Otto Lause Erzählung, vierte Folge


Otto Lause

Erzählung, vierte Folge

 

Wir umgingen das Haus, und ich erklärte ihm, dass es von außen noch weitge­hend erhalten geblieben sei im Zustand, als wir dort gewohnt hatten. Nur die Westseite sei verändert worden durch den Wegfall der großen Terrasse im ers­ten Stock, wo ein Anbau erfolgt sei. Außerdem sei der Haupteingang im Sinne der Bürgernähe ebenfalls auf die verkehrsreiche Westseite verlegt worden.

Bürgernähe“, wiederholte Otto Lause, „deshalb hat man wohl auch die schöne rote Backsteinmauer zusammen mit den Fichten daran beseitigt. Fällt das auch unter Bürgernähe“?

Transparenzist hier wohl das richtige Stichwort“, meinte ich. „Man will den Ein­druck vermeiden, dass man sich abschließt, hinter einer Mauer versteckt, und stattdessen Offenheit demonstrieren.“

„Als Verschanzung oder Verstecken habe ich damals die rote Backsteinmauer nicht empfunden, eher als eine schützende Umrandung, lieblich gemacht durch die Baumreihe, die davor stand.“

„So habe ich es damals auch empfunden“, sagte ich zu Otto Lause.

Ich wies ihn auf den Treppenaufgang der ehemaligen Hauptpforte hin, wo wir einst mit ihm gesessen und er uns von seinem Bildungsweg erzählt hatte.

„Übrigens hatte ein Schüler Schnupftabak dabei, den Sie genossen haben“, sagte ich noch. „Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir auch, dass Sie einmal im Ruhrge­biet als Bergmann gearbeitet und das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg er­langt haben – wie ich übrigens auch“, fügte ich hinzu.

„Ach ja!“, sagte Otto Lause.

Er blieb stehen, schaute zur Fassade hoch und nahm einzelne Fenster in Augen­schein:

„Dort war die Pforte“, meinte er, „dort mein Büro, dort Verwaltungsräume, dort die Sakristei. Im ersten Stock die Studiersäle und Zimmer der Oberstufenschüler, im zweiten Stock die Schlafsäle.“

Ich staunte über seine genaue Erinnerung und wusste, dass ich ihm nichts mehr zu erklären brauchte. Als wir einen kleinen Bergweg hinunter zur Nordseite gin­gen, auf der sich das Freigelände des Hauses erstreckt, fragte Otto Lause:

„Wann wurde das Haus geschlossen?“

„Mit dem Ablauf des Schuljahres 1980/81“, antwortete ich.

„Aha! Und die Gründe?“

„Offiziell Geldmangel, Anfang des Jahres 2010 wurden dann auch pädagogische Gründe genannt. Es muss sich noch herausstellen, welche Rolle unrühmliche Vorgänge unter Ihrem Nachfolger beim Schließungsbeschluss gespielt haben.“

Er nickte traurig und sagte dann:

Unrühmliche Vorgänge– welcher Art?“

„Sexueller Missbrauch der Konviktsschüler durch den Internatsleiter.“

Wieder nickte er traurig:

„Wurde der Internatsleiter für diese Verbrechen bestraft?“

„Nein“, antwortete ich. „Die Anzeige gegen ihn erfolgte mehr als dreißig Jahre nach den Taten – die damit strafrechtlich gesehen als verjährt gelten.“

Strafrechtlich gesehen“, wiederholte Otto Lause. „Die Traumata der Opfer verjäh­ren nicht.“

„Ja“, nickte ich zustimmend. Nach einer Weile sagte ich noch:

„Die Geschichte des Hauses ist nun wohl für immer von diesem einen schwarzen Schaf unter den Rektoren belastet. Dabei hatte der Gründungsrektor H. eine ‚Hochburg idealen wissenschaftlichen und sittlichen Strebens’ geplant.“

„Konnte dieses Ideal verwirklicht werden?“, fragte Otto Lause.

„Zumindest haben junge Burschen hier über Jahrzehnte Bildungs- und soziale Aufstiegschancen erhalten“, meinte ich.

Otto Lause gab einen Laut der Zustimmung von sich, dann rief er plötzlich:

„Riechen Sie mal! Die gute Luft! Und schauen Sie, wie der Flieder blüht!“

Ich sah ihn verblüfft an, als er schon wieder sprach:

„Was Sie bewegt, können Sie nachlesen bei Kierkegaard: in der beruflichen und familiären Pflichterfüllung gibt es kein letztes Genügen. Angesichts des immer deutlicher werdenden Zeitstrahls, der nur eineRichtung kennt, wird Ihnen das unumstößlich gewiss. Kierkegaard hat den Weg gewählt, den auch ich einge­schlagen habe: den der Religion, des Betens, der Hinwendung zu Gott, die ein Eingeständnis eigener Schwäche, aber auch großer Hoffnung ist. Sie müssen Ih­ren eigenen Weg suchen, um zu neuer Gelassenheit zu finden.“

„Wie kann diese Gelassenheit aussehen?“, fragte ich.

„Bleiben wir bei der Philosophie“, entgegnete Otto Lause.„Bei Meister Eckart gibt es sinngemäß eine Stelle, wo es heißt, dass Gott immer schon anwesend war und ist, aber das Ich oder der Verstand ihn als abwesend deklariert, etwa als der verborgene oder abwesende Gott. Kehrt nun der menschliche Geist auf seiner Suche nach Gott um, kehrt der Geist zurück zu seiner ursprünglichen Quelle, so fragt ihn dortniemand, woher er komme oder wo er gewesen sei. Denn dort, in der Quelle, hat mich niemand vermisst. Das aber heißt: diese Quelle istin uns – quasi unterunserem Ich und Verstand. Oder: von deren langen Schattenver­borgen und verdeckt.“

„Also nicht Gott oder unser Ursprung sind verborgen und abwesend“, meinte ich, „sondern unser Ich und Verstand decken ihn zu, so dass er für den Verstand als verborgen und abwesend erscheint“.

„Richtig“, nickte Otto Lause, „vielleicht sagten deshalb auch die Alten: Gnothi seauton = Erkenne und verstehe zunächst einmal dich selbst. Denn auf dem Weg nach innenkommst du automatisch, sofern du dein Ichtranszendierst oder aber dein Denkenzur Ruhe kommen lässt, an der Quellevorbei. Und das scheint mir doch ein großer Trost zu sein: die Quelle, der Gottoder ganz einfach die Wirklichkeit, die uns ausmacht und durchs Leben trägt, istin uns. Wir können sie nicht denken– aber erfahren; wir können sie nicht sehen– aber dennoch betrachten; es gibt kein Wort von ihr – aber wir können Kunde davon in die Welt bringen.“

Ich sah ihn nur an und nickte ihm dankbar zu.

„In der Meditation gibt es Momente der größten Wachheit und Stille“, fuhr Otto Lause fort. „Und obschon du nichts sehen kannst, spürst du eine ganz große Anwesenheitvon irgendetwas. Du kannst es weder denken noch mit deinem Geist erkennen. Aber du spürst es ganz deutlich in der Betrachtung. Und Be­trachtung ist Schaumit deinem inneren Auge“, fügte er hinzu.

Nach kurzem Nachdenken sagte er:

„Vielleicht ist Betrachtung die schauende Erfahrung spiritueller, form- und gestalt­loser Inhalte; vielleicht ist das ja auch die Näheund das Nächste, von dem die Juden sagen: Du sollst dir kein Bild machen. Denn das gemachte Bild ver­stellt schon wieder die lebendige Wirklichkeit, färbtsie ein, modeltsie um, formtund gestaltetsie nach eigenen Maßen aus, denkt, was wesentlich un-gedacht bleiben soll.“

„Es ist also nicht die Frage, ob wir Gott denkenkönnen, sondern die Frage, ob wir Gott denken sollen, warf ich ein.

Otto Lause nickte nur und fuhr fort:

„Wer Gott authentisch erfahren möchte, der wird sich auf einen Weg der Be­trachtung begeben müssen, irgendeinen Übungs-Weg, der Ichund Denkeru­hig stellt. Aber dies zu erreichen, ist unserem Geist schier unmöglich. Denn wa­chen wir morgens auf, ist unser Ich schon aktiviert. Und schlafen wir abends ein, ist unser Ich bis in den Halbschlaf hinein noch immer aktiv. Dies scheint mir das entscheidende Problem zu sein.“

„Was meinen Sie?“

„Tagein, tagaus zu üben und doch dem Gesuchten keinen Haarbreit näher zu kommen. Eben weil man mit seinem Ich übt, anstatt gegen sein Ich; weil man mit seinem Verstand übt, anstatt gegen oder ohne seinen Verstand; weil der Geist im Verstehenwollenstecken bleibt und niemals den Schritt zur Betrachtung voll­zieht.“

„Ja“, sagte ich, hielt kurz inne und meinte dann:

„Ich danke Ihnen! Sie haben mir wieder eine Aufgabe gegeben – und eine, die mich ganz fordert!“

(Fortsetzung folgt)