memento mori — der “Schwarze König“
18.01.2016
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen am dreidimensionalen Schachbrett Ihres Lebens. Sie spielen mit den weißen Figuren. Ihnen gegenüber sitzt ein Mit-Spieler. Manchmal ist er ganz klar als Gegen-Spieler, als Wider-Sacher, als De-Strukteur für Sie erkennbar. Manchmal verschwimmt aber auch sein Profil ins Unklare, ins Nebulöse, bis hin zum Numinosen. Sie erkennen dann seine Anwesenheit, seine Gegen-Wart nur noch dadurch, dass auf jeden Ihrer Züge unmittelbar ein Gegen-Zug erfolgt. Mal scheint sich nur eine Position auf dem Brett zu verändern; mal verlieren Sie aber auch eine Ihrer Figuren. So ist das Spiel.
Aber auch dies ist seltsam: Während Ihre sechzehn Figuren stets klar definiert zu sein scheinen, scheint Ihr Mit-Spieler stets eine Figur mehr auf dem Brett zu haben. Es ist ihm nicht beizukommen. Sie wissen, dass schon Sie selbst Milliarden von Kombinations-Möglichkeiten haben. Aber Ihr Gegen-Spieler stellt Sie mit seinen eigenen Zügen immer wieder vor neue Probleme, vor neue Fragen, vor neue Entscheidungen — wie Zufälle. Mal scheint er Ihnen einen Weg zu eröffnen, mal einen Ausweg zu bahnen. Doch dann — Sie wähnten sich gerade in Sicherheit und vertrauten Ihrem Mit-Spieler — schlägt er unversehens wieder zu, nimmt Ihnen eine Figur aus Ihrem Spiel.
So geht es fort und fort. Über viele Jahre und einige Jahrzehnte spielen Sie dieses Spiel. Mal mit Gewinn. Dann auch wieder mit Verlust. Aber Ihnen bleiben stets noch genügend Figuren auf Ihrem Schachbrett des Lebens. Und selbst wenn eine Ebene schon ziemlich leergeräumt zu sein scheint, so scheinen doch noch genügend Figuren auf Ihren anderen Ebenen vorhanden zu sein, um weiter im Spiel bleiben zu dürfen. Und: mit jedem Verlust werden Sie Lebens-klüger, gewitzter, umsichtiger, vorsichtiger auch, listiger bis hin zur verschlagenen Hintergründigkeit. Sie lassen sich nicht so einfach aus dem Feld schlagen… Geschickt verändern Sie immer wieder aufs Neue Ihre Strategie, passen diese den Konter-Zügen Ihres Gegenübers an. Allein, Ihr Mit- und Gegen-Spieler antwortet hierauf, indem er sofort und folgerichtig seine Taktik verändert. Wortlos durchschaut und durchkreuzt er Ihre Lebens-Strategien.
Und je älter und je weiser Sie am Spiel Ihres Lebens werden, desto genauer vermögen Sie sowohl Ihre eigenen, die weißen Figuren, als jene schwarzen Ihres Gegen-Spielers zu erkennen, zu verstehen, zu durch-schauen. Nicht nur gegenständlich verstehen Sie nun diese Figuren, sondern auch in ihrer Wirkung, in ihrer Wirklichkeit, in ihrer Transzendenz. So etwa den verbliebenen “Turm“ Ihres Reichtums und Wohlstandes — er öffnet Ihnen nun den Blick über viele Ebenen; was alles konnte jenseits vom “Haben“ im “Sein“ als Reichtum gelten! Und die “Dame“ Ihres Erfolges — nun, im hohen Alter, vermögen Sie erst zu erkennen und anzuerkennen, was Erfolg eigentlich ist.
Und mit dem letzten Zug Ihres Lebens — Sie ahnten dies schon seit vielen Zügen — alle Ihre Figuren sind inzwischen “geschlagen“ und vom Brett abgeräumt worden, erscheint Ihnen wie aus einem düsteren Nebel, wie aus einem Nichts her-aus, plötzlich und unvermittelt, in der Figur des “schwarzen Königs“ Ihr lebenslanger Mit-Spieler: der Tod. Er neigt sich über Ihr Brett zu Ihnen herüber und flüstert Ihnen ganz leise in Ihr Ohr: “Schāh Māt.“ Und noch im Ausklang des “Punktes“ fallen all Ihre Ebenen, all Ihre Figuren, kurz: Ihr ganzes Leben, wie Trug-Gebilde, wie Hirn-Gespinste, in sich zusammen. Figuren und Spielbrett — nichts als Staub. Und die Zukunft ist eingehüllt in Schweigen…—