beschriebenen Ziele hatten die einzelnen SS-Kommandeure weitreichenden Handlungsspielraum. Oftmals waren ihre Direktiven ganz bewusst sehr vage formuliert, so dass sie ihr Vorgehen relativ frei entscheiden und gestalten konnten. Für die Ausführung und Umsetzung dieser Ziele standen im Osten bis zu 3.000 Mann im Dienste der diversen Polizeieinheiten, der SS- bzw. SD-Einsatzkommandos. Hinzu kamen litauische Polizeihilfseinheiten, die als „Schutzmannschaft“, „Selbstschutz“, etc.pp. geführt wurden.
In Litauen tätige SS-Einsatzgruppen mit ihren nachgeordneten Sonderkommandos
Als im Juni 1941 zusammen mit den kämpfenden Heeresverbänden auch jene SS-Einheiten und deren Einsatzkommandos nach Litauen einmarschierten, begannen diese unverzüglich das eroberte „Ostland“ gemäß ihrer vorliegenden Direktiven „judenfrei“ zu machen. Ferner wurde Hitlers Befehl vom 22. August 1939 ausgeführt, der verlangte, alle Menschen polnischer Abstammung und Sprache zu liquidieren — Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen.
Die Einsatzgruppe I / A unter Führung von SS-Brigadeführer Walter Stahlecker
Die Einsatzgruppe I / A unter Führung von SS-Brigadeführer Walter Stahlecker (Leiter von Juni 1941 bis März 1942) war im Bereich der Heeresgruppe A / Nord mit ca. 990 Mann für das Baltikum zuständig. Seine Einsatzgruppe erwies sich als „effektivste“ aller SS-Einheiten bei der Ausführung der Massenmorde. Im Winter 1941/42, nach lediglich sechs Monaten hinter der „Nordostfront“, meldete Stahlecker nach Berlin die Tötung von 249.420 Juden aus dem gesamten Baltikum, Weißrussland sowie dem Großraum St. Petersburg/Leningrad. Der sog. „Stahlecker-Bericht“ vom 31. Januar 1942 listet allein für Litauen 136.421 Exekutionen auf.
Das Einsatzkommando 3 unter SS-Standartenführer Karl Jäger
Ab September 1941 war SS-Standartenführer Karl Jäger Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes für das Generalkommissariat Litauen. Sein Dienstsitz war Kaunas. Ihm unterstand das Einsatzkommando 3 der Einsatzgruppe I / A mit ca. 140 Personen sowie zahlreichen litauischen Hilfskräften. Der sog. „Jäger-Bericht“ vom 1. Dezember 1941, ein Schlüsseldokument der Holocaustforschung, listet minutiös den geographischen Verlauf sowie die Ausweitung der Exekutionen auf Frauen und Kinder in Litauen auf. Die Gesamtsumme der im Bericht aufgelisteten Ermordeten beträgt 137.346 — davon über 133.000 Juden. Dafür wurde Jäger von Himmler mit SS-Ehrenabzeichen (Totenkopfring, Ehrendegen) hoch dekoriert. Nach Kriegsende führte er unter seinem eigenen Namen ein gänzlich unbehelligtes Leben nahe Heidelberg und Neckargemünd. Erst im April 1959 wurde er verhaftet. Er beging am 22. Juni 1959 (sic!) Selbstmord in der Untersuchungshaft auf der Feste Hohenasperg.
Das sog. „Rollkommando Hamann“ unter Führung des SS-Obersturmführers Joachim Hamann
Jägers wichtigster Unterstützer bei der Umsetzung der litauischen Shoah war SS-Obersturmführer Joachim Hamann, der Führer des jeweils ad hoc zusammengestellten „Rollkommando Hamann“. Dieses Kommando hatte keine feste Struktur, sondern wurde je nach Aufgabenstellung stets neu formiert. Es bestand im Kern aus Hamann sowie seinem Stellvertreter Helmut Rauca, ferner ca. 10 Mann aus Jägers Einsatzkommando 3 sowie zahlreichen litauischen Hilfskräften (ca. 50-60 Mann pro Einsatz), die Hamann aus verschiedenen litauischen Einheiten auswählte. Hamanns Kommando vernichtete von Juni bis Dezember 1941 fast die gesamte jüdische Bevölkerung der litauischen Landgemeinden, u.a. auch jene von Alytus (dem Geburtsort Zvi Kolitz). Hamann, wie Jäger ein fanatischer Judenhasser, beteiligte sich nachweislich als Führer eines Zuges litauischer Hilfskräfte an 62 Massakern, denen ca. 60.000 Juden zum Opfer fielen. Das Morden war bürokratisch penibel durchstrukturiert: Eine Stadt oder Kleinstadt wurde von der deutschen Wehrmacht eingenommen oder überrant, wurde sodann von Polizei- und/oder SS-Einheiten abgeriegelt, so dass niemand fliehen konnte, das Rollkommando wurde zusammengestellt und, meist von Kaunas aus, dem Dienstsitz Jägers, zum jeweiligen Exekutionsort befehligt; die zu erschießenden Juden, Polen, et al. wurden auf Plätzen zusammengetrieben oder aber mit Lastwagen vor die Stadt verbracht und dort in Gruben exekutiert.
Reinhard Heydrich als der Organisator der „Endlösung“
Auf der sog. „Wannseekonferenz“ vom 20. Januar 1942 wird Heydrich zusammen mit anderen ranghohen SS-Funktionären sodann den eigentlichen, den industriellen Holocaust planen, organisieren und koordinieren. Die sog. „Endlösung der Judenfrage“ nahm am Berliner Wannsee Gestalt an und wurde sodann in den Vernichtungslagern und Tötungsfabriken Osteuropas, aber auch in den Ghettos und KZs Westeuropas und dem Kerngebiet des Großdeutschen Reiches in die Tat umgesetzt. Ideologisch modifiziert, reichte ihre narrative Tradition jedoch bis zur „jüdischen Frage“ von 1750 (England) zurück.
Historisch betrachtet liegen die Wurzeln des Antisemitismus sowie des Antiziganismus spiegelbildlich zu einander. Minderheitenschutz war über Jahrhunderte hinweg ein äußerst fragiles Unterfangen, mit ebenso fraglichen Zielsetzungen und Methoden. Das war unter Kaisern und Königen nicht anders als in den ersten demokratischen Republiken des 19./20. Jahrhunderts. So stand etwa der „jüdischen Frage“ eine „Zigeunerfrage“ spiegelbildlich zur Seite, wurden Zielsetzungen von dieser auf jene übertragen und vice versa. Die gewählten Methoden zur „Lösung“ der Frage waren mithin ähnlich: Streuung von Verleumdungen, Bezichtigungen aller Art, Aufbau und Verbreitung von toxischen Stereotypen und Feindbildern, darüber Schaffung von Ablehnung, Abneigung und aufgestachelten Hass in der Mehrheitsbevölkerung. Diese Gefühle und Gesinnungen führten zu Aggressionen und Gewalttaten an den nationalen Minderheiten (Juden, Sinti und Roma waren mehrheitlich Bürger*innen des jeweiligen Staates, in dem sie lebten…), mal als Progrom mal als Vertreibung ausgeführt. Beides führte bei den ausgegrenzten Vertriebenen i.d.R. zu weiterer Verarmung und Verelendung, so dass auch kein anderer Staat jene Flüchtlinge aufnehmen wollte. Aber erst unter Himmler-Heydrich wird ab 1942 die sog. „Endlösung“ sowohl der „Judenfrage“ als auch der „Zigeunerfrage“ als industriell organisierter Genozid vollzogen werden.
Und schaut man sich die sog. „Flüchtlingspolitik“ der heutigen europäischen Diktatoren einmal etwas genauer an, so werden deren heutige „Argumente“ und verwendete Stereotype in der historischen Parallele sichtbar. Und dies wiederum wirft die Frage auf, wie sicher im heutigen Europa, mithin auch in der Bundesrepublik, nationale Minderheiten, Ethnien, aber auch sog. „Randgruppen der Gesellschaft“ tatsächlich sind. Wie lange noch…—?
— Fortsetzung folgt, Teil II,7 —
Quellen und Verweise in der Reihenfolge ihrer Nennung:
Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag
https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Strafgerichtshof
Martin Bubers Dankesrede, „Das echte Gespräch…“, 1953
„Jossel Rakowers Wendung zu Gott“, jiddisch-deutsch, Zvi Kolitz, hrsg. von Paul Badde, Piper, 1999
https://collections.ushmm.org/search/catalog/bib104510
Geschichte der Juden in Litauen
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Litauen
Das europäische Judentum der „Aschkenasim“
https://de.wikipedia.org/wiki/Aschkenasim
Die litauische Shoah
https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_in_Litauen
Organisation, Aufgabe und Ziel der beteiligten SS-Einsatzgruppen aus SiPo und SD
https://de.wikipedia.org/wiki/Einsatzgruppen_der_Sicherheitspolizei_und_des_SD
Die Massenmorde von Ponary, litauisch Paneriai, 1941-1944
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Ponary
Der Holocaust an Sinti und Roma
Der Porajmos — der Genozid an europäischen Sinti und Roma durch SS-Einheiten
https://de.wikipedia.org/wiki/Porajmos
Übersichten zum Thema Antiziganismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Antiziganismus
Antiziganismus damals und heute, Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten
https://geschichte-bewusst-sein.de/antiziganismus/
Universität Heidelberg, Forschungsstelle Antiziganismus
Deutscher Bundestag, Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, Juni 2021
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw25-de-antiziganismus-846976
Karl Jäger
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_J%C3%A4ger
Der sog. „Jäger-Bericht“ vom 1. Dezember 1941
https://fcit.usf.edu/holocaust/resource/document/DocJager.htm
Historischer Aufriss zur „Endlösung der Judenfrage“
https://de.wikipedia.org/wiki/Endl%C3%B6sung_der_Judenfrage
Krieg und Holocaust — der deutsche Abgrund
https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/krieg-und-holocaust-der-deutsche-abgrund-100.html