Quo usque tandem…?
05.02.2020
Nimmt man die berühmten „Selbstbetrachtungen“ des Marc Aurels (121-180 n. Chr.) zur Hand, und darin das „Erste Buch“, das sowohl seine Genealogie als auch sein eigenes Werden als Staatsmann, Stoiker und Menschen charakterisiert, indem er einzelne Tugenden und Charakterzüge seinen Vorvätern, seiner Mutter, seinen Lehrern, etc.pp. zuordnet und sie auf diese Weise personifiziert — etwa die edle Gesinnung und Gelassenheit des Großvaters (I,1), die Bescheidenheit des Vaters (I,2), die Frömmigkeit sowie die Abscheu vor bösen Taten und Gedanken der Mutter (I,3), Rusticus die Verbesserung und Pflege des eigenen Charakters (I,7), von Fronto jedoch „die Erkenntnis, was tyrannische Verleumdung, Heimtücke und Heuchelei ist“ (I,11; zitiert nach Gernot Krapinger, Selbstbetrachtungen, S. 12), von seinem Adoptivvater, Antoninus Pius, die staatsmännische Geisteshaltung, Weitsicht und ebensolches Geschick (I,16), und von Anderen anderes — so hält man die Beschreibung eines idealen, spätantiken Herrschers und Menschen in Form einer literarischen vita in den Händen. Eine Zeiten und Epochen überdauernde Richtschnur für ein gutes, gelingendes und somit glückliches Leben.
Kehrt man nun jede einzelne Tugend und jegliches Maß dieses Buches um, so kommt man auf direktem Wege zu heutigen Politikern vom Schlage eines Trumps, Putins, Bolsonaros, Johnsons — und, seit heute Morgen (05.02.2020): Kemmerichs. Heutige Politik — im Großen wie im Kleinen — lebt aus Lügen, lebt von Intrigen, Drohungen, menschenverachtendem, aufstachelndem Hass und „dreckigen Deals“, lebt eine ununterbrochene Reihenfolge von Tabubrüchen, die nichts mehr mit demokratischer Gesinnung, noch Anstand, noch Sitte gemein haben. Es ist gelebte Usurpation, frei von jeglichem Gewissen und Tabus. Und während die „Granden“ in Berlin sich „pikiert“ oder „irritiert“ zeigen, und Gauland berechtigterweise jubelt, schaffen Höcke et al. einen politischen fait accompli nach dem anderen, da „Regional-Fürsten“ zu jedem schmutzigen Packt mit ihnen bereit sind, sofern dieser sie nur in der eigenen Karriere befördert. Es will scheinen, dass keiner — sei er Politiker oder Privatmann — diesen rechtsnationalen „Marsch auf Berlin“ noch aufzuhalten vermag. Jedenfalls nicht mit appellierenden Worten. Denn Worte verhallen und zerstieben wie Schall und Rauch, und was eben noch als politische Vereinbarung zu gelten schien, das wird, je nach sich bietender Gelegenheit, im nächsten Moment bereits in dessen Gegenteil gekehrt, da Neonazis bundesweit aufgrund ihrer Taten nachhaltig eine Fakten-Wende schaffen, indem sie unter der Maske einer demokratisch gesinnten Biederkeit die Landkarte ebendieser Demokratie neu zeichnen. Gestern noch war es ihr programmatisches Ziel, alle Landtage, auch jene im Westen, zu erobern; heute nun wählten sie den Kandidaten der „Fast Drei Prozent“-Partei zum thüringischen Ministerpräsident. Aus politischen Brandstiftern werden, per geheimen Handschlag, scheindemokratische „Königsmacher“ — gegen das erklärte Votum der Bevölkerung. Unsere Demokratie scheint offensichtlich schneller zu verrotten, als in Grönland die Gletscher schmelzen. Wohlan denn!!
Es gab einmal eine Zeit, und diese ist noch kein Menschenleben her, da lebte und atmete eben diese heute dahinsiechende Demokratie europa- und weltweit noch gänzlich andere Inhalte und Werte, da erinnerten ihre Visionen von einem geeinten Europa an die „Pax Romana“ des Marc Aurels. Lasen und beherzigten Staatsmänner vom Format eines Helmut Schmidts (1918-2015) oder eines Henry Kissingers, nicht nur Marc Aurel, sondern beherzigten zudem das Gelesene als zeitlosen Leitfaden nicht nur für ihre eigenen politischen Entscheidungen, sondern auch für ihr privates Leben. Und ein Václav Havel (1936-2011), Staatspräsident der Tschechoslovakischen Republik, konnte im Frühjahr 1990 in einer in Hörfunk und Fernsehen übertragenen Rede noch folgendes erklären:
„Wir sind moralisch erkrankt, weil wir uns daran gewöhnt haben, anders zu reden, als wir denken. Begriffe wie Liebe, Freundschaft, Mitleid, Demut oder Vergebung haben ihre Tiefe und ihre Bedeutung verloren, erscheinen als verirrte Grüße aus längst vergangenen Zeiten, … Nur wenige von uns brachten es fertig, laut auszusprechen, daß die Mächtigen nicht allmächtig sein sollten. Laßt uns lernen und es auch den anderen vermitteln, daß die Politik Ausdruck des Bedürfnisses sein muß, einen Beitrag zum Glück der Gemeinschaft zu leisten, und nicht Ausdruck des Willens, die Gemeinschaft zu betrügen und zu vergewaltigen. Unsere größten Feinde sind die eigenen schlechten Eigenschaften: Gleichgültigkeit dem Gemeinwesen gegenüber, Eitelkeit, Ehrgeiz, Selbstsucht, persönliche Ambitionen und Rivalitäten. Lassen wir nicht zu, daß unter dem erhabenen Gewand des Wunsches, der Allgemeinheit zu dienen, nur das Verlangen nach Eigennutz blüht.“ (zitiert nach: Ulrich Hommes, Marc Aurel, Zu Dir selbst, Mittelbayrische Druck- & Verlags-Gesellschaft, S. 20) Könnte diese Rede heute nicht ebenso gut von Deniz Yücel (Agentterrorist, Kiepernheuer & Witsch, 2019) stammen, einstmals politischer Gefangener in Erdoğans Reich?
In Zeiten wie diesen, mit siechenden Demokratien und zutiefst gespalteten Gesellschaften in beiden Amerikas, in England und weiten Teilen Europas, da junge Menschen, die niemals Diktatur noch Krieg durchleben mussten, sich äußerst erfolgreich zu rechtsnationalen, neofaschistischen bzw. neonazistischen Horden zusammenrotten, um ebendiese Demokratie gänzlich zu Fall zu bringen, ließe sich der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio (155-235 n. Chr.) zitieren, der angesichts des Todes von Marc Aurel resignierend notierte: „Wie damals die Geschichte der Römer, so steigt jetzt mein Bericht von einer goldenen Herrschaft zu einer Herrschaft aus Eisen und Rost hinab.“ (Hommes, S 17)
Lange ist es her, da nach Jahrhunderten von Eroberungskriegen und endlos scheinenden Bürgerkriegen (88-31 v. Chr.) ein römischer Kaiser zugleich auch Philosoph war und dem „Imperium“ letztmals ein „Goldenes Zeitalter“ bescherte. Rund 30 Jahre ist es nun her, dass nach 40 Jahren kommunistischer Diktatur über weite Teile Europas ein Philosoph tschechoslovakischer Staatspräsident war. Lassen wir uns die Vertrauen zerstörenden Lügen, den widereinander aufstachelnden Hass, die allgemeine Verblendung des Fanatismus sowie die Rechtlosigkeit dieser Diktaturen eine immerwährende Warnung sein. Und arbeiten wir andererseits stets daran, „daß die Menschen sich nicht nur miteinander arrangieren müssen, daß es die Menschen vielmehr auszeichnet, um einanderwillen dazusein. … daß eben deshalb Glück und Erfüllung nur im Miteinander zu finden sind und nicht in irgendeinem Gegeneinander oder wenn der eine auf Kosten der anderen zu leben sucht.“ (Hommes, S 18f.) Denn Demokratie und Gemeinschaft leben seit den Anfängen der Polis aus diesen anthropologischen Grundkonstanten — nicht jedoch aus zerstörerischem Hass und zersetzender Hetze und blindwütigem Fanatismus.