Rezension Rüdiger Jung


Thomas Berger: Es werde Schrift. Wege zum Werk Franz Kafkkas. Nachwort: Johannes Chwalek M.A. Zeichnungen: Dr. Jennifer Helen Weber. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2024. 160 Seiten. ISBN 978-3-8250-8994-7.

„Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (S. 93 f., Anm. 224) Diese Stimme ist singulär – selbst in der an Provokationen nicht armen und um Lautstärke nicht verlegenen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wir sprechen von einem Werk, das nur deshalb Teil der Weltliteratur werden konnte, weil ein Freund dem letzten Willen des Freundes nicht entsprach: Max Brod hat – entgegen Kafkas Wunsch – dessen Nachlass nicht vernichtet, sondern gerettet, aufbewahrt, veröffentlicht. (Vgl. S. 12) Die Herausforderungen, vor der dieses Werk uns stellt, hat Theodor W. Adorno auf den Punkt gebracht: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“ (S. 15, Anm. 13) Ausgehend von Kafkas Tagebuch diagnostiziert Thomas Berger ihm den unbändigen Ehrgeiz, über sich hinauszugehen und – gottähnlich -: „Es werde Licht“ (Genesis 1,3) – Schrift zu werden“. (S. 69) Keiner lese das vorschnell als spirituelle Vereinnahmung, gilt doch hier das Wort Rachel Salamanders über Kafka: „Er war in jüdischen Dingen ziemlich gebildet, blieb aber quasi immer vor dem Gesetz stehen.“ (S. 19, Anm. 26) Trotzdem bleibt unleugbar eine Analogie zu Begriffen wie Offenbarung und Widerfahrnis, wenn Kafka schreibt: „Ich habe diesen Zweck natürlich nicht selbständig und bewußt gefunden, er fand sich selbst“. (S. 69, Anm. 163)

Berger führt den Leser sehr sorgfältig und behutsam in Kafkas Werk ein, indem er nach den biographischen Grundinformationen den literarischen Stil des Autors in den Blick nimmt. „Zu Kafkas eigentümlicher Erzählweise gehört, dass auch aussergewöhnliche und unerklärliche Dinge sachlich und lakonisch berichtet werden, so als wären sie gar nichts Besonderes.“ (S. 33) „Unglaubliches, Irreales taucht unvermittelt an der Seite von Gewohntem, Realem auf, ohne dass das Unfassbare und Unwirkliche als solches gekennzeichnet wird.“ (S. 34) Wird Kafka später in seiner Zerrissenheit zwischen Pflicht/Lebenserwerb und (weit mehr als) Neigung, zwischen Büro und Literatur dargestellt, fällt hier doch auch der Hinweis auf eine sehr markante Brücke: „Kafkas juristische und literarische Begabung befruchten einander: die schriftstellerischen Fähigkeiten wirken sich positiv auf die Präzision und Verständlichkeit der dienstlichen Texte aus, und umgekehrt prägt die Sphäre des Rechts seinen literarischen Stil.“ (S. 41) Was alle Sachlichkeit, alle Nüchternheit sprengt, ist anders als durch eine sachliche, nüchterne Sprache nicht zu haben. An dieser Stelle ein Lob für die Zeichnungen Jennifer Helen Webers, die mir mit Kafkas literarischem Stil d´accord zu gehen scheint: keine Preisgabe an die allzu verlockende Mystifikation, sehr wohl aber Mut zur Metamorphose. Keineswegs nur Melancholie, sondern sehr wohl auch die Kafka von anderer Seite bezeugte „bezaubernde Witzigkeit und Spritzigkeit“. (S. 46, Anm. 92)

Beim ersten der zentralen Aspekte, die Berger beleuchtet, dem „Kampf um die Selbsterhaltung“, formuliert er in Anlehnung an Frank Schirrmacher eine ganz wesentliche Prämisse: „Kafka ‚hat in Wahrheit über sich nie geredet‘. Das Ich in seinen Tagebüchern und der Korrespondenz ist ein literarisches Ich, gefügt aus Phantasie und Teilen der Realität, ohne dass die Rezipienten beides verlässlich trennen können.“ (S. 45, vgl. Anm. 89) Das gipfelt in Kafkas Selbstaussage: „Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ (S. 47, Anm. 96) „schreiben werde ich (…) unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.“ (S. 50, Anm. 112) „Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen.“(S. 51, Anm. 116) Ausgehend von der oben benannten Prämisse verwahrt sich Berger auch im Blick auf Kafkas „Brief an den Vater“ einer allzu leichtfertigen autobiographischen Lesart. (S. 52) Das widerrät keineswegs, in Kafka – mit Gerhard Neumann – einen ‚Experten der Macht‘ zu sehen, die „in kleinsten Lebenseinheiten, also dort am stärksten ist, wo sie anonym und gewissermaßen ‚unsichtbar‘ bleibt“. (S. 55, Anm. 130)

„Schon Kafkas Kindheit ist, was seine ganze Erwachsenenexistenz sein wird: erschriebenes Leben.“ (S. 58, Anm. 113) „Alles, was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich“, notiert Kafka selbst in sein Tagebuch. (S. 58, Anm. 134) Gespräche, Besuche – die Freuden der andern lenken ihn vom Entscheidenden ab. Nur so ist sein Verhältnis zu den Verwandten zu verstehen. Nur so auch sein Verhältnis zu den Frauen, nach denen er sich sehnt und die er doch zurückweist, wenn sie notwendigerweise mit seinem einzigen für sich selbst akzeptierten Lebenszweck, dem Schreiben, in Konkurrenz treten. Solche Unbedingtheit kann nicht umhin, das Alleinsein zu schätzen und zu suchen. (S. 60) Und sich abzusetzen von alledem, was das Leben der andern (und nicht nur der andern!) als Verlockung und Herausforderung prägt: „Alles, die Freuden des Geschlechts, des Essens, Trinkens, des philosophischen Nachdenkens, der Musik, muss zurückstehen, muss verkümmern für das Einzige, was für ihn zählt.“ (S. 71 f., Anm. 168)

Schonungslos sieht Kafka die eigene Schriftstellerexistenz von Eitelkeit bedroht, wenn er schreibt: „Was der naive Mensch sich manchmal wünscht: ‚Ich wollte sterben und sehn, wie man mich beweint‘, das verwirklicht ein solcher Schriftsteller fortwährend, er stirbt (oder er lebt nicht) und beweint sich fortwährend.‘ Er sieht darin den Grund für die schreckliche Todesangst, weil er noch nicht gelebt hat.“ (S. 62, Anm. 143) „Ich habe mich durch das Schreiben nicht losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben.“(S. 62 f., Anm. 144)

Die konsequente, bedingungslose Unterordnung des Lebens unter das Schreiben hat Folgen, nicht nur für Kafka selbst: „Er ordnete mithin nicht bloß gewissermaßen sich selbst dem Schreiben unter, sondern instrumentalisierte auch andere, indem sie für ihn lediglich Stoff für seine alles andere weit hinter sich lassende Literatur boten.“ (S. 77) Dabei bleibt die Selbstaussage des Autors zu bedenken, dass nicht er das Schreiben, vielmehr das Schreiben ihn erwählt habe (vgl. S. 69, Anm. 163) Den Preis, den der Autor selbst zu entrichten hat, umreissen Begriffe wie Einsamkeit und Isolation. Die Formel „Meine Gefängniszelle – meine Festung.“ (S. 82, Anm. 202) steht für eine Ambivalenz, die auszuhalten ist. „Das beinahe unablässige Schreiben von Briefen bietet“ Kafka „einen höchst willkommenen Ersatz für unmittelbaren sozialen Kontakt.“ (S. 79) Briefe sind keineswegs nur Kommunikation. Für Rainer Stach macht „Das Beispiel Kafkas (…) nur verständlich, warum gerade das schwankende, gefährdete Subjekt (…) in den Selbstheilungseffekt des Briefs die größten Hoffnungen setzt und darüber immer wieder in Selbstgespräche verfällt.“ (S. 80, Anm. 194)

„Einsam – in wüster Gegend […] unter kaltem Himmel auf kalter Erde ist […] der Mensch von seiner Natur her.“ (S. 104, Anm. 242) In „Heimkehr“, Kafkas Adaption des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11–32), kommt es bezeichnenderweise nicht zu der Versöhnung und Wiedervereinigung, die die vorherige Trennung aufhebt. (Vgl. S. 100 f., Anm. 232, 233) Der Autor aus mehr als eigener Entscheidung ist ein Außenstehender – „Beobachter, nicht Teilnehmer“ (S. 112): „Einer muß wachen […] Einer muß da sein“. (S. 107, Anm. 242)

Die Ewigkeit als mögliche Richtung des Sehnens taugt für Kafka nur bedingt als Trost: „Was an der Vorstellung der Ewigkeit bedrückend ist: die uns unbegreifliche Rechtfertigung, welche die Zeit in der Ewigkeit erfahren muß und die daraus folgende Rechtfertigung unserer selbst, so wie wir sind.“ (S. 114, Anm. 260) Für die Lebenshaltung, die daraus resultiert, findet Kafka an verschiedenen Stellen zu ein-und-dem-selben Begriff (S. 110): „Gibt es eine Seelenwanderung, dann bin ich noch nicht auf der untersten Stufe. Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“ (S. 110, Anm. 250) „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg: was wir Weg nennen, ist Zögern.“ (Ebd., Anm. 251)

Dem Begriff des Kafkaesken korrespondieren in besonderer Weise Albtraum und Ohnmacht. Zum Inbegriff der letzteren wird für Berger der Landvermesser in Kafkas Roman „Das Schloss“. „Der Landvermesser möchte unbedingt in das Schloss gelangen: es wirkt, als kämpfe er nicht nur um die offizielle Bestätigung seiner Anstellung als Landvermesser, sondern um Legitimation und Sinn seiner Existenz, um das Recht auf Heimat. Sämtliche Bemühungen seinerseits scheiterten jedoch. (…) Beinahe alles im Roman ist in Unbestimmtheit gehüllt. Es ist ein Missverständnis – wie eine Überschrift über den Gesamttext klingen die Worte des Landvermessers im zehnten der fünfundzwanzig Kapitel.“ (S. 126, Anm. 268) Der Gipfel der Unbestimmtheit markiert die entscheidende Institution: „Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und entläßt dich, wenn du gehst.“ (S. 127, Anm. 271) (in dem Roman „Der Prozess“)

Rudolf Otto fand über Tremendum und Fascinans zu einer Definition des Numinosen. Ohne Kafka vereinnahmen zu wollen: welcher Part der jüdisch-christlichen Tradition läßt sich am ehesten seinem Werk assoziieren? „Die Schuld ist immer zweifellos.“ (S. 139, Anm. 227): die Apokalyptik, in der sich der Mensch als absolut ohnmächtig erfährt. „Deshalb bleibt doch der beste Rat: alles hinzunehmen, (…) keine Reue fühlen“ „winselnd im Dunkel – SCHEITERN“ ist bei Thomas Berger das achte und letzte Kapitel der Zentralen Aspekte überschrieben. „Das Scheitern eint die Figuren in Kafkas Werk.“ (S. 138) „Im Brief an den Vater (…) schreibt der Sohn, wäre ihm als Kind ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-Hand-nehmen, ein guter Blickzuteilgeworden statt Kraft, Lärm und Jähzorn, hätte man ihm alles (…) abfordern können. Doch nun muss der Sohn „die lebenslangen Folgen der Oberherrschaft des Tyrannen – Selbstmißtrauen und Empfinden der Wertlosigkeit – schmerzhaft tragen.“ (S. 138, Anm. 279) Das Scheitern ist also kein voraussetzungsloses. Schuld und Unterlassen, verweigertes Mitgefühl und die reine Boshaftigkeit haben ihren Anteil daran: „Sie sieht nichts und hört nichts“. (S. 142, Anm. 284) Das Scheitern des Autors indes ist ein tragisches, zutiefst in seiner eigenen Conditio humana begründetes: „Sein eigenes Scheitern war Kafka bewußt. Es resultiert aus der Unvereinbarkeit des Bestrebens, nichts als Schrift zu sein, und der menschlichen Triebnatur, zu der das Angewiesensein auf Anerkennung und Lob (…) gehört. Das intendierte Ziel, die Existenz in Literatur zu verwandeln und somit die Schranken des Daseins zu überwinden, birgt in sich unvermeidlich das Misslingen.“ (S. 149)

Sollte damit das letzte Wort über Kafka gesagt sein? „Treffend bemerkt Walter Benjamin (…): Die Grenze des Verstehens hat sich ihm auf Schritt und Tritt aufgedrängt. Und gerne drängt er sie andern auf.“ (S. 153, Anm. 296) Mir scheint nicht absehbar, dass sich daran etwas ändern sollte ….