Otto Lause – Fortsetzung


Otto Lause

Erzählung, zweite Folge

 

„Wir können uns auch in den Stadtpark setzen.“

„Ein guter Vorschlag“, nickte er.

Es waren vielleicht hundert Meter bis zum Stadtpark, der auf zwei Ebenen angelegt ist, einer unteren und einer oberen. Auf der unteren, kleineren Ebene hört man den Straßenverkehr ziemlich stark, wir entschlossen uns daher, noch ein paar Schritte zu gehen, eine kleine Anhöhe und ein paar Stufen zu meistern. Ich nahm Otto Lause am Arm und stützte ihn.

Wie war er hier nach B. gelangt?, fragte ich mich. Mit dem Auto? Mit dem Zug? Im Konvikt hatte ich ihn nie Auto fahren gesehen. Und warum war er hierher gekommen, wenn er das ehemalige Konvikt nicht sehen wollte? Hatte er noch andere Verbindungen nach B. als das Konvikt, wo er vor vierzig Jahren einmal gearbeitet hatte?

Wir setzten uns auf eine Bank, sobald wir nur die obere Ebene des Stadtparks erreicht hatten. Vor uns lag eine von einem ovalen Rundweg umschlossene Grasfläche mit drei verstreut montierten Spielgeräten für Kinder, ein kleines Klettergerüst, eine Drehscheibe und eine Schaukel. Über eine niedrige Mauer erstreckten sich Weinberge, auf deren Höhe ein säulengeschmücktes Ausflugshäuschen steht. Otto Lause nahm es in Augenschein und schien nachzudenken, dann sagte er zu mir:

„Der Name dieses Häuschens ist mir entfallen. Wissen Sie wohl noch, wie es heißt?“

„Kirchberghäuschen“, antwortete ich.

„Ach ja, Kirchberghäuschen!“, entgegnete er und fügte hinzu:

„Ich kenne nur noch die Bedeutung der Fahne. Wenn sie aufgezogen ist und weithin sichtbar im Wind weht, heißt das, dass die Gäste dort oben bewirtet werden.“

„Richtig, das haben Sie sich gut gemerkt!“

„Nun ja …“

Ich wollte schon ansetzen und ihn fragen, was ihn nach B. verschlagen habe, als er seinerseits das Wort ergriff:

„Ich hatte Sie gefragt, ob Sie Ihre damalige Begabung in Deutsch beruflich genutzt haben.“

„Ja“, nickte ich, „ich bin Lehrer geworden für Deutsch, Geschichte und Philosophie.“

„Ah ja! Philosophie haben Sie auch studiert …“

„Ja, wie Sie, Herr Lause“, sagte ich.

„Sie wissen, was ich studiert habe?“

„Anglistik, Philosophie und Pädagogik“, antwortete ich.

„Jetzt bin ich aber verblüfft!“, meinte er.

Ich lachte.

„Das lässt sich leicht erklären. Sie saßen einmal mit einigen Konviktsschülern, unter denen auch ich mich befand, auf der Treppe zur Hauptpforte und erzählten uns von Ihrer Vergangenheit.“

„Aha, das ist der Grund!“, sagte er. Das haben nun aber Siesich gut gemerkt! Ich will gar nicht wissen, was ich damals noch von mir erzählt habe und was Sie sich davon noch behalten haben… – Mich interessiert etwas Grundsätzliches. Dürfte ich Sie das wohl fragen?“

„Selbstverständlich, Herr Lause!“

„Was haben Sie gelernt vom Leben? Können Sie das in Worte fassen?“

Wahrhaftig!, dachte ich, da ist er wieder, der alte Otto Lause! Gebrechlich geworden und etwas heruntergekommen, aber nach wie vor rührt er an das Wesentliche. Würde ich diesmal in der Lage sein, seinen Ansprüchen zu genügen?

„Eine schwierige Frage“, begann ich, „aber ich will versuchen, sie zu beantworten.“

Er nickte kurz.

„Wollen Sie nicht eine Zigarre rauchen?“, fragte ich.

„Wenn Sie gestatten – mit dem größten Vergnügen!“

„Aber natürlich!“

Otto Lause holte eine Zigarre hervor, roch daran, stieß mit einem Streichholz ein Saugloch hinein, blickte kurz fragend zu mir, befeuchtete mit den Lippen das Mundstück und entzündete sich das Rauchwerk genussvoll.

Ich sammelte mich und begann:

„Wir sind hier in B., dem Ort meiner Jugend, wo ich neben vielem Unsinn, der sicherlich auch Ihre Nerven strapaziert hat, voller Wagemut in die Zukunft sah. Mittlerweile führe ich aber eine ganz durchschnittliche Existenz und müsste dem Jugendlichen, der ich hier einst gewesen bin, als bald dreiundfünfzigjähriger Mann mit Verlegenheit gegenüber treten.“

„Immerhin gibt es doch gewisse Kontinuitäten, wie mir scheint“, wandte er ein und fügte hinzu: „Dreiundfünfzig Jahre sind ein gutes Alter, glauben Sie mir; ich erinnere mich noch gut daran.“

„Ich will auch kein Klagelied anstimmen“, beeilte ich mich zu sagen. Dann überlegte ich einen kurzen Moment, bevor ich weiter sprach:

„Die Erfahrung der Vergänglichkeit macht ein junger Mensch auf eine ganz andere Weise als ein älterer. Dem jungen Menschen ist die Vergänglichkeit ins Licht hoffnungsvoller Erwartung gerückt, so dass er die Flucht der Zeit als angenehm empfindet und sich höchstens wünscht, noch rascher dem Erwachsenwerden zuzueilen; für den älteren Menschen stellen sich mehr und mehr Fragen ein, die einer zuweilen peinlichen Selbstprüfung gleichkommen.“

Er sah mir anerkennend in die Augen, meinte dann aber:

„Was Sie beschrieben haben, ist eine allgemeine Erfahrung, die so gut wie jeder Mensch in seinem Leben macht.“

„Die Frage muss lauten“, erwiderte ich, „welche Haltung zur allgemeinen Erfahrung der Vergänglichkeit angemessen und geboten erscheint. Ich gestehe hierbei eine gewisse Unsicherheit ein.“

„Versuchen Sie’s!“, ermunterte er mich. „Versuchen Sie eine Antwort zu geben!“

„Die Selbstgewissheit meiner Jugendzeit, dieses unbestimmt-stürmische, zuweilen auch melancholische Lebensgefühl, verleiht die Natur sozusagen als Startenergie, aber es wäre wohl lächerlich, wollte ich diesen Zustand auch heute noch konservieren.“

„Ich stimme Ihnen zu“, meinte Otto Lause und sog wieder an der Zigarre. „Aber sollte dieser Zustand, der nicht selten voller Idealismus steckt, später einfach über Bord geworfen werden?“

„Nein, das wäre Verrat“, antwortete ich.

Otto Lause nickte zustimmend und fragte dann:

„Könnten Sie dem Jugendlichen, der Sie hier im B.er Konvikt gewesen sind, nicht auch mit einer gewissen Nachsicht begegnen?“

„Sicherlich!“

„Worauf bezöge sich diese Nachsicht?“

„Darauf dass ich mir heute zumindest einbilde, mehr vom Leben zu verstehen, als damals.“

„Sie machen mich neugierig!“, entgegnete Otto Lause.

Ich lachte:

„Nun ja, ich könnte auch sagen, ich verstehe immer weniger vom Leben, oder anders gesagt: ich begreife unsere Existenz als ein immer größeres Geheimnis, das mit gängigen menschlichen Maßstäben anscheinend nicht zu fassen ist.“

Während ich noch redete, bemerkte ich, dass Otto Lause ein Gähnen zu unterdrücken versuchte.

„Sie sind gewiss müde“, sagte ich sogleich.

Er winkte ab, aber ein charakteristisches Augenzwinkern und die dazugehörige Atembewegung zeigten mir, dass er wahrhaftig ruhebedürftig war. Jetzt wagte ich die Frage nach seinen unmittelbaren Verhältnissen:

„Haben Sie hier in B. eine Bleibe?“

„Nein“, antwortete er kurz.

Ich begriff, er war hierher gekommen aus einem mir unbekannten Grund. Nun  schien schon die Nachmittagssonne. Eine womöglich lange Heimfahrt – mit dem Auto? mit dem Zug? – konnte er kaum noch unternehmen. Da hatte ich eine Idee:

„Darf ich Sie zum P.hof begleiten? Dort wird ein Zimmer für Sie gemietet mit Vollpension, sagen wir – und nun sprach ich aufs Geradewohl! – für eine Woche, dann komme ich, wenn es Ihnen recht ist, morgen vielleicht am frühen Nachmittag nach B., wir setzen uns wieder in den Park oder in ein Teehaus und sprechen noch ein wenig miteinander.“

„Nein, das darf ich nicht von Ihnen annehmen!“

„Aber selbstverständlich dürfen Sie das, Herr Lause! Machen Sie mir die Freude, wenn es irgendwie in Ihre Planung passt!“

Er lächelte bei dem Wort Planungdergestalt, als ob er keine Planung habe. Für einen Moment dachte ich daran, dass er vielleicht doch verwirrt sein könnte, aber seine Fähigkeit, unser Gespräch zu formen, widersprach dieser Befürchtung.

Wir verließen den Stadtpark, bogen in die Fußgängerzone ein, gingen am Café und dem Tabakladen vorbei und hatten es dann rechter Hand nicht mehr weit bis zum P.hof. Ich buchte für Otto Lause ein Zimmer mit Vollpension, zerstreute den misstrauischen Blick des Rezeptionisten durch meinen Geldbeutel, den ich bereit hielt zur sofortigen Begleichung der Rechnung im Voraus mit Bargeld. Der Rezeptionist lächelte, nur den Personalausweis Otto Lauses wollte er noch sehen. Mein ehemaliger Rektor kramte ihn hervor aus irgendeiner seiner verbeulten Sakkotaschen – und der Weg war frei zur Schlüsselübergabe.

Ich begleitete Otto Lause auf sein Zimmer Nr. 10, nannte ihm die Essenszeiten und fragte, ob er zu den Mahlzeiten benachrichtigt werden wolle.

„Ach nein, der Hunger wird mich Pünktlichkeit lehren!“, lächelte er und fügte sogleich in festem Ton hinzu:

„Ich freue mich dann, wenn wir uns morgen am Nachmittag weiter besprechen können; sagen wir um drei Uhr?“

(Fortsetzung folgt)