Reisen mit ungewissem Ausgang, 1. Teil


Reisen mit ungewissem Ausgang

© Brigitta Dewald-Koch (2013)

 

 

„Wo schreiben Sie für gewöhnlich? Wie lange am Tag? Schreiben Sie an einem stillen Ort, bevorzugen Sie eine anregende Umgebung? Wie finden Sie das Personal Ihrer Handlungen? Haben Sie das, worüber Sie schreiben, persönlich erlebt?“

Diese und ähnliche Fragen werden mir in meinen Lesungen immer wieder gestellt.

Meistens antworte ich: Da meine Schreibzeit äußerst knapp bemessen ist, schreibe ich wo und wann immer es mir möglich ist, an Abenden, Wochenenden, in Zügen, Hotelzimmern, auf öffentlichen Plätzen im Sommer, in Cafés im Winter; und überall dort treffe ich auch das Personal meiner Handlungen.

Natürlich schreibe ich auch in meinem Arbeitszimmer.

Mein Arbeitszimmer nicht sehr groß, doch es ist hübsch geschnitten, ein Bücher- und Bilderzimmer mit einem Fenster an seiner Stirnseite, das mir einen Blick erlaubt in Gärten mit ihren wechselnden Stimmungen des Tages, der Jahreszeiten, über weiße rheinhessische Häuser mit ihren roten Dächern, über die ich die Morgen- oder Abendsonne hinweg wandern sehe, prall, präsent wie wir sie von Turners Bildern kennen im Sommer und Herbst, zögerlich, hinter Wolkenbergen versteckt, oder durchscheinend hell im Frühjahr und im Winter, und wo an kalten Wintertagen aus schmalen langen Schornsteinen zittriger weißer Rauch aufsteigt.

Im Frühsommer sitzt an vielen Nachmittagen eine Amsel auf der Dachrinne des Hauses mir gegenüber und pfeift sich eine Melodie. Manchmal gesellt sich eine Taube dazu und gurrt schaurig, dann steigert die Amsel für gewöhnlich ihren Gesang und kommt mir ein wenig überheblich daher, das monotone Gurren der Taube hingegen klingt mir im Ohr wie eine Mahnung vor genau dieser Überheblichkeit.

Ich sitze gerne in meinem Arbeitszimmer, jedoch bin ich tagsüber schnell vom Schreiben abgelenkt, weil es eben verlockender ist zu beobachten als an Wörtern und Sätzen zu feilen, Gedanken eine logische Richtung zu geben, die Phantasie zu bemühen. Am liebsten schreibe ich deshalb in meinem Arbeitszimmer, wenn es draußen dunkel und still ist, dann sehe ich Szenen besser, höre die Wirkung der Worte und Sätze, die ich mir überlege, ohne ablenkende Nebengeräusche.

Ich könnte es auch so formulieren: Mein Arbeitszimmer ist der Ort, an den ich mit den Ideen, Eindrücken, Bildern, die ich andernorts gesammelt habe, zurückkehre, um sie, ähnlich wie ein Bilderhauer, ein Maler oder Komponist, zu bearbeiten, das heißt einen Rhythmus des Erzählens zu finden, eine Sprache, die im Kopf der Leserinnen und Leser Bilder entstehen lassen und ein Leben auf Zeit, das sie mit eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Mutmaßungen, mit Zustimmung oder Ablehnung ergänzen können; man könnte auch sagen, eine Erzählung, einen Roman zu schreiben, der unterhalten und gleichzeitig anregen soll.

Ich sagte es schon. Es gibt für mich Sommer- und Winterorte, Gelegenheitsorte und solche, die für eine bestimmte Szene oder Erzählung von besonderer Bedeutung sind. Manchmal ist es die Enge eines Cafés, eines Hotels, eines Warteraums, die meine Phantasie beflügelt, dann wieder die Umgebung, die mir eine Bank am Fluss, in einem Park, ein belebter Platz ermöglicht, das nächtliche Ankommen in einer Stadt, der Blick aus dem Abteilfenster eines Zuges, einer Straßenbahn oder dem Seitenfenster eines Taxis.

Ich beobachte, wie Frauen auf Männer zugehen und umgekehrt, ihre Körpersprache, die mitunter mehr ausdrückt als die Worte, die sie miteinander sprechen, ich beobachte, wie Eltern mit Kindern reden, wie Menschen miteinander streiten, sehe ihren Zorn, ein Lächeln aus Unsicherheit, Angst, ihr Zögern, das sich auf  ihre Bewegungen überträgt und sie langsamer werden lässt. Ich beobachte, wie ein Glas krampfhaft in der Hand gehalten,  eine Tasse hart auf der Untertasse abgestellt wird, eine Gabel Muster in ein Tischtuch zeichnet, Versprechen gegeben oder widerrufen werden, man auf die Uhr schaut und gleichzeitig beteuert, jede Zeit der Welt zu haben. Ich betrachte mir die Blumen, die zu einem Rendezvous mitgebracht werden, die Kleidung der sich Treffenden, bin neugierig, welches ihre ersten Worte sein werden, wer sie ausspricht, mache mir Gedanken über ein Parfüm.

Und aus all dem, was ich sehe, höre oder rieche, schmecke, forme ich mein Personal und seine Umgebung, die Konflikte, mit denen es sich auseinandersetzen muss, lasse Menschen in Tragödien hineinrennen und sich wieder davon befreien, zeige, dass Wut, Zorn, ja sogar Hass, ebenso dem Menschen eigenen sind wie Liebe, Glück, Toleranz und Zufriedenheit, lasse sie die Gründe für ihr Tun erklären oder verheimlichen, schicke sie auf die Suche nach sich selbst, lasse sie sich selbst im Weg stehen, eine Lösung aus scheinbar auswegloser Lage finden. Ich begleite unglücklich Verliebte, ein Kind, in die Vergangenheit zurück, um die Gegenwart besser begreifen zu können, lasse Menschen  sich irren, rechthaberisch oder bescheiden sein, gewinnen oder verlieren. Ich konfrontiere mein fiktives Personal mit eigenen und fremden Erwartungen, den Träumen, denen sie oder andere nachhängen, lasse sie gegen mich kämpfen, stelle mir ihre Freunde und Feinde vor, denke mir aus, was sie erfreuen oder verletzen könnte, welche Existenznot oder andere Gefahr sie bedrängt, ob sie sich darin eingerichtet haben oder willens sind, ihre Lage zu verbessern. Und immer ist da die Frage, was ihr Leben grundlegend  verändern sollte, zum Guten wie zum Schlechten.

In diesem Frühjahr bin ich zum wiederholten Male in Venedig gewesen. Venedig ist ein guter Ort, um Stimmungen einzufangen, glückliche wie weniger glückliche, ein Ort der Farben, der Auseinandersetzung mit den Gegensätzen hell und dunkel, Tod und Leben, Beharrung und Entwicklung.

Als ich in Venedig ankam, nieselte es. Aufgrund meiner früheren Besuche um die gleiche Jahreszeit – ich kam am letzten Sonntag im März an – hatte ich ein mildes Klima erwartet und meine Kleidung entsprechend gewählt. Sie passte ganz und gar nicht zu der Novemberstimmung, die ich antraf.

Dann war auch noch mein Koffer am Flughafen Marco Polo unauffindbar, und als ich ihn mit Hilfe einer freundlichen Italienerin endlich wiedergefunden hatte und schließlich den Wasserbus erreichte, der mich in die Stadt bringen sollte, war ich neben einer älteren Italienerin der einzige Fahrgast. Als ich an der Anlegestelle Zaccheria ausstieg, stellte ich fast sofort fest, dass ich die falschen Anlegestelle gewählt hatte, so dass ich anstatt der vermeintlichen fünf Minuten zwanzig Minuten im Regen und über vier Brücken mit meinem Koffer gehen musste, ehe ich das Hotel erreichte, in dem ein Zimmer für mich reserviert war, und all das zu einer Uhrzeit, zu der in Venedig um diese Jahreszeit die Gassen verlassen wirken und die Restaurants bereits geschlossen sind.

Birgt nicht eine derartige Ankunft bereits eine Fülle von Material für eine spannende Erzählung?

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