Philosophiestunde
Fortsetzung, II
„Bedingungen für das Philosophieren außer der Muße“, überlegte der Prä. „Eine gewisse Tiefe des Charakters muss gegeben sein, weil sonst das Philosophieren gar nicht erst vor dem eigenen Horizont aufsteigt. Die Dinge oder Verhältnisse müssen als fragwürdig erkannt werden, auch wenn äußerlich oder vordergründig alles geordnet und selbstverständlich erscheint. – Kannst du damit etwas anfangen?“, fragte der Prä. Ich nickte zustimmend mit dem Kopf. Die Thyrsosträger tauchten vor mir auf. Der Prä erkundigte sich, ob Thomas G. und ich weiterhin in Rektor L.s Buch mit klassischen Texten lesen würden.
Ich bejahte.
Ob wir nach seinem Rat knappe Eindrücke schriftlich festhalten und dann zum nächsten Text übergehen würden.
Auch dies bejahte ich.
Der Prä war zufrieden. Wir könnten ihn jederzeit wieder ansprechen, wenn wir Fragen hätten.
Thomas G. berichtete mir, dass der Rektor auf seine Frage nach weiteren Bedingungen für das Philosophieren außer der Muße geantwortet habe, dass Umbruchzeiten eine Rolle spielen würden, wenn sich die Lebensbedingungen verändern und Gewohnheiten in Frage gestellt würden. Dies wirke auf Menschen aufwühlend, herausfordernd, manche würden sich gedrängt fühlen, alles neu zu denken.
„Der Gedanke von L. stellt einen Kontrapunkt zur Muße dar, finde ich“, sagte Thomas G.
„Natürlich“, bestätigte ich, „in der Muße gibt es Behaglichkeit, in aufwühlenden und herausfordernden Umbruchzeiten fehlt die Behaglichkeit.“
„Vielleicht stimmt beides: für die Philosophie ist die Muße ein Nährboden, aber auch die Umbruchzeit. Sie muss nicht direkt im persönlichen Bereich stattfinden, sondern dort nur als Reflex der Gesellschaft empfunden werden. Der Freiraum – die Muße – muss im persönlichen Bereich gegeben sein – dieser Meinung bin ich immer noch – um den Umbruch zu bedenken und darauf zu reagieren.“
Thomas G. sah mich zustimmend an.
„Hier hast du übrigens das Foto vom Rektor für deinen Lehrer“, meinte er, „ich bin mal gespannt, was er sagt und wie das wird.“
Ich betrachtete das Foto. Neben Rektor L. waren noch vier Konviktsschüler zu sehen, aber der Internatsleiter war gut zu erkennen; frontal. Würde Herr Hüter damit zufrieden sein?
„Erzähle niemand von der Sache mit dem Foto. Die halten uns sonst alle für übergeschnappt.“
„Das habe ich mir auch schon überlegt. Wir wissen ja auch gar nicht, was dabei herauskommt.“
Zu Epikur nannte ich die Lebensdaten – 341 bis 270 oder 271 vor Christus – und erwähnte, dass der Philosoph im Jahr 306 vor Christus in Athen eine Philosophenschule in einem Garten gegründet habe. Sein Werk sei nur sehr unvollständig überliefert.
Wir lasen den „Brief an Menoikeus“, er war überschrieben mit „Epikur: Philosophie als Gesundheit der Seele“. Bevor wir mit der Lektüre beginnen konnten, bissen wir uns fest an dieser Überschrift.
„Die Philosophie ist der Sport, der die Seele gesundhält“, witzelte Thomas G.
„Ein gutes Bild“, meinte ich. „Erinnerst du dich, dass wir am Anfang mit dem Rektor darüber gesprochen haben, dass viele Menschen ein oberflächliches Interesse an der Philosophie haben?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Ich glaube, dass dieses Interesse mit der vagen Vorstellung zu tun hat, die Philosophie wirke durch kluge Einsichten beruhigend … dadurch festige sich der innere Zustand. Die Philosophie erscheint dabei als ein Heilsversprechen.“
„So ist es sicherlich bei vielen Thyrsosträgern. Aber die echt Begeisterten – hegen die auch solche vagen Vorstellungen?“
„Die echt Begeisterten denken nicht an den Nutzen, den ihnen die Philosophie bringt, sondern sie beschäftigen sich mit philosophischen Fragen aus einem inneren Drang heraus, den sie sich selbst nicht genau erklären können.“
„Das leuchtet mir ein. So verhält es sich wohl bei jeder Wissenschaft – man folgt einer Neigung und ist dann bereit, die rationalen Inhalte, die zu der gewählten Wissenschaft gehören, zu erlernen.“
„Die Philosophie nimmt in dieser Hinsicht keine Sonderstellung ein.“
„Bestimmt nicht. – Lesen wir im Epikur?“
Wir saßen wieder am Fischbassin. Epikur war unter uns. Als es um neunzehn Uhr fünfundvierzig klingelte zur Vorbereitung auf das Abendgebet in der Kapelle, tauchte überraschend der Rektor bei uns auf. Er hatte mitgekickt auf dem Sandplatz, wir hatten ihn nicht bemerkt. Ganz verschwitzt sah der Rektor aus, mit rotem Kopf. Ich dachte an seinen Vorgänger, der Ende des vorvergangenen Schuljahres das Konvikt verlassen hatte, um eine Pfarrstelle in H. anzutreten, und ein ganz anderer Mann gewesen war; streng und beinahe gravitätisch. Auch Ohrfeigen verteilend bei Schülern der Unterstufe. Dass er sich wie Rektor L. unter die Schüler auf dem Sandplatz gemischt hätte, um den Ball ins Tor zu schießen – eine unmögliche Vorstellung!
„Bei welchem Philosophen seid ihr angelangt?“, fragte Rektor L.
„Bei Epikur“, antwortete Thomas G.
„Habt ihr den ‚Brief an Menoikeus‘ gelesen?“
„Ja“, sagte ich.
Der Rektor wischte sich mit dem rechten Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht.
„Epikur ist ein Philosoph der Gegenwart. In der Gegenwart wollte er sich behaglich fühlen, aber auch unerschütterlich gegenüber Bedrohungen sein, ob sie nun von außen oder von innen, das heißt von ihm selbst kamen. Genießen ohne zu leiden, das hatte er sich zum Maßstab erkoren. Dazu gehörte es, dass er das für sich Zuträgliche genau abmaß, ob es eine Lust und Freude verhieß, ohne spätere Reue befürchten zu müssen.“
„Wenn er die spätere Reue möglichst ausschließen wollte, musste er seinen Blick in die Zukunft richten“, warf ich ein.
„Das stimmt“, gab der Rektor zu, „nur geschieht dieser Blick in die Zukunft im Hinblick auf den Schutz der Gegenwart, die sich Epikur durch keinen Fehler verderben will. Auch seine Überlegungen zu den Göttern und zur Atomistik, mit der er an Demokrit anknüpft, aber mit durchaus eigenen Akzenten – diese Überlegungen dienen letztlich immer seiner Ethik.“
Thomas G. wollte noch etwas sagen, aber der Rektor hieß ihn durch eine Geste zu schweigen und erinnerte an das Abendgebet. In aller Eile müsse er sich ein wenig frisch machen. Damit ging er rasch in Richtung Hauptpforte.
„Weißt du noch, was ich gesagt habe?“, fragte Thomas G.
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte und schaute ihn dementsprechend an.
„Zwischen Tür und Angel wird er sich noch mit uns unterhalten über Philosophie.“
„Die Umstände lassen ihm gerade keine Wahl“, wandte ich ein und zeigte auf meine Armbanduhr.
Nun war es Thomas G., der mir durch ein Achselzucken konzedierte. „Wenn er“ – gemeint war der Rektor – „heute die Ansprache hält, kommt er vielleicht auf Epikur zu sprechen; wir haben ihn auf die Idee gebracht“, fügte er aber noch hinzu.
Vor die versammelte Schülerschaft des Konvikts trat an diesem Abend nicht der Rektor, sondern der Prä. Er sprach über den Kirchenvater Augustinus, sein Leben als Heide, Lebemann und Bischof, und vor allem über die Bedeutung des Satzes „Liebe – und tu, was du willst!“ Der Prä war in seinem Element. Eine Abendansprache mit seiner Begeisterung und seinem Feuer, als er uns Augustinus vorstellte, hatten wir selten gehört. Aber was schreibe ich da? Wir hatten eine solche Abendanasprache nicht mehr vorher und nicht mehr nachher erlebt.
An diesem Abend spürte ich die Versuchung, in mein Notizbuch etwas über Augustinus zu schreiben. Und über das Feuer des Prä bei seiner Ansprache. Ich erinnerte mich aber an die Worte des Prä, die er Thomas G. und mir mitgegeben hatte: auf dem Weg zu bleiben und uns nicht zu verzetteln. Deswegen notierte ich am Ende nur etwas über Epikur:
- Was meint Rektor L., wenn er sagt, Epikur folge in seiner Atomistik dem Demokrit, setze aber eigene Akzente! Welche sind das?
- Der Tod geht uns nichts an, sagt Epikur. Solange wir sind, ist der Tod nicht. Wenn der Tod ist, sind wir nicht mehr. – Wir haben aber den Tod vor Augen. In meiner Grundschulzeit ist ein Klassenkamerad verstorben an Verbrennungen, die er erlitten hat. Meinem Opa geht es immer schlechter. Früher war er ein starker Mann, heißt es, und konnte es mit zwei Kerlen zugleich aufnehmen. Wie kann Epikur behaupten, dass uns der Tod nichts anginge?
- Selbstbeherrschung zu üben und nicht jeder Gier zu folgen, kann ich das von Epikur in meinen Alltag mitnehmen?
Im Gedränge des breiten Erdgeschossgangs der Schule fand mich Herr Hüter mit Leichtigkeit. Oder fand ich ihn? Ich erwartete, dass mich der Lehrer zu irgendeiner halbwegs stillen Ecke lotsen würde, aber er sprach sofort von Rektor Otto L. Meinen irritierten Blick, dass mitgehört werden könne, zerstreute er lächelnd durch eine kurze Geste.
„Im frühen Jugendalter hat Otto L. eine traumatische Erfahrung machen müssen. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich meine, dass dieses Erlebnis prägend für ihn blieb.“
Damit nickte mir der Lehrer kurz zu und verschwand in der Masse der hin- und herwogenden Schulgemeinschaft. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich noch zwei Schulstunden hätte und dann auch ungefähr eine halbe Stunde für den Rückweg ins Konvikt bräuchte. Würde ich Thomas G. nichts mitteilen können vom Wort Herrn Hüters über Rektor L.? Aber als ob Herr Hüter meine Bedenken auf unbegreifliche Weise registriert hätte – obgleich ich sie nur gedacht hatte und wir auch nicht mehr beieinanderstanden – spürte ich wieder die beruhigende Geste, die er mir vorhin hatte zukommen lassen ob meiner Zweifel, dass wir belauscht werden könnten.
Es klingelte zum Pausenende, ich ging in den Unterricht.
Meine Ahnung bestätigte sich: als ich nach dem Mittagessen mit Thomas G. auf das Freigelände des Konvikts trat, hatte ich noch alles präsent, was mir Herr Hüter über Otto L. berichtet hatte. Die halbe Stunde Erinnerungs- und Redezeit begann, als wir die Hauptpforte nach draußen betraten, vermutete ich. Auch dies sollte sich bestätigen. Wir liefen um das gesamte Konvikt herum und unterhielten uns. Niemand rief uns an und suchte das Gespräch mit uns. Wir waren ganz unter uns, obgleich das Freigelände, wie immer bei passender Witterung, ziemlich bevölkert war.
„Ein traumatisches Erlebnis im frühen Jugendalter – was könnte das gewesen sein?“, fragte Thomas G.
„Vielleicht sind seine Eltern gestorben, oder ein Elternteil“, mutmaßte ich. Dabei dachte ich auch an mich selbst. Meine Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben. Eine Katastrophe mit Fortsetzungscharakter. Thomas G. wusste nichts davon. Niemand im Konvikt außer die Erzieher, weil es bestimmt in meiner Schülerakte stand. Aber niemand der Erzieher sprach mich darauf an.
„Ja, oder irgendein anderes Unglück.“
„Meinst du, das Ereignis steht im Zusammenhang damit, dass der Rektor – ich will mal sagen – manchmal eigenartig ist?“
„Vielleicht. Möglich wäre es ja.“
„Eigentlich wissen wir nichts.“
„Nein, nicht wirklich.“
„Vielleicht sollten wir nicht mehr den Kopf über ihn schütteln.“
„Das finde ich auch. Aber wenn der Hüter recht hat – und ich glaube, er hat recht – vergessen wir ja bald alles wieder … wissen nichts mehr davon.“
„Du meinst, es hat keinen Sinn, sich etwas vorzunehmen?“
„Genau.“
„Kurios.“
Schweigend liefen wir nebeneinander her. Eine Weile blieb es so: Niemand rief uns an und suchte das Gespräch mit uns. Wir waren ganz unter uns.
Schließlich schauten wir uns an. Was wollten wir hier, auf dem Freigelände des Konvikts? Vielleicht über den nächsten Philosophen sprechen? Wer war überhaupt dran, ihn vorzustellen?
„Du bist dran“, sagte ich zu Thomas G., „ich habe Epikur vorgestellt.“
„Ja, klar, die Stoa!“, griff sich Thomas G. an den Kopf, „aber ich würde mir das gerne noch einmal ansehen … ein umfangreiches Thema.“
Wir waren bei unserem Rundgang beim Sandplatz angelangt und warfen einen Blick auf die Fußballspieler. Rektor L. kickte wieder mit. Er wurde gefoult und landete der Länge nach im Sand. Ein wenig erbost ging er den unfairen Konviktsschüler an. Der steckte sofort zurück und entschuldigte sich. Dann lief das Spiel weiter. Einen Schiedsrichter gab es nicht.
„Kannst du dir G.“ – den bereits erwähnten Vorgänger Otto L.s als Rektor – „vorstellen, dass er hier mitgekickt hätte?“, fragte Thomas G.
„Das habe ich mir auch schon gedacht“, antwortete ich.
„L. ist eine besondere Type.“
„Ja“, lachte ich.
Für die Abendfreizeit des nächsten Tages verabredete ich mich mit Thomas G. wieder auf dem Freigelände.
„Laufen wir herum“, meinte er, „das haben nämlich nicht nur Aristoteles und seine Schüler getan, sondern auch die Stoiker. Der Peripatos war eine Säulenhalle, in der es sich gut auf- und abgehen ließ. Entsprechend nannte man die Aristoteliker und Stoiker die Peripatetiker.“
„Herumzulaufen ist gar nicht so schlecht. Für manche Fächer oder Unterrichtsstunden in der Schule würde es sich bestimmt auch eignen. Den ganzen Vormittag im Klassenraum zu sitzen, ist nicht gut.“
„Mit Sicherheit nicht. Aber ich fange an – okay?“
„Ja, leg los!“
„Hey, ihr beiden!“, rief Karlheinz V. und lief auf uns zu, „philosophiert ihr wieder?“
„Erraten, V.“, antwortete Thomas G., „was willst du?“
„Vielleicht ein bisschen zuhören, wenn’s erlaubt ist?“
Thomas G. und ich schauten uns an. Sollten wir Karlheinz V. die Teilnahme an unserem Gespräch erlauben?
„Du warst doch auch dabei, als der Rektor fragte, wer mitmachen wolle bei einem kleinen abendlichen Kurs in antiker Philosophie, oder?“
„Ja, ich war auch dabei, aber da wollte ich dann doch nicht. Aber Interesse habe ich eigentlich schon. Was ist denn mit dem Kurs? Läuft er?“
„Der Kurs sind wir beide, Jeannot C. und ich“, antwortete Thomas G., „der Rektor gibt uns ab und zu Erläuterungen, einmal auch der Prä. Aber ich denke, zum Prä könnten wir immer gehen.“
Ich nickte zustimmend mit dem Kopf: „Hat er ja gesagt.“
„Aha … na ja“, sagte Karlheinz V. „Und heute – was ist heute das Thema?“
Thomas G. blickte mich an:
„Soll er nun dabei sein oder nicht?“
„Meinetwegen“, antwortete ich.
„Also, dann setzen wir uns mal wieder in Bewegung“, forderte uns Thomas G. auf. „Es geht heute um die Stoa. Die Stoiker sind wie die Aristoteliker mit ihrem berühmten Lehrer in Säulengängen hin- und hergewandelt. Das machen wir jetzt auch; nur eben ums Konvikt herum, nicht in einem Peripatos.“
„Wir wandeln!“, bemerkte Karlheinz V. ironisch.
„Viele Jahrhunderte hat die Stoa in der antiken Welt gewirkt, mit immer neuen Denkern und immer neuen Ansätzen. Es gibt eine ältere, mittlere und jüngere Stoa. Die Griechen Zenon und Chrysippos stehen für die ältere Stoa, Panaitios und Poseidonios für die mittlere, und Seneca, Epiktet und Marc Aurel für die jüngere Stoa.
„Seneca, Epiktet und Marc Aurel – lauter Römer“, bemerkte Karlheinz V.
„Richtig. Die Stoa ist griechischen Ursprungs, Panaitios und Poseidonios wanderten nach Rom aus. Die jüngere Stoa ist ganz eine römische Angelegenheit.“
„Hat der Umstand auch eine philosophische Bedeutung?“
Thomas G. stockte mit seiner Antwort. Ich sprang ihm bei:
„Das können wir vielleicht den Prä fragen?“
„Ja, gute Idee“, meinte Thomas G.
Karlheinz V. sagte:
„Müsste man nicht viel mehr wissen über diese Namen und Hintergründe?“
„Der Prä hat uns einen Weg aufgezeigt, darauf bleiben wir“, entgegnete ich.
„Welchen Weg?“
„Dass wir fürs erste die Textauszüge des Buches von L. lesen, darüber sprechen und uns anschließend, jeder für sich, ein paar Notizen aufschreiben“, erklärte ich.
„Aha“, meinte Karlheinz V., „na bitte, ich will euch nicht reinreden.“
„Ja“, bekräftigte Thomas G.
Die Lektüre der kurzen Textauszüge trug die Überschrift: „Stoa: Philosophie als Kunst der Lebensführung“ und war nicht näher bezeichnet nach einem Verfasser oder der Epoche, in der die Texte entstanden waren. Tugend, Logos und der Weise, der alle äußeren und inneren Anfechtungen siegreich bestehen kann, waren Schlüsselwörter. Der Weise „hat die Apathie“, bleibt frei „von allen Leidenschaften“. In jedem noch so widerstreitenden Schicksal sieht er das Walten des göttlichen Logos, sieht er unentrinnbare naturgesetzliche Vorgänge und fügt sich klaglos drein.
„Das Ideal des Philosophen, der durch seine Vernunft über alle Leidenschaften und jede Irrationalität des Lebens siegt“, bemerkte Thomas G.
„Er siegt über die Irrationalität, indem er sie leugnet“, fügte ich hinzu, „denn wenn alles vorherbestimmt ist, gibt es keine Sinnlosigkeit.“
„Es ist merkwürdig“, überlegte Thomas G., „die Stoiker fügen sich in die Götter und die Gesetze, in das Schicksal und die Pflichten, trotzdem oder gerade deshalb betrachten sie sich als vollkommen selbstbestimmt. Nichts geschieht ihnen, das nicht von ihrem eigenen Willen herbeigeführt worden wäre.“
„Sie tun nichts, was sie nicht wollen“, sagte Karlheinz V.
„Zumindest reden sie sich das ein.“
„Du meinst: eine Philosophie, die in Wahrheit eine Selbstsuggestion darstellt?“
„In Teilen schon – ja, diese Vermutung habe ich.“
Nach der Zusammenfassung der Textauszüge äußerten wir weitere Zweifel, etwa über die Aussage, dass der Weise die vollkommene Beurteilungsgabe besäße und deshalb „in allem richtig“ handle.
„‘Die letzten Lebensziele‘ hat er intus“, bemerkte wieder Karlheinz V., „aber wird wirklich deutlich, worin die ‚letzten Lebensziele‘ bestehen?“
„Na ja“, sagte ich, „vielleicht in der Erringung der Tugend, wodurch sich der Weise“ – ich schaute ins Buch und zitierte – „‘die Glückseligkeit in jeder Lebenslage sichert‘, selbst wenn er“ – noch einmal der Blick ins Buch – „‘im Stier des Phalaris lebendig geröstet wird‘ … Was heißt das? Kennt jemand den ‚Stier des Phalaris‘“?
Niemand wusste es.
„Das müssen wir auch den Prä fragen“, sagte Thomas G.
„Ja, aber wo ist er?“, fragte ich.
„Vielleicht oben in seiner kleinen Wohnung?“
„Geh‘n wir mal gucken!“
Als wir den Westflügel des Konvikts betraten, wo sich die kleine Wohnung des Prä befand, trat er gerade aus der Tür heraus, schaute uns an und begriff sofort, dass wir ihn sprechen wollten.
„Kommt ihr in Sachen Philosophie zu mir?“
„Ja, wenn Sie einen kurzen Augenblick Zeit hätten.“
„Mag’s auch ein längerer Augenblick sein. Was treibt euch um?“
„Wir sind gerade mit der Stoa beschäftigt.“
„Ja?“, meinte der Prä interessiert.
„Von der älteren Stoa über die mittlere zur jüngeren … da gab es eine Bewegung von Griechenland nach Rom …“
„Richtig.“
„Karlheinz V. hat gefragt, ob der Umstand auch eine tiefere philosophische Bedeutung hat.“
„Eine kluge Frage!“, sagte der Prä und schaute Karlheinz V. an:
„Seid ihr vom Philosophen-Duo zum Trio geworden?“
„Mal gucken“, antwortete Karlheinz V.
„Was deine Frage betrifft: nach meiner Überzeugung gibt es eine tiefere philosophische Bedeutung der Wanderung der Stoa von Griechenland nach Rom. Die philosophisch Begabteren waren zweifellos die Griechen. Das haben die Römer auch anerkannt, indem sie sich der griechischen Kultur unterwarfen. Sie wollten so viel mitnehmen von den Griechen wie sie konnten, die griechische Nobilität sprach und schrieb griechisch, ein griechischer Hauslehrer für ihre Kinder galt als eine Art Statussymbol.“
„Wie bei uns im achtzehnten Jahrhundert der Adel Französisch gesprochen hat“, warf ich ein.
„Ja, Friedrich der Große sprach und schrieb bei Hofe nur Französisch, das Deutsche verachtete er als Bauernsprache. Die Werke des jungen Goethe, des jungen Schiller nahm er nicht zur Kenntnis.“
„Weil in der Bauernsprache geschrieben?“, warf Karlheinz V. ein.
„Richtig“, bestätigte der Prä. „Immer wieder lässt sich beobachten, dass Sprache als Mittel benutzt wird, sich von der Masse zu unterscheiden und sich den Ausweis des Fortschrittlichen und Besonderen zu geben. Denkt an mein Wort, wenn ihr im Alter seid, in dem ich heute bin.“
Wir nickten mit den Köpfen, hielten es aber letztlich für unvorstellbar, jemals in Präs Alter zu sein. Er war damals 65 Jahre alt. Heute bin ich 65 Jahre alt. Sprache wird derzeit wieder benutzt, um sich „von der Masse zu unterscheiden und sich den Ausweis des Fortschrittlichen und Besonderen zu geben.“ Zeitgemäß nennen die Verfechter ihre Sprachdrehungen, und dass sie auf natürlichem Wandel beruhen würden. Merkwürdig bleibt es dabei, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Sprachdrehungen ablehnt, weshalb die Verfechter sich davor hüten, einer demokratischen Abstimmung über die Sprachdrehungen zuzustimmen. Außerdem reden sich die Verfechter der Sprachdrehungen ein, sie würden Menschen inkludieren, die vorher, beim alten Sprachgebrauch, exkludiert worden seien. Dass jedoch Menschen, die Deutsch als Fremdsprache erlernen, oder Menschen, die eine Lernschwäche besitzen, von den Sprachdrehungen in ihrer sozialen Teilhabe behindert werden, erweckt ihnen keine Skrupel.
„Doch zurück zu eurer Ausgangsfrage“, sagte der Prä: „Eine Verflachung des Denkens unter römischem Einfluss kann in der Stoa gewiss festgestellt werden, vielleicht weil es den Römern im Gegensatz zu den Griechen an philosophischer Begabung gebrach. Jedenfalls verengten sich die Themen aufs Nützliche, der große Atem, die Schönheit griechischen Denkens verflogen.“
„Dann wollten wir noch wissen: was ist mit ‚Stier des Phalaris‘ gemeint?“
„Ein Folter- und Hinrichtungsinstrument. Phalaris war im sechsten vorchristlichen Jahrhundert Tyrann von Akragas, womit das heutige Agrigent auf Sizilien gemeint ist. Den Künstler Perilaos beauftragte er mit dem Bau eines bronzenen Stieres. Ins Innere des Tieres konnte ein Mensch verfrachtet werden, der dann durch ein Feuer unterhalb des Stiers langsam geröstet wurde. Die Schmerzensschreie des Delinquenten klangen wie das Brüllen eines Stieres. Als erstes Opfer suchte Phalaris den Schöpfer des bronzenen Stieres selbst aus.“
„Perilaos?“
Der Prä nickte mit dem Kopf.
„Habt ihr vom ‚Stier des Phalaris‘ im Zusammenhang mit der Stoa gelesen?“
„Ja“, antwortete ich, „es heißt nämlich, dass“ – ich schlug das Buch des Rektors auf, blätterte kurz darin und las vor: „In der Tugend hat der Weise den unverlierbaren Besitz, der ihm die Glückseligkeit in jeder Lebenslage sichert. Glückselig bleibt er, auch wenn er im Stier des Phalaris lebendig geröstet wird.“
„Halten Sie das für glaubhaft, Herr Präfekt?“, fragte Thomas G.
„Nein, das halte ich nicht für glaubhaft“, antwortete der Prä, „zwar gehe ich davon aus, dass Menschen bis zu einem gewissen Grad trainieren können, Schmerz zu ertragen – die buddhistischen Shaolin-Mönche in China bringen es darin erstaunlich weit – aber bei einem bestimmten Grad wird nach meiner Überzeugung jeder Mensch vom Schmerz überwältigt … Heute Vormittag saß ich beim Zahnarzt und musste eine Wurzelkanalbehandlung über mich ergehen lassen; trotz einer Betäubung, die nach dem Wort des Zahnarztes ‚nicht von schlechten Eltern‘ war, zuckte ich mehrmals unwillkürlich auf. Es braucht also gar nicht den ‚Stier des Phalaris‘, um sich von der Schwäche der menschlichen Natur zu überzeugen.“
Wir bedankten uns für die Auskünfte. Der Prä fragte nach dem nächsten Philosophen, den wir lesen würden – Cicero – und äußerte die Vermutung, dass wir nun unsere kurzen Überlegungen zur Stoa notieren würden. Das bestätigten wir, und so geschah es.
- „Nicht mehr mit gieriger Hoffnung Grenzenloses umspannen“ – ein tröstliches Wort.
- Schafft sich jeder Mensch durch sein Wesen sein Geschick? Gibt es hier nur Unentrinnbarkeit? Kann ich ‚mein Wesen‘ nicht wenigstens teilweise verändern?
- Von keinem Glück oder Unglück mehr getroffen zu werden – lautet so die stoische Formel für ein weises Leben?
Die Notizen, die sich Thomas G. gemacht hat, habe ich nur selten erfahren. Manchmal nur ausschnittweise, manchmal nur indirekt, indem ich durch sein Insistieren auf einen bestimmten Punkt darauf schließen konnte. Umgekehrt war es bei ihm ebenso. Es traf sich dies ohne Absprache, und dabei blieb es vorerst: Wir trugen uns unsere Notizen und Gedanken nicht gegenseitig vor. Stattdessen waren wir vollständig damit beschäftigt, die Texte aus dem Buch des Rektors gemeinsam zu besprechen.