NACHHALL DES KRIEGES


MAINZER ERZÄHLUNGEN

Thomas Berger

NACHHALL DES KRIEGES
Über die Erzählung Feldpostbriefe
von Johannes Chwalek

Es sind die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Wir befinden uns im „Schülerheim in B.“ Der Autor Johannes Chwalek, Jahrgang 1959, schöpft in seiner Erzählung Feldpostbriefe (1) vor allem aus zwei Quellen: den Erfahrungen und Erlebnissen als Schüler des Bischöflichen Konvikts St. Bonifatius in Bensheim an der Bergstraße, in dem er von 1970 bis 1976 lebte, (2) sowie aus dem geschärften Geschichtsbewusstsein des an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wissenschaftlich ausgebildeten Historikers. Denn er verbindet literarisch die Schilderung des Alltagslebens im Knabenheim mit Einblicken in die Briefe eines dem Ich-Erzähler unbekannten Werner L., die dieser während des Ersten Weltkrieges schrieb. Realität und Fiktion sind also miteinander verwoben.

Als Hauptfiguren der Geschichte treten auf: Der Ich-Erzähler mit Namen Sigurd Framm, seines Zeichens Präfekt des Internats, der Priester Mergler, der als Rektor fungiert, und Dr. Freitag, alle drei als Erzieher der städtische Schulen besuchenden Jungen tätig. Johannes Chwalek beschreibt das Zusammenleben im Heim so plastisch und detailliert, dass man als Leser den Eindruck gewinnt, mitten im Geschehen zu sein.

Die Atmosphäre des Hauses ist nahezu klösterlich, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass die spätere Priesterausbildung des einen oder anderen Knaben nicht unerwünscht ist. So gibt der geistliche Leiter bei den Mahlzeiten, ähnlich einem Abt, das Zeichen zum Beginn und Ende des Essens. Zeiten des Stillschweigens, Silentium genannt, müssen beachtet werden. Die Bearbeitung der Hausaufgaben heißt Studium. Durch die Bezeichnung Herrenzimmer und Herrentisch, beide den Erziehern vorbehalten, wird das Bewusstsein für hierarchische Strukturen geprägt. Gehorsam gehört zu den Erziehungsregeln. Zudem wird in der Erzählung deutlich, wie eng der materielle Spielraum in den Nachkriegsjahren war.

Interessant ist auch die Einstellung des Präfekten Framm, der neben seinen Pflichten im Konvikt stundenweise Unterricht erteilt: „Ein Lehrer im eigentlichen Sinn – erfüllt von pädagogischem Eros – bin ich nicht. Vielleicht gibt es sogar allen Grund, mich einen Anti-Lehrer zu nennen, weil es mir in erster Linie darum geht, mich selbst weiterzubringen, selbst etwas zu lernen, anstatt andere etwas zu lehren.“ (3)

Über diesen Präfekten baut der Verfasser eine Brücke zum zweiten Schwerpunkt der Erzählung, den Feldpostbriefen. Dr. Freitag waltet als Vermittler zwischen der Witwe des 1915 gefallenen Soldaten Werner L., die ihm die Sammlung der Briefe mit der Bitte übergab, sie Sigurd Framm, dessen Veröffentlichungen ihr bekannt seien, auszuhändigen. Vielleicht, so ihre Hoffnung, würde der Präfekt einen Artikel über ihren Mann und seine Kriegsbriefe schreiben. Auszüge aus den Briefen, die in die Erzählung eingestreut sind, (4) verdeutlichen, dass Werner L. ein Kriegsfreiwilliger war, „der nicht im Geringsten zweifelte an dem, was er tat und was um ihn herum vorging“, obwohl ihm klar war: „Nur noch als vollkommen austauschbares Masseteilchen sollten wir uns begreifen, willenlos und würdelos.“ Der Erzieher Framm hingegen sagt von sich: „ Was mich betraf, habe ich den Krieg gehasst.“ (5) Ganz ähnlich sieht es sein Kollege Dr. Freitag, dessen linker Arm schwer geschädigt ist, „seitdem ihm im Lazarett das Ellbogengelenk entfernt werden musste“ (6), und der noch immer auf eine Reaktion des Staates wegen seiner Kriegsverletzung wartet: „Wir warten alle auf Antwort, die wir dem Krieg ins Gesicht sehen mussten. Niemand kann sich dieses Gesicht vorstellen, der nicht dabei gewesen ist, so wie wir es uns nicht vorstellen konnten, bevor wir zur Front kamen.“ (7)

Schließlich deutet die Erzählung Feldpostbriefe das Vertrauensverhältnis zwischen dem Präfekten und dem Schüler Tobias Schramm an, den der Rektor als „widersetzlich“ (8), der Präfekt dagegen als in besonderer Weise förderungswürdig charakterisiert. (9)

All dies erzählt der Autor in einer erfreulich unprätentiösen Sprache, die auf unterhaltsame Weise das Bild früherer Erziehungsziele und -methoden vermittelt und zugleich eindrücklich grundlegende divergierende Aspekte des Krieges vor Augen führt.

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ANMERKUNGEN:

(1)  Johannes Chwalek, Feldpostbriefe, in: ders., Skizzen eines Schachspielers.
       Erzählungen, Scholastika Verlag, Stuttgart 2021, S. 84−141
(2)  Über das Bensheimer Konvikt verfasste Johannes Chwalek bereits:
       Drei Rektoren. Eine Internatsgeschichte, Stolzalpe / Österreich 2008;
       Das Bischöfliche Knabenkonvikt Bensheim. Erster Teil: 1888-1939, in:
       Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 44, 2011, S. 86-114;
       Das Bischöfliche Knabenkonvikt Bensheim. Zweiter (fragmentarischer)
       Teil: 1950-1981, in: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 45, 2012,
       S. 213-238;
       Die Enteignung des Bischöflichen Knabenkonviktes Bensheim durch das
       Land Hessen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 64.
       Jahrgang 2012, S. 277-289. (Auch in: Mitteilungen des Museumsvereins
       Bensheim e.V., Verein für Regionalgeschichte und Denkmalpflege, Nr. 66,
       2. Halbjahr 2012, S. 8-18)  
(3)  a.a.O., S. 96
(4)  Über die Herkunft der brieflichen Zitate informiert die „Nachbemerkung“,
       a.a.O., S. 141
(5)  a.a.O., S. 99, 100
(6)  a.a.O., S. 85
(7)  a.a.O., S. 133/134
(8)  a.a.O., S. 136
(9)  Über die freundschaftliche Zuneigung seines damaligen Präfekten, den er
       drei Jahre lang in St. Bonifatius als Erzieher erlebte, schrieb Johannes
       Chwalek den Roman Gespräche am Teetisch, Verlag edition federleicht
       2019