schreibArt-Rätsel
Auflösung des vorherigen Rätsels: Heinrich von Kleist (1777-1811)
Frage: Der Bürgermeister von Straßburg, Friedrich Baron Dietrich, verlas am 25. April 1792 auf dem Hauptplatz die Kriegserklärung der französischen Nationalversammlung gegen die Koalitionstruppen. Wie wurden diese Worte aufgenommen?
Antwort: Mit unvergleichlichem Jubel. Endlich geschah etwas, endlich konnten alle freiheitsliebenden Franzosen für das Vaterland kämpfen und die Ideale der Revolution nach außen tragen!
Frage: Im Elsass bedeutete der nahende Krieg sicherlich etwas anderes als in Paris?
Antwort: Zweifellos! Vom Turm der Kathedrale oder vom befestigten Brückenkopf konnten wir die heranrückenden Regimenter der Preußen mit bloßem Auge erkennen, nachts trug der Wind das Rollen der Artilleriewagen und das Klirren ihrer Waffen über den Rhein.
Frage: Am Abend des besagten Tages versammelte Bürgermeister Dietrich die Generalität, Offiziere und wichtigen Amtspersonen in seinem Haus zu einem Abschiedsfest, auch du befandst dich unter den Gästen.
Antwort (nickt): Die Begeisterung machte aus dem Abschiedsfest schnell ein Siegesfest. In unseren Reden erzitterten die gekrönten Despoten Europas, wurde die Trikolore über die Welt getragen.
Frage: Plötzlich wandte sich der Bürgermeiste an dich mit einem Vorschlag, einer Bitte…
Antwort (nickt): Er fragte mich, ob ich den patriotischen Anlass nicht wahrnehmen wolle, um ein Kriegslied zu dichten für die Rheinarmee.
Frage: Wie kam er gerade auf dich?
Antwort: Vor einem halben Jahr hatte ich bei der Proklamation der Konstitution eine Hymne an die Freiheit gedichtet, sie wurde von einem Regimentsmusikus vertont und auf öffentlichen Plätzen gespielt und gesungen.
Frage: Aha! Wie ging es weiter an diesem Abend?
Antwort: Spät nach Mitternacht stieg ich die Treppe zu meinem Zimmerchen in der Grande Rue 126 hoch, mein Versprechen, ein Marschlied oder ein Kriegslied für die Rheinarmee zu versuchen, im Kopf. Jetzt musste ich beginnen, mit all den Eindrücken, Reden, Gebärden dieses Tages vor Augen… „Allons, enfants de la patrie, / Le jour de gloire est arrivé!“ – Das schrieb ich, halb unbewusst, auf – und es saß, war genau richtig. Ich holte meine Geige vom Schrank und probierte eine Melodie – was heißt „probierte“? Alles kam wie von selbst, Worte und Melodie – ein Sturm hatte mich ergriffen, riss mich hin bis zur fünften und letzten Strophe!
Frage: Und danach schliefst du. Hatte schon der Morgen begonnen?
Antwort: Vor Morgengrauen war alles fertig. Ich löschte das Licht, warf mich aufs Bett und schlief so fest wie nie zuvor.
Frage: Warst du dir im Klaren darüber, was du geschaffen hattest?
Antwort: Ach was! Ich trug das Lied einem Regimentskameraden vor, der es passabel fand. Da dachte ich dann auch, das ist passabel, und ging zum Bürgermeister. Der wunderte sich etwas, dass ich so schnell fertig geworden war, übte es aber gleich mit seiner Frau für eine Abendgesellschaft ein.
Frage: Wie kam das Lied bei der Abendgesellschaft an?
Antwort: Gut. Ich bedankte mich für die Lobsprüche und fühlte mich geschmeichelt, sorgte für Abschriften, verschickte sie an Generäle und Regimenter.
Frage: Der Siegeszug des Liedes begann an anderer Stelle.
Antwort: Ja, am anderen Ende Frankreichs, in Marseille. Der Klub der Verfassungsfreunde gab am 22. Juni ein Bankett für abmarschierende Freiwillige. Plötzlich erhob sich ein Medizinstudent und intonierte mein Lied – da schlug der Funke über! Von nun an wurde die Marseillaise, wie sie mein Lied bald nannten, überall gespielt; lawinenhaft die Verbreitung … Nur ich – mir gelang nichts mehr.