SVENJAS GROLL


Thomas Berger

SVENJAS GROLL

Svenja Jensen, früh verwitwet, hatte vor einigen Jahren  ihre Tochter Liv, das einzige Kind, durch einem Verkehrsunfall verloren. Die hochgewachsene Mutter war ihr Leben lang bei guter Gesundheit gewesen. Eines Tages jedoch begann die Mittfünfzigerin an Bauchschmerzen zu leiden, die in recht kurzen Abständen wiederkehrten.

Sie hatte eine Reihe von Arztpraxen aufgesucht, ohne allerdings eine klare Diagnose zu erhalten. Diese Besuche waren keine geringe Last für sie; denn sie lebte in der Kremper Marsch, einer der vier Elbmarschen in Schleswig-Holstein, und musste, da sie kein Auto besaß, jedes Mal umständliche Fahrten, auch nach Hamburg, von Strohdeich aus, einem Ortsteil von Kollmar, auf sich nehmen. Aber dies war nicht der Grund, weshalb sie mittlerweile sichtlich ungehalten war. Nein, was sie erzürnte, waren ihre Erfahrungen, immer wieder lediglich verschiedenen Mess- und Prüfverfahren ausgesetzt zu werden. Untersuchungen mittels Ultraschall, Darm- und Magenspiegelungen, Aufzeichnungen der Herzfrequenz, Tests von Blut und Stuhl  ̶  all das hatte sie wiederholt über sich ergehen lassen, ohne in den nur wenige Minuten dauernden Gesprächen mit den Behandlern ein greifbares Ergebnis zu bekommen. Es musste doch Mediziner geben, die in der Lage waren, ihr mit Einfühlung zu begegnen und vor allem genügend Zeit aufzubringen! Allein, das war nicht der Fall. Svenja Jensen zweifelte nicht daran, dass die Ärzte ausgewiesene Spezialisten waren, die sich auf ihren jeweiligen Fachgebieten bestens auskannten. Wussten sie indessen genug über die Menschen, die sich ihnen anvertrauten? Verfügten sie über einen Erfahrungsschatz, was das unlösbare Geflecht von körperlichen, seelischen und geistigen Prozessen betrifft? Hatten sie in wünschenswerter Weise Intuition und die Fähigkeit der Deutung von Symptomen entwickelt? Kurzum: Verdiente ihre Tätigkeit die aus vergangenen Zeiten stammende Bezeichnung Heilkunst?

In ihrem Missmut dachte sie manchmal an ihre verstorbene Großmutter, die seit ihrer Heirat mit dem Bauern Lasse Petersen ebenfalls in Kollmar, aber in Moorhusen gelebt hatte. Freya Petersen hatte in ihren letzten Lebensjahren oft von Doktor Thore Johannsen erzählt, der lange Zeit ihren kranken Mann bis zu dessen Tod betreut hatte. Wann immer der Großvater seiner bedurfte, sei es am Tage, sei es in der Nacht – Johannsen ließ nie lange auf sich warten. Geduldig hörte er dem Patienten zu, saß, ohne auf die Uhr zu schauen, an seinem Bett und fand Worte des Trostes und der Ermunterung. Einem von der Großmutter angebotenen Kräuterlikör oder einem von ihr wohlweislich schon vorbereiteten Tee und einem damit verbundenen Schnack war er, auch im Interesse der Einschätzung der häuslichen Situation sowie des Umgangs und der Ansichten der Ehepartner, niemals abgeneigt. In Frieden sei schließlich der Großvater in ihrem und Doktor Johannsens Beisein, der übrigens kein reicher Mann war, daheim gestorben.

Svenja Jensen, die Enkelin, gab sich bei derartigen Erinnerungen an die Großmutter freilich keinen Illusionen hin. Was sie von den Erzählungen Freya Petersens im Gedächtnis hatte, war, wenn es überhaupt den damaligen Tatsachen entsprach, weit, weit weg. Hatte die Großmutter das Bild des Doktor Johannsen vielleicht geschönt? War der Arzt wirklich ein würdiger Vertreter der inzwischen längst ausgestorbenen Spezies der Landärzte gewesen? Svenja Jensen wusste es nicht. Immerhin war die Großmutter zuletzt wohl ein wenig dement gewesen.