Nach einer Lesung


Nach einer Lesung

 

Klaus-Peter Grünschläger, Franz Josef Schäfer, Ulrich Zimmerer: Hitlerjunge · Soldat · Mönch. Ein Leben unter zwei Kreuzen. Hohenwarsleben 2020 (VAS – Verlag für Akademische Schriften – ein Imprint der Westarp Verlagsservicegesellschaft mbH), 323 Seiten, 106 Abbildungen

 

Irgendwo bemerkt Goethe, die menschlichen Verhältnisse änderten sich alle fünfzig Jahre. Die Wahrheit dieses Ausspruches wurde mir gestern Abend, 15. Dezember 2023, wieder bewusst. Ich besuchte die Lesung des Historikers Franz Josef Schäfer und des Psychiaters Dr. Ulrich Zimmerer. Sie stellten ihr Buch „Hitlerjunge – Soldat – Mönch. Ein Leben unter zwei Kreuzen“ vor. Der dritte Autor des Werkes, Klaus Peter Grünschläger, war krankheitshalber verhindert. Die Veranstaltung fand in Bensheim im Café Klostergarten in der Klostergasse 5a statt. Zuerst sprach Franz Josef Schäfer über die historischen Aspekte, die das ehemalige Kapuzinerkloster mit dem angehängten Internat, das Fidelis-Kolleg, in Bensheim betreffen. Das Kloster wurde 1682 gegründet und bestand – mit Unterbrechungen – bis 1982. Sodann erwähnte Schäfer die Lebensläufe der beiden Antagonisten, welche im Buch portraitiert werden: Pater Otto (Franz Paul Weber, 1897–1972) und Frater Coelestin (Hans-Günther Geibel, 1925–1984). Ersterer war ein vorkonziliarer Geistlicher, dem im Kloster die Rekrutierung neuer Kapuziner über alles ging. Über alles bedeutet, über alle Einwände gefühlshafter und anderer Art. Wenn ein Zögling das immer wieder geforderte Bekenntnis zum späteren Kapuzinerdasein nicht mehr ablegen wollte, sorgte Pater Otto für seine Entfernung aus dem Kloster. Der Klostervorsteher interessierte sich dann nicht mehr für den Jungen. Anders Frater Coelestin. Er hatte schon in jungen Jahren ein bewegtes Leben hinter sich, war im Elternhaus nationalsozialistisch erzogen worden, glaubte an Hitler, wurde Soldat und musste bei Kriegsende an einem Erschießungskommando mitwirken. Dieses Ereignis führte zur Abkehr vom Nationalsozialismus und Hinwendung zum Christentum. Nach dem Krieg studierte Hans-Günther Geibel Physik und Mathematik und trat 1951 als Tertiar bei den Kapuzinern in Bensheim ein. Das anfangs gute Verhältnis zum Klostervorsteher Pater Otto verschlechterte sich mit der Zeit immer mehr, weil Frater Coelestin die Pädagogik seines Vorgesetzten im Umgang mit den Internatsschülern nicht teilte. Er unterstützte die Jungen auch dann, wenn sie erkennen ließen, dass die Kapuzinerlaufbahn für sie nicht oder nicht mehr in Frage kam. So trat schließlich im Jahr 1963 der Bruch ein. Hans Günther Geibel verließ die Kapuziner und arbeitete als Statiker in einem Unternehmen. Nach Franz Josef Schäfer sprach Ulrich Zimmerer über die psychologischen Folgen der Art von Pädagogik, welche Pater Otto angewendet hatte. Er konnte dies umso besser tun, weil er selbst Schüler des Fidelis-Kollegs gewesen war und unter dem Diktat Pater Ottos gestanden hatte. Im Kern seines Vortrags ging es um die Verletzungen, welche die Missachtung der Persönlichkeit der Jungen und Jugendlichen nach sich zog, die einen anderen Lebensweg als den des Kapuziners einschlagen wollten. Es wurde deutlich, dass die Erfahrungen im Kapuzinerkloster Bensheim für Zimmerer prägend gewesen waren und ihn bis ins Alter hinein beschäftigen. Die anschließende Diskussion mit der Zuhörerschaft bestätigte diesen Eindruck. Zu Wort meldeten sich Männer und Frauen, welche ihre vor Jahrzehnten mit der Kirche gemachten Erlebnisse schilderten. Wieder traten die Motive von autoritärem Verhalten der Kirchenoberen und die damit einhergehenden Kränkungen für die damaligen Jungen und Mädchen zutage. Ich saß dabei und hörte schweigend zu; auch dann noch, als eine ältere Frau die Erziehungsmethoden im Bensheimer Konvikt (1888–1981) mit denen Pater Ottos im Kapuzinerkloster in eins stellte, was gewiss unzutreffend war. Im Kopf ging mir der Gedanke an viele meiner Schüler herum, die – etwa im Ethikunterricht – nicht selten die Bedeutungslosigkeit von allem Kirchlichem für sich kundtuen. Die Lesung Franz Josef Schäfers und Ulrich Zimmerers und die anschließende Diskussion hätten sie kaum nachvollziehen können. Es wären Worte aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit für sie gewesen. Gleichwohl: auch heute sind die Formen von Missachtung und Unterdrückung zu reflektieren. So wie dies im Buch Klaus-Peter Grünschlägers, Franz Josef Schäfers und Ulrich Zimmerers an einem Beispiel des vergangenen Jahrhunderts geleistet worden ist.

 

Johannes Chwalek