Phantasie, Organisation und ganz großes Kino


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Phantasie, Organisation und ganz großes Kino

B-E-G. Ganze drei Buchstaben, an der richtigen Stelle eingefügt, machen aus einem Reiseleiter einen Reisebegleiter. Zum Ausgleich für die drei Mehrbuchstaben gibt’s etwas weniger Geld und – theoretisch – auch weniger Stress, weil sich um die ganzen inhaltlichen Fragen der Reiseleiter vor Ort kümmert und man selbst nur für das organisatorische Drumherum zuständig ist.

An etlichen Orten darf man außerdem als auswärtiger Reiseleiter gar keine Führung machen, wenn man keine Zulassung des örtlichen Tourismusbüros besitzt. Ich weiß, was die so kosten, und kann verstehen, dass diejenigen, die dafür gezahlt haben, darauf achten, dass ihnen kein dahergelaufener Reiseleiter ins Handwerk (und ins Geschäft) pfuscht, möge er sich so gut auskennen, wie er will.

In der Praxis macht es sich ganz gut, wenn der Reiseleiter vorneweg marschiert, mit Fähnchen oder was auch immer in der Hand, und der Reisebegleiter als Hirtenhund von hinten die Herde vor sich hertreibt und sie zusammenhält. An den ersten beiden Tagen, wenn man noch nicht alle Gesichter kennt, kann es schon passieren, dass man wildfremde Menschen zur Gruppe scheucht, die einen dann verständnislos ansehen. Bei Exkursionen wie dem Aufstieg auf den Vesuv ist dann Feingefühl gefragt: Schafft die entsprechende Person mit einer ordentlichen Packung Motivation den Weg nach ganz oben oder sollte man ihr lieber raten, zurückzugehen und unten im Schatten bei einem Glas kühler Limonade auf die Rückkehr der Gruppe zu warten.

In Süditalien hatte ich Antonio als Reiseleiter, ein Meter sechzig geballte Energie. Er kennt jeden und jeder kennt ihn. Wir mussten kurzfristig ein anderes Hotel beziehen, das hatte zwar einen Stern mehr als das ursprünglich geplante – nur lag es eben nicht an der Küste wie versprochen, sondern im Landesinneren und außerdem, wie ein Grundstücksmakler sagen würde, äußerst verkehrsgünstig, also zwischen einer Autobahn, einer Schnellstraße und einem Gewerbegebiet. So eine Umbuchung kann passieren, wenn es in dem ursprünglichen Hotel eine Havarie gibt oder es sich überbucht hat. Nicht schön, aber auch kein Weltuntergang. Das kann passieren.

Unmut gab es trotzdem, daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Gäste als Draufgabe den Wein zum Abendessen gratis bekamen, und der Unmut steigerte sich beim ersten Frühstück beinahe zur Revolte. Das Hotel war auf Geschäftsreisende eingerichtet, die trinken morgens ihren Espresso und essen ein Cornetto oder ein Stück Kuchen dazu und gut – aber eine deutsche Reisegruppe lässt in diesem Punkt nicht mit sich diskutieren. Also ist Antonio nicht wie sonst üblich abends nach Hause gefahren, sondern über Nacht bei der Gruppe geblieben, damit er frühmorgens eine Viertelstunde vor dem ausgemachten Zeitpunkt für das Frühstück im Speiseraum sein und die Mädels vom Service scheuchen und – ganz wichtig – loben konnte.

Faszinierend, wie Antonio im Bus ohne Pause über Landschaft und Geschichte Süditaliens erzählen konnte und gleichzeitig mit seinen diversen Handys das Mittagessen für den Tag organisierte, für das Abendessen im Hotel zwei verschiedene Hauptgerichte zur Wahl orderte, kommende Touren managte – und dazwischen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern sprach.

Auf das Essen legte Antonio großen Wert (und auch ich werde regelmäßig über das Essen schreiben – das ist schließlich ein Grund, warum das Leben als Reiseleiter so einen Spaß macht: man futtert sich um die Welt). Er kannte überall Gaststätten, in denen diejenigen, die es wollten, ein gutes und bezahlbares Touristenmenü bekamen – das waren immer fast alle. Wie wichtig ihm das Thema war, spürte man, als wir einer Mozzarella-Käserei besuchten und er uns einen langen Vortrag hielt, dass das, was man bei uns im Kühlregal angeboten bekommt, mit Mozzarella herzlich wenig zu tun hat – eine Einschätzung, der spätestens nach der Verkostung alle lebhaft zustimmten. In Anacapri riet er den Gästen, sie könnten anstelle des Touristenmenüs auch gern in einer der vielen anderen Gaststätten à la carte essen, „aber, bitte, essen sie auf Capri keine Pizza! Aus Brandschutzgründen dürfen die Gaststätten hier keine Holzöfen betreiben, die fertigen Pizze werden im Elektroofen aufgewärmt!“ – nach Antonios fester Überzeugung ist so eine Pizza schlicht ungenießbar.

Eine schöne Charakterisierung der Süditaliener hat Antonio parat gehabt, wenn etwas nicht so lief wie vorgesehen: „Meine lieben Landsleute… wunderbar viel Phantasie – aber keine Organisation!“

Die Phantasie kam auf einer anderen Tour ebenfalls auf ihre Kosten. Ein Tagesausflug vom Gardasee nach Venedig mit einem einheimischen Guide. Ein kleines, agiles Männlein mit Glatze („mein Künstlername ist Kojak!“), gelber Mütze und kurzen Hosen, der auf der Hinfahrt die Gäste mit haarsträubenden Geschichten über seine 14 Kinder (oder waren es 16?) oder die Erfindung des Panettone zum Kringeln brachte. 70 Jahre alt sah er aus wie Ende 50 und hatte die Gäste nach kurzer Zeit um den Finger gewickelt. Umso erstaunlicher, dass er auf der Rückfahrt ganz sachlich über Italien erzählte, über Sozial- und Rentensystem, die Bürokratie oder die verschiedenen Mafiagruppierungen. Sachlich, ohne Spott oder das Bemühen, bestehende Vorurteile zu bedienen. Und selbst die, die sonst gern schimpfen, der Reiseleiter vorne solle nicht ununterbrochen plappern (andere wiederum beklagen sich, wenn man zu wenig erzählt – man kann es nicht allen recht machen…), hörten interessiert zu. Aber Kojaks großer Auftritt sollte noch kommen, das wusste er selbst allerdings noch nicht.

Unser Hotel oberhalb des Ortes war nur über eine Serpentinenstraße zu erreichen. Eine der Spitzkehren schaffte unser 13-Meter-Bus nicht in einem Zug, er musste rangieren. Und just hinter dieser Kurve kam uns ein weißer, ziemlich neuer BMW entgegen, aneinander vorbei hätten die beiden Gefährte nicht gepasst. Der BMW hielt an und nachdem er mehrfach (erfolglos) die Lichthupe ausprobiert hatte, entstieg ihm auf der Fahrerseite eine jüngere, sehr elegante und sehr energische Dame mit wehenden schwarzen Haaren, die uns deutliche Zeichen gab, wir sollten zurücksetzen.

Kojak stieg aus und die sich anschließende Unterhaltung verlief wie folgt, wobei das, was ich nicht verstanden habe, durch meine Phantasie aufgefüllt wird.

Sie: „Setzt Ihr nun gefälligst mal zurück?“

Kojak: „Warum sollten wir?“

„Damit ich vorbei kann!“

„Wenn Sie zurücksetzen, dann können wir vorbei!“

„Das fehlte noch. Außerdem steht es in den Verkehrsregeln, dass der, der von unten kommt, zurücksetzen muss.“

„Ich weiß nicht, von wann Ihre Verkehrsregeln sind, in meinen steht das genau andersherum!“

„Das interessiert mich nicht, in meinen steht es so, außerdem rollt es sich bergab rückwärts leichter als bergauf.“

„Aber rückwärts kann der Busfahrer nicht um die nächste Spitzkehre rangieren.“

„Interessiert mich nicht. Der soll sich nicht so anstellen. Also, was ist nun?“

„Sie steigen ein und fahren nach oben zurück, ganz einfach!“

„Auf keinen Fall. Von Höflichkeit haben Sie wohl noch nichts gehört?“

„Ach, ich habe so viele Frauen zuhause, da bleibt für außerhalb nichts übrig!“

„Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Und außerdem: Touristen!!“

„Wir haben Zeit. Viel Zeit. Zur Not lasse ich die Reisegäste aussteigen und zu Fuß zum Hotel gehen, damit sie rechtzeitig zum Abendessen kommen.“

„Das wird ja immer schöner. Ich werde die Polizei rufen!“

„Machen sie das. Oder noch besser: Wir lassen die beiden Autos gegeneinander fahren, dann kommt die Polizei sofort und kann uns sagen, wessen Verkehrsregeln die richtigen sind. Aber schauen sie trotzdem mal kurz auf die Größe der beiden Kontrahenten und überlegen sie, wie viele Pferdestärken in dieser Größe stecken könnten…“

Eisiges Schweigen, etwa eine Minute lang. Das Gesicht der Frau war zornesrot angelaufen, ein aparter Kontrast zum Schwarz ihrer Haare und dem makellosen Schneeweiß des BMW.

„Ich verfluche Dich. Dich und Deine Kinder und Deine Kindeskinder. Und Deine Mamma auch.“

„Ich werde es ihnen ausrichten.“

Im Kavaliersstart schoss der BMW rückwärts den Berg hinauf und machte den Weg frei. Kojak stieg ein, nahm den Hut ab, verbeugte sich und nahm den verdienten Beifall entgegen. Im Vorbeifahren schenkte uns die Frau einen Blick, mit dem man Hähnchen hätte grillen können.

Großes Kino. Ganz großes italienisches Kino. Visconti, Fellini. Die junge Sophia Loren gegen einen ältlichen, aber immer noch sehr agilen Adriano Celentano. Manchmal bekommen die Gäste etwas geboten, was sich so schön kein Reiseplan ausdenken kann.

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