Otto Lause, Erzählung, letzter Teil


Otto Lause

Erzählung, letzter Teil

 

Am dritten Tag fuhr ich guter Dinge wieder mit dem Zug nach B. Heute wollte ich Otto Lause nach seinen persönlichen Verhältnissen fragen. Wenn er weiter meine Hilfe benötigen sollte, wäre ich bereit gewesen, sie ihm zu geben. Im P.hof erhielt ich jedoch eine überraschende Mitteilung: Otto Lause sei in aller Frühe abgereist, er habe mir eine Nachricht hinterlassen. Der Rezeptionist überreichte mir einen verschlossenen Briefumschlag, auf dem mein Name stand. Ich warf ei­nen kurzen Blick darauf, aber nach einigem Zögern steckte ich das Kuvert in die Sak­kotasche, ohne es zu öffnen. Der Rezeptionist beobachtete mich diskret und fragte genau im richti­gen Moment, als ich beschlossen hatte, den Brief vorerst in der Sakkotasche lie­gen zu lassen und einen Gang in die Stadt zu unternehmen, dass er mir selbst­verständlich gerne das überzählige Geld nach Abzug einer Bearbeitungspau­schale zurückzahlen könne; Otto Lause sei ja statt der zunächst angenommenen sieben Nächte nur zwei im P.hof geblieben. Ich nickte, sah dem geschäftigen Treiben des Rezeptionisten zu, der den Computer bediente und ein Formular ausdruckte, schließlich, um das Geld zu holen, die Rezeption kurz verließ, und dachte an Otto Lause. Nichts von dem, was ich ihn fragen wollte, hatte ich ihn fragen können! Aber war es nicht richtig so? Hätte es sich gehört, den alten Mann nach seinem Leben und persönlichen Verhältnissen auszufragen? Otto Lause war Herr der Situation geblieben, so wie er es all die Stunden unseres Zu­sammenseins in den letzten beiden Tagen gewesen war!

Ich verabschiedete mich vom Rezeptionisten und ging nach draußen. Mecha­nisch lief ich den gleichen Weg, den ich in den zurückliegenden zwei Tagen mit Otto Lause gegangen war: durch die Fußgängerzone in Richtung Stadtpark. Im Schaufenster des Tabakladens sah ich die beiden alten Frauen hinter der Theke sitzen. Aber was war das? Im Schaufenster war ein Hinweisschild deutlich sicht­bar angebracht. Beim Näherkommen las ich, beobachtet von den alten Frauen:

„Wir schließen mit Ablauf des Monats! Nach fast fünfzig Jahren sagen wir allen unseren Kunden: Danke!“

Ich betrat den Laden mit irritiertem Lächeln und fragte sogleich:

„Ist das wahr? Sie schließen?“

„Ja“, bestätigten beide alte Frauen zugleich, und eine meinte:

„Nach fast fünfzig Jahren hinter der Theke ist es mal genug.“

Und die andere sagte:

„Wir fallen ja sonst von der Theke ins Grab.“

„Wenn Sie seit fast fünfzig Jahren hier Tabakwaren verkauft haben, dann haben Sie mir auch als Vierzehn- oder Fünfzehnjährigem meine ersten zwei Pfeifen über die Theke gereicht“, sagte ich.

„Ja, hier war sonst niemand drin als wir, fast fünfzig Jahre lang. Wenn wir mal beide nicht konnten, war der Laden zu, aber das kam fast nie vor“, erklärte die eine alte Frau. Dann sagte die andre:

„Aber wenn Sie vor so langer Zeit hier waren – in der Zwischenzeit waren Sie dann außerhalb …“

Ich erklärte ihnen die Umstände, und eine der alten Frauen meinte nur:

„Das Konvikt! Auch schon lange her!“

Dann sahen mich beide an mit dem Blick:

„Was darf es sein?“

Ich hatte mir das Pfeiferauchen schon seit langem abgewöhnt, nun aber doch seit einiger Zeit wieder mit dem Gedanken geliebäugelt, hin und wieder abends ein Pfeifchen zu schmauchen. Also kaufte ich mir noch einmal alles, was dazu­gehörte: Pfeifentasche, Stopfer, Reiniger, Feuerzeug, Filter, eine schöne längli­che Pfeife und natürlich Tabak. Die beiden alten Frauen bedienten mich muster­gültig. Ich sagte, dass ich heute den letzten Tag in B. sei und so schnell nicht wieder zurückkommen würde, wünschte ihnen alles Gute und verabschiedete mich mit einer Verbeugung.

Wieder in der Fußgängerzone beschloss ich, doch nicht den Stadtpark aufzusu­chen, sondern auf der Darmstädter Straße in Richtung des ehemaligen Konvikts zu gehen. Nach ungefähr fünf Minuten kam mir mein Bekannter entgegen, mit dem ich vor drei Tagen im Cafe zusammen gesessen hatte, bevor Otto Lause meine Aufmerksamkeit gebannt hatte. Er trug einen Koffer und eine Aktentasche und hatte es sehr eilig. Er gehe als Richter nach L., sagte er mir nur, ans Ober­landesgericht; sein Zug fahre in zehn Minuten.

„Nach L. ans Oberlandesgericht?“, fragte ich.

„Ja“, bestätigte er. Er habe es mir vor drei Tagen in Ruhe im Cafe erzählen wollen, nun habe er leider keine Zeit mehr und müsse fort. Er melde sich dann bei mir.

Ich wünschte auch ihm alles Gute, sah ihm nach, wie er Richtung Ro­densteinstraße lief, an der der Bahnhof lag, und setzte meinen Weg fort. Beim ehemaligen Konvikt würde ich meine Pfeife einrauchen, nahm ich mir vor. Plötz­lich fiel mir wieder das Kuvert ein mit dem Brief Otto Lauses. Ich zog es aus der Sakkotasche, holte den Brief hervor und las ihn.