Johannes Chwalek: Saskia zu Besuch. Erzählung. Stuttgart: Scholastika Verlag, 2024, 178 Seiten. ISBN 978-3-947233-92-2. Preis: 15,60 Euro
Meiner Lektüre der Erzählung ging jene dreier regionalgeschichtlicher Arbeiten des Autors voran:
- Ersehnter Friede. Die Kriegs-Chronik des Bürgermeisters von Flörsheim, Jakob Lauck, vom 25. Juli 1914 bis zum 3. Juli 1919. In: Nassauische Annalen. Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung, Band 135, 2024, S. 443–461.
- „Denn die Hauptaufgabe ist halt doch das Studium.“ Elternbriefe Karl Kunkels als Rektor des Konvikts Bensheim. (Erscheint voraussichtlich in den „Geschichtsblättern Kreis Bergstraße“ 2025).
- Quellen zur Geschichte des Konvikts Bensheim. Gelesen von einem Zeitzeugen aus der ersten Hälfte der Siebziger Jahre. (Erscheint voraussichtlich in „Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde“ 2025.)
Man muss diese Artikel nicht kennen, um die Erzählung Johannes Chwaleks literarisch (und menschlich!) goutieren zu können. Aber der erste Artikel sagt Einiges darüber, wie der Erste Weltkrieg in der Region ganz konkret erlebt wurde. Der zweite und dritte Artikel wiederum erhellen den Ort der Erzählung. Er ist dem Konvikt Bensheim nachgebildet, wo der Autor eine ebenso wichtige wie prägende Zeit seines Lebens verbracht hat.
Eine historische Erzählung? Nur bedingt. Denn es werden Themen unserer unmittelbaren Gegenwart verhandelt, nur gleichsam transponiert. Eine Perspektive à la „Wie war das damals?“ schafft eine ungebührliche Distanz. Dagegen errichtet Johannes Chwalek ein doppeltes Wehr. Zum einen die Rahmenhandlung, die dem 1. Kapitel (ab S. 34) vorangeht. Der Autor legt auf diesen Rahmen seinen Nachdruck, indem der Buchtitel darauf rekurriert. Der Ich-Erzähler / Autor der Erzählung verhandelt mit Saskia, einer Bekannten seiner Frau, brennende Fragen der Gegenwart vor dem Hintergrund der Erzählung, die damit von vornherein keine rein historische sein kann. Der Autor geht noch einen zweiten sprachlich-stilistischen Weg, um die Fragen und Probleme der Erzählung zu vergegenwärtigen: der Roman in fünf Kapiteln geriert sich als ein Work in Progress. Das meiste mag ausformuliert sein, aber der Ich-Erzähler deutet immer wieder Szenen und Abschnitte an, die nach wie vor auf letzte Ausgestaltung warten. Der Effekt: Wie Saskia wird jede andere Leserin / jeder andere Leser in die unmittelbare Gegenwart des erzählten Geschehens einbezogen.
Am Anfang steht Ludwig, 12 Jahre, im August 1914 vor einem Glaskasten seines Schülerheims, um dort Zeitung zu lesen. Die Presse jener Tage ist voller patriotischer und nationalistischer Aufwallung und begrüßt mit Begeisterung den kommenden Krieg. Das hat erst einmal nicht geringen Einfluss auf Ludwig. Die vorgegebene Meinung des Landes, der Gesellschaft, der Schule, der er angehört. Gibt es noch eine andere Meinung? Ja! Sie wird (in aller gebotenen Vorsicht) von Präfekt Zeisig, dem Stellvertretenden Leiter des Schülerheims, und dessen evangelischem (!) Freund, dem Künstler Thomas von den Bergen, vertreten. Und – mit weniger Vorsicht, aber doch auch leider nur begrenzter Wirkung – von Papst Benedikt XV., dem Oberhaupt der römisch-katholischen Weltkirche, einer Stimme, die kaum durchdringt in all den sich überbietenden Nationalismen.
Ludwigs Schülerleben schien einfacher, als es nur die vorgegebene Meinung gab, der er sich gefälligst anzuschließen hatte. Der „Prä“ vertritt für Ludwig zunächst einmal ein Außenseitervotum. Mehr noch: er wirbt bei Ludwig dafür. Ohne dem gleich nachzugeben, empfindet Ludwig große Sympathie für den Prä: er spürt, dieser Mann nimmt ihn ernst. Schert damit aus allen Erfahrungen, die Ludwig bisher gemacht hat, mit Menschen, die ihn vermittels Zwang oder Druck immer in eine bestimmte Richtung drängen wollen. So sicher Präfekt Zeisig Ludwig für eine kritische Sicht der Kriegstreiberei gewinnen möchte, so sicher ist doch auch, dass er Ludwig seine Meinung / Haltung nicht aufdrängen möchte. Ludwig soll zu einer eigenen Meinung, einer eigenen Haltung finden.
Das heißt: Informationen nach der Absicht befragen, die dahinterstehen, und kritisch auf den Prüfstand stellen. Sich ein eigenes Bild der Dinge erarbeiten. Zu einer eigenen Überzeugung finden. Und zu Wegen, diese auch gegen Widerstände zu behaupten. Zu leben, nicht gelebt zu werden. Präfekt Zeisig vertritt die einzig humane Pädagogik, die billiger als durch konsequentes und geduldiges Bemühen um den einzelnen Menschen nicht zu haben ist.
Der Demoskopie zufolge fürchten heute viele Menschen sich davor, ihre Meinung zu sagen. In den Zeiten des shit storms scheint vielen der Preis zu hoch. Und die Probleme, die Konflikte, die Leiden dieser Welt zu komplex. Kann ich einen konsequenten Pazifismus leben und fordern – oder wird das dadurch unmöglich gemacht, dass mir vor Augen kommt, mit welchen Mitteln Menschen entrechtet, entwürdigt, unterdrückt, ihrer eigenen Entfaltungsmöglichkeiten beraubt werden?
Resümiere ich meine Lektüre, komme ich auf sieben Aspekte, die mich nachhaltig berühren:
- „Saskia zu Besuch“ geht stilistisch ganz eigene Wege, um einen Ausschnitt von Wirklichkeit zu „vergegenwärtigen“.
- Der Autor vermittelt uns ein konsistentes Bild von dem spezifischen Binnenkosmos, den ein katholisches Schülerheim ausmacht. Es wird spürbar genährt von seinen eigenen Erfahrungen.
- Gestützt auf seine regionalgeschichtliche Expertise liefert der Autor eine stimmige Darstellung des Ersten Weltkriegs von der rauschhaften Begeisterung des Beginns bis zur „Kriegsmüdigkeit“ (nicht erst gegen Ende).
- Der „Prä“ wird in seiner Art, mit Ludwig umzugehen, zum Inbegriff der Pädagogik. Er will ihm keine eigenen Einsichten und Haltungen aufzwingen; vielmehr soll Ludwig lernen, sich kritisch eine eigene Meinung zu bilden (die richtigen Fragen zu stellen) und im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür einzustehen.
- Chwalek erinnert mich an das berühmte Diktum Günter Eichs: „Alles, was geschieht, geht Dich an!“ Mag sein, ich sehe die Antwort auf Putins brutalen und menschenverachtenden Krieg gegen die Ukraine in radikalem Pazifismus, mag sein, ich sehe sie in den Waffenlieferungen des Westens. Ein Egal, ein Gleichgültig kann es angesichts des Leides der Menschen nicht geben.
- Die unverkennbare Kongruenz von Ludwigs Erfahrungen („Saskia zu Besuch,“ S. 79 f.) mit denen des Autors auf der vorletzten Seite der oben zitierten „Quellen“ lässt das Maß ahnen, indem der Autor eigenes prägendes Erleben und Erleiden in seine Erzählung hat einfließen lassen.
- Die Erzählung bezieht ihren Reiz aus unterschiedlichsten Elementen: vertraulichen Gesprächen, Briefen in einer Zeit der Zensur, einem im Schutz der Anonymität an die Öffentlichkeit gebrachtes Plakat, das nicht einmal durch die Dignität eines Papstes geschützt ist. Der Erzähler begegnet seinen Gestalten mit einem hohen Maß an Empathie. Die Erzählung ist spannend, ihre Sogwirkung (auf mich jedenfalls) unleugbar. Die inneren Konflikte seiner Figuren macht der Autor überzeugend zu den meinen.
Rüdiger Jung