Otto Lause
Erzählung, dritte Folge
Am nächsten Tag erschien ich verabredungsgemäß kurz vor fünfzehn Uhr im P.hof. Der Rezeptionist begrüßte mich freundlich, was mich beruhigte, anscheinend war mit Otto Lause alles gut gegangen. Trotzdem fragte ich:
„Ist Ihr Gast Herr Lause zu den Mahlzeiten erschienen?“
„Ja, das ist er.“
„Schön“, entgegnete ich knapp. „Ich will ihn abholen zu einem Spaziergang.“
„Er wartet bereits in der Lounge auf Sie!“
Mit freundlichem Lächeln begrüßte mich Otto Lause, erhob sich etwas mühsam von seinem Stuhl und kam mir entgegen. Überall standen auch bequeme Polstermöbel, wahrscheinlich hatte Otto Lause befürchtet, dass er davon nicht mehr hoch käme und deshalb den Stuhl bevorzugt.
„Geht es Ihnen gut, Herr Lause?“
„Oh ja, wunderbar! Ich danke Ihnen! Ich habe gut geschlafen, gut gegessen und freue mich jetzt auf den Fortgang unseres Gespräches.“
„Wollen wir wieder in den Stadtpark gehen? Das Wetter ist uns weiterhin günstig.“
Er nickte nur.
Im Stadtpark setzten wir uns auf die gleiche Bank wie gestern, mit Blick aufs Kirchberghäuschen, das wir beide betrachteten.
„Waren Sie früher einmal oben?“, fragte ich ihn.
„Einige Male sogar“, meinte er, „allein und mit andren. Ich sehe noch genau vor mir, wie es dort ausgesehen hat, im Gastraum selbst und auf der Terrasse.“
Nach einer Weile bemerkte er:
„Heute könnte ich den steilen Aufstieg durch die Weinberge nicht mehr bewältigen. Aber es ist auch nicht nötig. Man muss Abschied nehmen können.“
Er sah mich an:
„Sind wir damit nicht schon bei unserem Thema angelangt?“
„Ja“, räusperte ich mich: „Abschied nehmen könnenist das Stichwort.“
„Wir haben gestern vom Lebensgefühl Ihrer Jugendzeit gesprochen“, ergriff Otto Lause wieder das Wort, „wie es sich vor allem hier in B. im Konvikt ausgebildet hat. Wir haben auch gesagt, dass Sie sich davon nicht mehr getragen fühlen. Verspüren Sie Ratlosigkeit?“
„Durchaus“, bekannte ich.
„Welche genaue Ursache hat diese Ratlosigkeit?“
„Früher habe ich nach innerweltlichen Lösungen für das Problem meines Lebens gesucht, aber die sind nicht zu finden, es gibt sie nicht.“
„Nein“, bekräftigte Otto Lause, „in einer Welt dauernder Veränderungen – denen wir selbst ja auch ausgeliefert sind – kann es keine innerweltliche Lösung geben.“
Ich nickte und dachte mir: So wie er spricht, ist er glasklar im Kopf. Der Mann ist wirklich der Philosoph, für den ich ihn in der Erinnerung mehr und mehr gehalten habe.
„Falls es eine Lösung für Ihr zentrales Problem gibt“, fuhr Otto Lause fort, muss sie anderer Natur sein als alles, was Sie bisher versucht haben. Richtig?“
„Richtig“, antwortete ich.
„Haben Sie einen Vorschlag?“, fragte Otto Lause.
„Vielleicht sollte ich meine Illusionen endlich hinter mir lassen“, antwortete ich. „Wenn ich mich nicht mehr an mich selbst klammere, schaffe ich mir Raum für neue Erfahrungen – und kann mich anderen Menschen hoffentlich besser zuwenden als bisher.“
Otto Lause nickte nur und sah mich nicht an. Dann sagte er:
„Ich habe ganz ähnlich zu denken gelernt, wie Sie es gerade dargelegt haben. Zu den neuen Erfahrungen, die ich dann machen durfte, gehörte zum Beispiel die Dankbarkeit. Ein egozentrisch denkender Mensch hat keinen Raum, wie Sie es ausgedrückt haben, für Dankbarkeit, er reißt jede Wohltat, die ihm widerfährt, gierig an sich und wartet schon darauf, dass ihm die nächste Wohltat widerfährt. Wer aber gelernt hat, die Gier in sich zum Schweigen zu bringen oder wenigstens zu mäßigen, wird erstaunt und beglückt sein, welche Türen ihm das Leben öffnen kann.“
Nach einem kurzen Moment des Schweigens rief Otto Lause plötzlich:
„Wissen Sie“, mir scheint, ein Besuch im alten Konvikt könnte ich nun doch verkraften!“
Er sah mich an mit einem heiteren Lächeln, aus dem jede Spur von Melancholie gewichen war.
„Gerne!“, entgegnete ich und zog nach einem Augenblick, in dem ich mich der Ernsthaftigkeit seiner Aussage vergewissern wollte, mein Handy aus der Tasche, um ein Taxi zu rufen.
Ich merkte, wie er mein Handy betrachtete, aber er sagte nichts. Da ahnte ich, dass er selbst wohl nie ein Handy besessen hatte. Und mit diesem Gedanken stieg wieder die Neugier in mir hoch über seine Lebensumstände, den Grund seines Aufenthaltes in B. und überhaupt den Verlauf seiner Biografie seit der Zeit seines Rektorats am ehemaligen Konvikt vor vierzig Jahren, zu dem wir nun, als das Taxi erschienen war, fuhren. Morgen wollte ich ihn gewiss danach fragen, nahm ich mir vor.
Der Taxifahrer war enttäuscht, als er das nahe Fahrziel hörte. 1,6 km beträgt die dreiminütige Autofahrt vom Stadtpark in B. bis zum Rathaus, dem ehemaligen Konvikt. Aber da war nichts zu machen, weiter wollten wir nicht, allenfalls später auch wieder zurückfahren, was unseren Taxifahrer nicht tröstete, weil diese Fahrt vielleicht von einem Kollegen ausgeführt werden würde. Übrigens hatte ich darauf gedrungen, dass Otto Lause trotz seiner anfänglichen Weigerung auf dem Beifahrersitz Platz nahm und mich schließlich durchgesetzt.
„Kirchbergstraße 18“, sagte ich und ließ den Fahrer anhalten beim Fußgängertor zur ehemaligen Hauptpforte. Ich half Otto Lause beim Aussteigen, er warf einen schnellen Blick auf das mächtige, schlossartige Gebäude und las dann den in roten Sandstein am Tor eingefügten Schriftzug „Bischöfliches Konvikt“. Für wenige Augenblicke verharrte er davor und äußerte nur ein zweimaliges, auf dem Buchstaben a lang gezogenes „Ja“, wobei das zweite „Ja“ noch länger ausklang als das erste, was sich ungefähr anhörte wie:
„Jaaaa…, jaaaaaaah!“
Ich betrachtete ihn stumm, als er mich ansah und entschied:
„Nun wollen wir hineingehen!“
(Fortsetzung folgt)