Rezension
Regine Heubaum und Jens-Christian Wagner (Hrsg.): Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945. Begleitband zur Wanderausstellung. ISBN 978-3-8353-1713-0, 135 S., zahlreiche Abbildungen.
Der Begleitband zur Wanderausstellung ist zweigeteilt: Im Abschnitt „Ausstellung“ werden die Stationen dargelegt von der „Beginnenden Auflösung“ (der KZs Neuengamme und Mittelbau-Dora) über „Todesmärsche durch den Harz“ (bzw. die Heide zum KZ Bergen-Belsen) oder „KZ-Häftlinge vor der Haustür“ bis zu „Leben im befreiten Lager“ und „Spuren“ (wo über mittlerweile 70 Jahre nach Kriegsende die Aufarbeitung der Geschehnisse referiert wird). Insgesamt elf Abschnitte umfasst der erste Teil des Begleitbandes, umrahmt von einem Vorwort, einem Prolog und Epilog. Ein zweiter Abschnitt enthält fünf Essays, die Erläuterungen und Bewertungen der entsetzlichen Vorgänge enthalten, die heute unter dem Stichwort „Kriegsendphasenverbrechen“ firmieren.
Dass die SS überhaupt zum Mittel der Verlegung transport- und marschfähiger Häftlinge in großer Zahl griff, wird von Regine Heubaum im Essay „Die Räumung des KZ Mittelbau“ damit erklärt, dass der Glaube an den „Endsieg“ auch am 4. April 1945, als der Befehl zur Räumung der Mittelbau-Lager durch Lagerführer Richard Baer (1911-1963) erfolgte, noch vorhanden war. Nach SS-Logik sollte die Arbeitskraft der Häftlinge – etwa in der Rüstungsindustrie – weiter ausgebeutet werden. Hinzu kam, dass ein „ideologisch begründeter Hass gegenüber den Lagerinsassen“ seitens der SS bestand. So lange wie möglich Kontrolle und Gewalt über die Häftlinge auszuüben, war das einzige, was im rassistischen Freund-Feind-Denken der SS Platz fand. Als jedoch die militärische Niederlage von Hitler-Deutschland immer offensichtlicher wurde, entlud sich der Hass der SS gegen die ausgemergelten Häftlinge in Exzessen und willkürlichen Morden.
Ursprünglich hatte der Plan bestanden, die „Mehrheit der vom KZ Mittelbau abgehenden Transporte“ zum KZ Neuengamme zu dirigieren. Von Lübeck aus ging es auf Frachtschiffe, „die notdürftig zu ‚schwimmenden Konzentrationslagern’ umfunktioniert worden waren […] Bei einem Angriff britischer Jagdbomber, die die KZ-Schiffe für Truppentransporter hielten, kamen mehrere Tausend Gefangene ums Leben.“ (S. 115) Die völlige Willkür, der die Häftlinge seitens der SS ausgeliefert war, wird auch bei diesem Beispiel in bedrückender Weise deutlich. Nicht immer endete diese Willkür mit Mord oder Massenmord (wie in einer Scheune am Stadtrand von Gardelegen, in die Häftlinge getrieben worden waren und die anschließend in Brand gesteckt wurde. Jeder, der zu fliehen versuchte, wurde erschossen. „Insgesamt starben bei dem Massaker über 1000 Menschen“); es gab für Transportführer auch die Möglichkeit, „angesichts der militärischen Lage“, den Transport aufzulösen und die Häftlinge in die Freiheit zu entlassen, was vereinzelt vorgekommen ist. Oder die Wachmannschaften „entledigten sich […] ihrer Uniformen und ergriffen in Zivilkleidung die Flucht“ (S. 116). Auch dann war für viele ehemaligen Häftlinge das Leiden nicht überstanden, auch wenn die unmittelbare Bedrohung und Todesangst durch die SS vorbei war: „Häufig machten Polizei, Volkssturm oder deutsche Zivilisten Jagd auf die Freigelassenen, die durch die gestreifte Häftlingskleidung gut als ‚Sträflinge’ erkennbar waren“ (S. 117).
Martin Clemens Winter erläutert in seinem Essay „Massenverbrechen inmitten der Gesellschaft; Todesmärsche in Norddeutschland“ drei Phasen der Räumung der Konzentrationslager: Die Lager in Ostpolen und im Baltikum wurden schon ab dem Frühjahr 1944 aufgelöst; die zweite Phase „begann mit der Winteroffensive der Roten Armee Mitte Januar 1945“ (wobei zunächst die Lager des KZ-Komplexes Auschwitz geräumt wurden); die dritte und letzte Phase der Evakuierung fand im März und April 1945 statt, als „nach und nach auch die Lager im Reichsinneren aufgelöst“ wurden. Das Chaos, die Menschenverachtung und Gewalt bei den immer zielloser werdenden „Räumungen“ kosteten vielen tausend Gefangenen das Leben; Martin Clemens Winter schreibt von „bis zu 250000 Todesmarsch-Toten“ (S. 110). „Zur weiteren ‚Stabilisierung’ der Situation führte die SS in den letzten Monaten systematische Massentötungen Tausender kranker, arbeits- und marschunfähiger Insassen durch, insbesondere in Sachsenhausen, Ravensbrück und Mauthausen“ (S. 109).
Der Zivilbevölkerung konnten die Massentransporte und –Märsche nicht mehr verborgen werden. Im Gegenteil war „eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung an der Logistik nicht nur notwendig, sondern von vornherein eingeplant“ (S. 111), etwa bei der Verpflegung der Gefangenen, ihrer Unterbringung und Bewachung; auch bei der notdürftigen Beerdigung der „zahlreichen zurückgelassenen Leichen der Opfer […] direkt an Ort und Stelle […] um die Spuren der Verbrechen zu vertuschen“ (S. 111). Auch bei der Jagd auf entflohene Häftlinge beteiligte sich die Zivilbevölkerung. Martin Clemens Winter führt Einzelbeispiele auf und schreibt von einer „kaum dokumentierten Dunkelziffer von spontanen Feindseligkeiten und organisierten Gewalttaten der Bevölkerung gegenüber KZ-Häftlingen während der Todesmärsche“ (S. 112).
Während der Ausstellungsteil des Begleitbuches anhand von Einzelschicksalen und Dokumenten die Geschehnisse veranschaulicht, greifen die Essays die Thematik wissenschaftlich auf. In beiden Teilen kann das Entsetzen nicht ausbleiben über die Verrohung der Täter und das namenlose Leid der Opfer.
Erstveröffentlichung in „informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945“, Nr. 86, November 2017, 42. Jg., S. 38.