MITTEN IM NEUEN DAS ALTE


Thomas Berger

MITTEN IM NEUEN DAS ALTE
Zur Lyrik von Johannes Chwalek

Dreiundzwanzig der zahlreichen Gedichte des Mainzer Autors Johannes Chwalek (geb. 1959 in Flörsheim am Main), zuletzt veröffentlicht auf dem Blog von Petra Seitzmayer (SchreibArt) – was lässt sich über die Texte sagen?

Die Gedichte tragen teils eigenständige Titel, teils sind Zeilen aus den Texten titelgebend. Die durchgängige Schreibweise in Kleinbuchstaben, der weitgehende Verzicht auf Satzzeichen sowie die Diktion erinnern an den Dichter Stefan George (1868-1933), dem sich Johannes Chwalek seit seiner Jugendzeit im Bensheimer Konvikt verbunden fühlt. Ein unmittelbarer Bezug begegnet im Gedicht „der sommer der mich“. Darin verwebt der Lyriker Elemente aus der Dichtung Stefan Georges mit Worten William Shakespeares (1564-1616) und des Kelkheimer Autors Thomas Berger (geb. 1952). „vereintes leben / rann in freudigem lauf“, zitiert er Stefan George. „zu / des himmels brennendem blau“ ist ein Anklang an William Shakespeare. Und „der sommer der mich / trägt“ greift auf das Gedicht „Abweichen“ des Rezensenten zurück. (1)

„der sommer der mich
trägt geschah in meinem lenz
vereintes leben
rann in freudigem lauf
zu
des himmels brennendem blau“

Mit der in diesem Text Johannes Chwaleks enthaltenen Aussage klingt der Grundtenor der meisten der dreiundzwanzig Gedichte an: das fast unablässige Erinnern an den Nährboden, dem sich das geistige Wirken des Mainzers verdankt. „es war eine zeit“ – so lauten denn auch drei Titel der ausgewählten Gedichte. Welche Zeit ist gemeint? Es sind die Jahre 1970 bis 1976, die der spätere Autor und Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie im damaligen Bischöflichen Konvikt St. Bonifatius in Bensheim an der Bergstraße verbrachte. Diese waren ganz entscheidend geprägt durch die vielfältige und kontinuierliche Förderung, die der Schüler durch den Präfekten Siegfried Schramm (1907-1985) erfuhr. Dieser besaß ein waches Gespür für die literarische Begabung des Knaben, der im Elternhaus keinerlei Beachtung oder gar Würdigung zuteilwurde.

Auch Siegfried Schramm fühlte eine große Nähe zu Stefan George, den er persönlich kennengelernt hatte. Durch die allmählich zum Freundschaftsbund gewachsene Beziehung zwischen Schüler und Mentor konnte sich Johannes Chwalek zum homo transcendentalis in literarischem und philosophischem Sinne entfalten – Geistestätigkeit wurde zum Zentrum seines Lebens. Diese Entwicklung prägte den Geförderten so fundamental, dass er ihrer auch in seinem lyrischen Schaffen dankbar gedachte und gedenkt. 2019 widmete er den Jahren im Internat zudem den Roman „Gespräche am Teetisch“. (2) Für Johannes Chwalek gilt in besonderer Weise, was der Dichter Friedrich Hebbel (1813-1863) in die Worte kleidete: „Der Mensch muß sich Anderen klar machen, um sich selbst klar zu werden.“ (3)

Facettenreich also der Rückblick Johannes Chwaleks. In „siebziger ade“ denkt er an die „zeit der ideen“, die er „an des freundes seit’“ erleben durfte und an den „durchbruch in die gegenwart“, in „der sommer der mich“ an sein Erwachen im eigenen „lenz“.

Immer wieder kreisen die lyrischen Zeilen um die ermutigende, richtungweisende und bis in die Gegenwart fortwirkende Gestalt des Präfekten, etwa so:

„erst dachte ich freund
mich nur zu erinnern der
zeichen deiner huld
nun feiere ich sie als
gegenwärtiges geschenk“

Das Erinnern gilt mithin nicht einer erloschenen Vergangenheit, sondern setzt das, was war, in lebendige Wirklichkeit um:

„das bild von einst du
sitzt noch immer schreibend da
doch siehst mich an mit
einem lächeln – erneuerst
was mir im glauben erstarb“

Wer so aus dem Gewesenen lebt, von ihm zehrt, neigt beinahe unvermeidlich zu melancholischer Gemütsstimmung, zum Beispiel im Gedicht „langsames verwehn“ oder in „resümee“, das mit den Worten schließt: „letzte tätigkeit / wie von fern schau ich noch zu / mag es nun so sein“.

Die Texte „eines nachtmenschen“ verzetteln sich nicht, halten vielmehr Kurs und verlieren das Ziel nicht aus den Augen: das zu schaffende „werk“. Mögen dem Autor noch mannigfache Nachtstunden beschieden sein!

________

(1) Thomas Berger, Inseln im Zeitstrom. Gedichte, Czernik-Verlag / Edition L,
      Speyer 2011, Seite 74
(2)  Johannes Chwalek, Gespräche am Teetisch. Roman, edition federleicht,
       Frankfurt am Main 2019
(3)  Friedrich Hebbel, Tagebücher, Zweiter Band, 1840-1844, historisch-
       kritische Ausgabe besorgt von Richard Maria Werner,  B. Behr’s Verlag,
       Berlin 1903, Seite 65