Stroboskop #03


Stroboskop #03

 

Richtiger Ort, richtige Zeit, falsche Priorität

 

Der Sommer 1989 war so eine Zeit, in der man das Gefühl haben konnte, dass Geschichte geschrieben wurde. In diesem Sommer war er in Budapest. Dort waren neben ihm noch Tausende andere DDR-Bürger, die gegen die Mauer demonstrierten und die irgendwann tatsächlich über Sopron nach Österreich ausreisen durften.

Und er war mittendrin. Etwas, das in seinen späteren Lebensläufen nicht würde fehlen dürfen.

Nur dass er eben nicht wirklich mit dabei war. So schön sich diese Geschichte auch später gemacht hätte, wie er mithalf, die Mauer zum Einsturz zu bringen. Als sie im November geöffnet wurde, da war ohnehin nichts mehr zu retten gewesen, die Erosion hatte im Sommer in Budapest begonnen und sich in Prag fortgesetzt.

Es wäre schön gewesen. Aber er hatte alles nur am Rande erlebt. Sicher bekam er die Demonstrationen in Budapest mit, zumal er am 13. August dort war, jenem Tag, an dem immer gegen den Bau der Mauer demonstriert wurde und in diesem Jahr 1989, wie sich später herausstellen sollte, zum letzten Mal. Er hat nur die Tragweite dessen, was um ihn herum passierte, überhaupt nicht erfasst. Vielleicht, weil er ganz andere Dinge im Kopf hatte.

Musik zum Beispiel.

Er war süchtig nach Rockmusik in allen nur erdenklichen Varianten. Beat, Rock, Folk, Heavy Metal, Blues, Soul, Hauptsache, es groovte. Zuhause hatte er einen Plattenspieler mit mindestens 200 Schallplatten, er besaß ein Stereo-Spulentonband, die Bänder zusammengenommen ergaben noch einmal gut einhundert Stunden Musik, er hatte unanständig viel Geld für ein paar ordentliche Boxen mit Massivholzgehäuse ausgegeben, aber wenn es um Musik ging, war er zu nüchterner Kosten-Nutzen-Rechnung nicht in der Lage.

Und doch – egal, wie viele Schallplatten er auch besaß, er hatte immer mindestens genau eine zuwenig. Es kamen ja auch dauernd neue Platten raus. Besonders im Westen, und an die war im Osten nur schwer ranzukommen. Oder aber für viel Geld, das er als Student nicht hatte.

Die Welt war im Umbruch, gut und schön, aber er hatte noch lange nicht alle Platten beisammen, die er gerne sein Eigen nennen wollte.

Gut, dass es also Budapest gab. Den Plattenladen am Theaterring.

In den Urlaub fahren wollte man sowieso, per Anhalter ans Schwarze Meer oder in die rumänischen Gebirge, und von dem Geld, das man als Jahresration in ungarische Forint wechseln durfte, schaffte man es, sich auf dem Rückweg für drei Tage auf dem Zeltplatz am Römerviertel einzumieten, bei McDonalds essen zu gehen und sich eine Platte zu kaufen.

Eine.

Dann kam der Moment, auf den er sich wie schon in den Jahren zuvor gefreut hatte und vor dem es ihm jedes Mal grauste. Er stand vor einem wandbreiten Regal, in welchem sich vielleicht eintausend Platten befanden. Und er musste sich für eine davon entscheiden. Für eine und gegen neunhundertneunundneunzig andere.

Alles wäre leichter gewesen, wenn sein Musikgeschmack schmalspuriger gewesen wäre. Wenn es, sagen wir mal, nur zwei oder drei Sänger oder Gruppen gegeben hätte, die ihn wirklich interessierten. Toleranz in Geschmacksfragen kann einen direkt in die Hölle führen.

Es wäre natürlich alles noch einfacher gewesen, wenn er die andere deutsche Mark in ausreichender Menge in der Hosentasche gehabt hätte. Hatte er aber nicht – und wenn er genügend D-Mark besessen hätte, dann wäre er ja nicht auf diesen Laden angewiesen gewesen.

Er steht vor dem Regal und geht die ersten vielleicht zweihundert Platten durch. Nimmt zehn, fünfzehn davon in die engere Auswahl. geht nach draußen, zündet sich eine Zigarette an, schließt die Augen und hört in Gedanken in die vorausgewählten Platten hinein. So einen neumodischen Kram gab es natürlich noch nicht, dass man sich schon im Laden die CD’s anhören kann, man war ganz auf das eigene musikalische Gedächtnis angewiesen.

Bei der ersten Gruppe waren ein paar Perlen dabei. Dear Mr. Fantasy von Traffic. Atom heart mother von Pink Floyd. Adam and the Ants. Bruce Hornsby. Fast alles von den frühen Rolling Stones.

Welche dieser Platten ist so, dass er ohne sie nicht mehr leben könnte, jetzt, wo er die Chance hat, sie zu bekommen?

Jede!

Und welche ist es noch mehr als die anderen?

Immer noch: Jede. Aber vielleicht ist bei den verbleibenden achthundert Platten ja die eine dabei, die alles andere in den Schatten stellt.

Also wieder hinein in den Laden und die nächsten zweihundert Platten begutachtet.

Das Ergebnis ist niederschmetternd. Noch mehr Kandidaten für die engere Auswahl.

Wieder auf die Straße, Augenschließen, Zigarette. Noch eine Zigarette.

Nach der dritten Sichtungsrunde kommt Panik in ihm auf. Lediglich die Tatsache, dass das Mädchen, mit der er hier im Urlaub ist, auf der Suche nach Klamotten in der Stadt unterwegs ist und ihm, ahnend was er durchmachen würde, vorgeschlagen hat, sie könnten sich abends nach Ladenschluss bei McDonalds treffen, beruhigt ihn etwas. Irgendwann machen die hier Feierabend. Das ist seine Hoffnung und gleichzeitig Grund tiefer Verzweiflung.

Nach der vierten Prüfrunde verfällt er in hilflose Lähmung. Er muss zugeben, dass die schiere Fülle des Angebotes seine Fähigkeiten zu rationaler Abwägung außer Kraft setzt. Als er endlich mit der Regalwand durch ist, befindet er sich in einem Zustand völliger Katatonie. Wie jedes Jahr.

Inzwischen sind vielleicht vier Stunden vergangen. er nimmt eine Platte aus dem Regal, bezahlt sie, sie wird in Papier eingeschlagen – und den ersten Blick darauf wirft er drei Tage später, als er wieder in Leipzig ist.

Jean-Michel Jarre. Zoolook.

Du liebes Bisschen!

Elektronischer Diskopop.

Etwas, das normalerweise komplett jenseits seiner recht weiten Toleranzgrenzen liegt.

Er hat Meilensteine der Beat- und Rockmusikgeschichte achtlos stehen gelassen und sich für Disko und Kommerz entschieden!

Er muss sich etwas dabei gedacht haben.

Aber was, verdammt noch mal?

Außerhalb seiner Wohnung wird die Stimmung im Land immer angespannter. Für Ungarn bekommt kaum noch einer ein Visum, in Prag haben etliche Leute die Botschaft besetzt, es wird diskutiert, auch die Grenze zur Tschechoslowakei dicht zu machen. Und er hat ein Problem damit, dass er nicht weiß, warum er aus dem riesigen Angebot ausgerechnet diese Platte ausgewählt hat.

Er legt die Platte auf. Aber erst noch einmal zwei Tage später.

Grauenvoll.

Aber er hat sie gekauft, also muss er sie sich jetzt anhören. Und sei es als Strafe. Also ein zweites und ein drittes Mal von vorn.

Etwas an dieser Platte muss nach ihm gerufen haben. Das Cover kann es nicht gewesen sein, das sieht potthässlich aus.

Noch einmal anhören. Und noch einmal. Und laut. Also, wenn man sich auf diese Musik einlässt, dann ist das wahrscheinlich die am wenigsten kommerzielle Platte von Jean-Michel Jarre. Das hört man aber erst beim zweiten oder dritten Anhören. Gar nicht richtig tanzbar. Keine Disko.

Und außerdem hat auf dieser Platte Laurie Anderson mitgemacht. Das hört man auch deutlich. Und die hat nun wirklich nur mit den Besten zusammengearbeitet.

Alles in allem hat die Platte schon etwas sehr Eigenes.

Man kann das fast avantgardistisch nennen.

Vielleicht wird Jarre ja einfach unterschätzt, weil er solche Sachen wie Oxygene gemacht hat. Kommerz. Bombast. Erfolgreich. Ja, von irgendwas muss der gute Mann ja schließlich das ganze sauteure Equipment bezahlen. Und leben muss er auch. Vielleicht hat er all den Kommerz nur gemacht, um es sich leisten zu können, solche Perlen wie Zoolook zu machen, wo von vornherein feststand, dass sie kein Renner in den Hitparaden werden.

Zu wenig tanzbar.

Viel zu intelligent.

Nach dem etwa zehnten Hören innerhalb von drei Tagen war er sicher, ein Juwel ausgegraben zu haben. Diese Platte hatte am Theaterring in Budapest nur darauf gewartet, von ihm entdeckt zu werden!

Und ein knappes Vierteljahr später war die Mauer auf und dann hatte er irgendwann auch genügend Westgeld in der Tasche, um sich theoretisch jede der damals verschmähten neunhundertneunundneunzig Platten leisten zu können, womit auch der letzte Rest Reue dahin war.

Manchmal fragt er sich, wie sein Lebenslauf aussehen würde, wenn er an jenem tag in Budapest zur Demo und nicht in den Plattenladen gegangen wäre. Vielleicht wäre er dann ein Held der Wende, besäße den Status des anerkannten Bürgerrechtlers. Stattdessen besitzt er eine Platte von Jean-Michel Jarre, ab und an legt sie auf den Plattenteller, ist inzwischen natürlich ein neues Gerät, nur die alten Boxen hat er noch, an deren Klang kommt das Zeug von heute nicht ran. Jedenfalls nicht das bezahlbare Zeug. Dann sitzt er da, lauscht, erinnert und beglückwünscht sich.

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