Rezension
Johannes Chwalek: „Gespräche am Teetisch“. Roman. Frankfurt am Main 2019 (Verlag edition federleicht), 187 Seiten, 13 €.
Das erste Kapitel des kleinen Romans heißt Die Misshandlung meiner Schwester (S. 11-33) und entfaltet die Gewaltexzesse der Stiefmutter an der älteren Schwester des Protagonisten. Er erzählt diese Szene in der Ich-Perspektive aus der Sicht eines zehnjährigen Kindes. Die hinterhältige Brutalität der Stiefmutter wird detailreich geschildert, die doppelbödige Moral eines scheinbar gutbürgerlichen, geordneten Lebens exakt beschrieben, sodass man sich unwillkürlich fragt, ob dieser Roman nicht autobiographische Züge trägt. Welcher Romancier könnte solche Szenen in dieser lebendigen Dichte erdenken und inszenieren? Andererseits fragt man sich bei der Lektüre, ob das Geschriebene nicht die Vielzahl heutiger Missbrauchs- und Gewaltdelikte gegen Minderjährige und Schutzbefohlene — sei es in Internaten, Pflegeheimen oder im häuslichen Rahmen — wiedergibt, also unsere gesellschaftliche Ist-Situation authentisch beschreibt. Denn die im Roman geschilderten Verhaltens-Muster gleichen jenen der heutigen Realität genau. Das gesellschaftlich-soziale Phänomen des Missbrauchs geht damals wie heute durch alle gesellschaftlichen Schichten, alle Bildungs-Ebenen sowie alle Berufsgruppen. Die doppelbödige Moral eines dandyhaften „Dr. Jekyll“ und eines moralisch psychisch-abgründigen, brutalen „Mr. Hyde“ sind noch immer allgegenwärtig. Das Kapitel spiegelt folglich einen Lebens-bereich unserer Gegenwart wider, gerade so, als ob vermeintlich Vergangenes immerwährendes Nun geblieben sei.
Das zweite Kapitel, Tagebuchaufzeichnungen (S.33-112), kontrastiert die ungetrübte und unbeschwerte Kindheit im Internat, wohin der Protagonist Jeannot gebracht worden ist, mit der weiterhin gewalttätigen Situation zu Hause. Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers reichen von August 1970 bis November 1971. Internats-Erlebnisse und Schulalltag wechseln sich mit sog „Heimfahrwochenenden“ und vor allem Rückblenden ab, in denen der Verfasser sein und seiner älteren Geschwister Leben unter dem Terror der „Herrscher des Einfamilienhauses“ vor seinem Internatseintritt schildert. Der letzte Eintrag des Tagebuchs vom 26. November 1971 vertauscht in Gedanken des Protagonisten und Ich-Erzählers die Rollen: Nun wird der biologische Vater von einem starken Kerl verprügelt, während Jeannot in die unbeteiligte, mitleidlose Rolle des Vaters schlüpft. Und wie einstmals Pontius Pilatus, so wäscht auch er nun seine Hände in Unschuld.
Das Kapitel Gespräche am Teetisch (S.112-165) atmet eine neue Atmosphäre. Der Präfekt des Internats in B., von Jeannot kurz „Prä“ genannt, zeigt menschliche Wärme, Mitgefühl, Empathie. Er eröffnet dem nun dreizehnjährigen Jeannot die weite Welt der Literatur sowie durch ein länger währendes Gespräch über Menschenrechte, verbunden mit einem Besuch des Stadtarchivs in M., nicht nur einen Zugang zu sich selbst, sondern vor allem einen Ausweg aus dem elterlichen „Einfamilienhaus“ mit seinen Gewaltexzessen. Der Prä als echter Pädagoge, der — pais agogein — das Kind an die wissende, weise Hand nimmt und es führt, wird der sokratisch-väterliche Freund für Jeannot. Selbst wenn nun über häusliche Gewalt berichtet wird, wird sie in einen verständnisvollen und hilfsbereiten Dialog zwischen dem Prä und Jeannot eingebettet und für wichtige Veränderungen in Jeannots Leben fruchtbar gemacht. Der Autor zeigt: Häusliche Gewalt ist weder „gottgegeben“ noch blindes, unabwendbares Fatum — sie war und ist: Menschen-gemacht. Und damit veränderbar und abwendbar.
Im Kapitel Das Frühlingsfest (S.165-172) erfahren wir Jeannots Nachnamen: Haller. Nun ist der Jugendliche eine „komplette Person“ geworden — und eine gefeierte Persönlichkeit. Denn seine Skulptur zu den Kinderrechten, die beim Frühlingsfest von ihm enthüllt wird, macht ihn bei seinen Internats-Kameraden, deren Eltern sowie den Pädagogen zum „Star“. Wäre die Erzählung nicht in den 1970er Jahren angesiedelt, wäre man versucht, Jeannot zu twittern oder ihn in facebook zu „liken“ oder auch eine „WhatsApp“ zu schicken, um ihm für seinen Erfolg zu gratulieren, so lebendig wird die Szenerie beschrieben. Andererseits, und hierin zeigt sich die Zeitlosigkeit dieses Einfalles, ist die Frage der Kinderrechte auch 50 Jahre später noch immer nicht angegangen, geschweige denn umgesetzt worden, wie die vielen Beispiele von Kindersoldaten oder Kindersklaven auf afrikanischen Kakao-Plantagen zeigen.
Im vorletzten Kapitel, Mein biologischer Vater muss zum Gespräch mit dem Rektor (S.172-180), wendet sich das Blatt: nicht der kleine bzw. jugendliche Jeannot steht nun sprachlos und ohnmächtig vor einem elterlichen Tribunal, sondern Jeannots biologischer Vater, „Herr Haller“, wird vor den Rektor des Internats zitiert und muss diesem, dem Präfekten sowie der Unterstufenleiterin Frau Heckl „Rede und Antwort“ stehen. Der sonst so eloquente Vater ringt verzweifelt nach Worten, wohl wissend, dass er gegenüber seinen Kindern aus erster Ehe versagt hat. Ähnlich wie in einem klassischen Drama erreicht die Erzählung hier ihren Höhepunkt, da das missbrauchte Kind rehabilitiert und in seine Kinderrechte eingesetzt wird, während der „biologische Vater“ zur Verantwortung und Rechenschaft gezogen wird.
Der Autor legt in dieser kurzen Passage den Finger auf die Wunde: nicht Kinder können das gewaltsame Familien-System der Eltern auf- und aus diesem Abhängigkeits-Verhältnis ausbrechen. Es müssen couragierte Erwachsene sein, die beherzt Kindern (oder alten Menschen) zur Seite springen, wenn es gilt, Schlimmeres und Schlimmstes zu verhindern. Denn Gewalt trifft immer — damals wie heute — die Schwächsten der Schwachen: Kinder und hilfsbedürftige Alte. Deshalb: Courage!
Der knapp dreiseitige Nachtrag (S. 180-183) schließt das Gesagte in versöhnlicher Weise, insofern, als es dem Protagonisten Jeannot mit Hilfe seines väterlichen Freundes „Prä“ gelungen ist, dem „Archipel Gulag“ der häuslichen Gewalt zu entkommen und selbst nicht wie seine Stiefmutter gewalttätig zu werden oder aber wie sein biologischer Vater ohnmächtig zu bleiben. Es ist ein zusammenfassender, von einem Heute aus beschriebener Rückblick auf Gewesenes, der sich bis zum Tod der „Herrscher des Einfamilienhauses“ erstreckt, als der Protagonist nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder den Schreckensort seiner Kindheit betritt.
Ich wünsche diesem Roman eine wache, interessierte, vor allem jedoch gesellschaftlich engagierte Leserschaft, die nicht bloß hilflos mit den Achseln zuckt, ohnmächtig schweigt oder betreten-verlegen die Blicke senkt und wegschaut, wenn auf Straßen und Plätzen Aggressionen eskalieren oder aber im häuslichen Umfeld Gewalt-Exzesse hinter den Masken biederer Bürger-Freundlichkeit verborgen werden. Denn Aggressionen und Gewalt gehen uns alle an.
Bernhard Ruppert