Rezension: Johannes Chwalek: Gespräche am Teetisch.


Johannes Chwalek: Gespräche am Teetisch. Roman. Frankfurt am Main: edition federleicht 2019, 187 S.

 

Franz Josef Schäfer

 

Der in Mainz lehrende Gymnasiallehrer Johannes Chwalek (* 1959 in Flörsheim am Main) fühlt sich Bensheim eng verbunden. Von 1970 bis 1976 besuchte er den Realschulzweig der Geschwister-Scholl-Schule und wohnte im Bischöflichen Knabenkonvikt. Nach Ausbildung zum staatlich anerkannten Erzieher und Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg studierte er Germanistik, Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Deutsche Volkskunde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

In den Jahresbänden 2011 bis 2016 der Geschichtsblätter Kreis Bergstraße ist er mit sieben Beiträgen vertreten, u. a. zur Geschichte des Bischöflichen Knabenkonvikts Bensheim, Fürsorgeerziehung im Kreis Bergstraße oder zum Bezirksgemeindearchivpfleger Max Gorges. Geschichtliche Themen zur Bergstraße hat er darüber hinaus in der Zeitschrift „Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde“ und „Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte“ publiziert.

Erwähnenswert sind darüber hinaus seine geschichtsdidaktischen Publikationen zur Neuzeit: Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Holocaust, die in einem namhaften Schulbuchverlag erschienen sind.

Johannes Chwalek trat seit seiner Studentenzeit auch mit belletristischen Arbeiten an die Öffentlichkeit. „Gespräche am Teetisch“ ist sein erster Roman. Ein Großteil der Handlung ist unverkennbar in Bensheim angesiedelt, auch wenn der Ort lediglich mit „B.“ angegeben wird. Das Alte Kurfürstliche Gymnasium AKG wird mit Klarnamen genannt. Die Bensheimer Joseph-Heckler-Schule wird im Roman „Joseph Beckler-Schule“ bezeichnet.

Zum Konvikt bekommen wir das Gründungsjahr 1888, die vorläufige Schließung durch das NS-Regime 1939 und die Wiedereröffnung 1950 mitgeteilt.

Das ehemalige Konvikt, seit 1984 Rathaus der Stadt Bensheim, wird in Chwaleks Roman wie folgt beschrieben:

„Es war ein Gebäude wie ein Schloss, umgeben von einem großen Garten, einem Sandballplatz mit zwei Toren und großen Bäumen. Wir stiegen eine steinerne Treppe zum Hauptportal mit zwei mächtigen Holztüren hoch, standen in einem Zwischenraum und wurden von zwei Schülern, die linker Hand in einem Pfortenzimmer saßen, durch ein Schiebefenster begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir zur Anmeldung in den zweiten Stock hochzugehen hätten, wo wir eine Beschilderung sähen“ (S. 16).

Beginnt in Schüler- oder Internatsromanen für die Hauptfiguren häufig mit dem Tag des Eintritts eine Zeit voller Einsamkeit oder Drangsalierung, öffnet sich hier gerade umgekehrt das Tor zur Selbstverwirklichung der Hauptfigur Jeannot Haller, denn der Ich-Erzähler hat im Vorfeld bereits mitgeteilt, dass er und seine vier Geschwister von Stiefmutter Marion auf extrem brutale Weise terrorisiert wurden; allerdings nicht ihre beiden eigenen Kinder. Der schwache Vater – im Roman durchgehend „biologischer Vater“ bezeichnet – war für die Kinder aus erster Ehe keine Stütze. Er willigte aber ein, dass Jeannot nach schulischem Versagen in einem Internat zukünftig unterrichtet wird. Der Junge, der zur Verarbeitung seiner Demütigungen beschloss, ein „Tagebuch im Geiste“ zu führen, empfand den 27. August 1970 einen gepriesenen Tag, als er das Einfamilienhaus in einer pfälzischen Kleinstadt – nicht sein zu Hause – mit dem katholischen Internat in B. eintauschte.

Jeannot führte im Internat sein Tagebuch. Das zweite und längste Kapitel, S. 33-111, hat die Überschrift „Tagebuchaufzeichnungen“, beginnend mit dem 28. August 1970 und mit dem 25. November 1971 endend. In diesen Einträgen werden einerseits der günstige Internatsalltag dargelegt, aber auch Rückblicke vorgenommen bezüglich des erlittenen Psychoterrors, der auch während der Wochenendaufenthalte weiter ausgeübt wurde.

Im dritten Kapitel „Gespräche am Teetisch“, S. 113-166, findet Jeannot endlich einen Gesprächspartner, der einerseits die Begabung des Jungen erkennt, andererseits aber auch dessen Not wahrnimmt. Schrieb Jeannot noch am 4. September 1970: „Ich schäme mich dafür, dass meine älteren Geschwister und ich so schlecht behandelt worden sind. Ich schäme mich für meine Erinnerungen“ (S. 40), gewinnt er wachsendes Vertrauen zu Präfekt Schreiber: „Ich glaube, er weiß unglaublich viel. Ich könnte tausend Dinge von ihm lernen“ (S. 57). Letztlich willigt er ein, dass der Präfekt – zumeist Prä tituliert – sein Tagebuch lesen darf. Dieser widmet dem Jugendlichen viel Zeit, lädt ihn zum Tee ein, leiht ihm Literatur aus (Heinrich Böll, Hermann Hesse, Alexander Solschenizyn) und stärkt durch die vielseitigen Gespräche, nicht nur über Literatur, sondern auch über Philosophie (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling), Politik (Bundeskanzler Kiesinger, Brandt, Bundespräsident Heinemann) und Geschichte (Widerstand gegen das NS-Regime), das Selbstwertgefühl des Jungen: „Die Stiefmutter ist eine Psychopathin, aber eine berechnende, weil sie sich für ihre Aggressionen die schwächsten Wesen ausgesucht hat, die sie finden konnte: von ihr abhängige, mutterlose Kinder. Was der Vater mit seinen eigenen Kindern geschehen ließ – oder lässt –, vor allem auch mit dir, begreife ich nicht“ (S. 126). Es folgt ein Versprechen, das der weiteren Handlung die Richtung vorgibt: Ich werde alles daransetzen, dich aus der fatalen Familiensituation im pfälzischen Einfamilienhaus herauszuholen, falls du damit einverstanden bist“ (S. 126f.).

Johannes Chwalek hat mit der Figur „Schreiber“ dem Erzieher Siegfried Schramm (1907-1985), der von 1950 bis 1975 am Bischöflichen Konvikt in Bensheim tätig war, ein literarisches Denkmal gesetzt. Der Autor hatte bereits seine Monografie „Drei Rektoren. Eine Internatsgeschichte“ aus dem Jahre 2008 Schramm gewidmet. In dieser Schrift stehen die Rektoren Karlhans Gerber (1960-1971), Otto Lause (1971-1973) und Franz-Josef Thelen (1973-1979) im Zentrum. Das Buch wurde in der Region verstärkt wahrgenommen, als 2010 die sexuellen Missbrauchsfälle der Siebzigerjahre am Bensheimer Konvikt an die Öffentlichkeit drangen. Den genannten Rektoren kommt im Roman nur eine untergeordnete Rolle zu. Ihnen wurden die Namen „Karlheinz Gerbner“ und „Franz Josef Neleth“ zugewiesen.

Den Höhepunkt erreicht die Handlung in den Kapiteln 4 „Das Frühlingsfest“, S. 167-173, und 5 „Mein biologischer Vater muß zum Gespräch mit dem Rektor“, S. 175-183.

Präfekt Schreiber hatte mit Jeannot im Vorfeld ausführlich die einzelnen Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besprochen. Dabei stellten sie die Universalität dieser Rechte heraus, somit auch deren Gültigkeit für Kinder und Jugendliche. Beim Frühlingsfest stellte die Enthüllung einer von Jeannot geschaffenen Außenskulptur den Höhepunkt dar. Den Umstehenden zeigte sich ein großer Globus, um den herum auf Äquatorhöhe schemenhaft Kindergestalten angebracht waren, die verschiedene Schriftzüge trugen“(S. 170).

Die Konviktsleitung stellte Jeannots Vater im Beisein des Jungen zur Rede, der sich auf die Bibel berief, dass derjenige, der sein Kind liebt, es züchtige, worauf der Präfekt entgegnete: In der Bibel steht nichts davon, dass eine Erwachsene einem wehrlosen Kind ins Gesicht spucken, ihm büschelweise die Haare ausreißen und es mit den wüstesten Schimpfwörtern und Morddrohungen verletzten soll!“ (S. 178). Unter Einschaltung des Jugendamtes wurde dem Ehepaar das Sorgerecht für Jeannot entzogen.

Im Kapitel 6 „Nachtrag“, S. 185-187 gibt der Ich-Erzähler einen Ausblick auf die Zeit nach seinem Befreiungsschlag. Die einstigen „Herrscher im Einfamilienhaus“ sah er über dreißig Jahre nicht mehr. Den Prä besuchte er als Student oft in seiner Pensionärswohnung und ging ihm zur Hand. „Tausend Winke hat mir mein väterlicher Freund und Mentor gegeben, ,und Winke sind‘ nach Stefan George, ,von alters her die Sprache der Götter’“ (S. 186).

Johannes Chwalek ist mit seinem ersten Roman ein außerordentlich beeindruckendes Buch gelungen, das auf die Macht des Wortes aufmerksam macht, aber uns auch für die Rechte der Kinder und Jugendlichen sensibilisiert.

 

Die Rezension wurde zuerst publiziert in: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 53, 2020, S. 282-286. Die Veröffentlichung auf der schreibArt erfolgt mit freundlicher Genehmigung Franz Josef Schäfers.