Lob der Freundschaft, Teil I


Lob der Freundschaft

I/III

 

Mein Freund S. war 52 Jahre älter als ich und ist mittlerweile seit 25 Jahren tot. In B. diente er als Erzieher in jenem Internat, dem ich selbst in den Jahren von 1970 bis 1976 angehörte. Nach seiner Pensionierung bezog er eine neue Wohnung in der Internatsstadt. Während mei­ner Mittagsfreizeit stand ich dort oft vor seiner Tür. Bei Tee und Gebäck tausch­ten wir uns über alles aus, was uns bewegte. Nie mehr habe ich seitdem solche unbeschwerten Stunden des Erzählens erlebt.

Ich versuche, die geistige Welt meines Freundes aus persönlichen Erinnerungen anzudeuten und einige Aspekte zu reflektieren. Aus der Fülle der Themen wähle ich als besonders charakteristisch die griechisch-römische Antike, Augustinus, die Weimarer Klassik, Stefan George und Thomas Mann. Ein grobes Raster, das aber eine Orientierung bieten mag.

Griechisch-römische Antike – für uns Schüler in den siebziger Jahren des ver­gangenen Jahrhunderts eine Angelegenheit von Vokabeln, Grammatik und Wör­terbuch. Für unsere alten Lehrer ging aber mit dem Erlernen der klassischen Sprachen noch eine Haltung einher, die Ausdruck des Gefühls war, im Umgang mit der Antike, mit dem perikleischen Zeitalter zum Beispiel, in den Dienst einer unvergleichlichen Blütezeit der Menschheitsgeschichte zu treten. Hatten unsere Lehrer Recht damit? Mein Freund, der nicht mehr unser Lehrer war, aber die­selbe Haltung verkörperte? Die Fülle bahnbrechender Geister auf den verschie­densten Gebieten wie Philosophie, Poesie, Architektur, Bildende Kunst, Mathe­matik, Astronomie oder Politik bestimmte die Nachgeborenen zu der Vermutung, es müsse sich um ein begünstigtes Geschlecht gehandelt haben, bei dem die Sehnsucht nach einem freien und erhabenen Leben, wie wir es selbst in die Zu­kunft träumten, Gestalt gewonnen hatte. Gibt es so etwas wie das allgemeine Lebensgefühl einer Epoche, das sich vergleichen lässt mit dem Gefühl anderer Epochen? Steht nicht andererseits jede Epoche nach einem bekannten Diktum „unmittelbar zu Gott“, das heißt: unvergleichbar für sich zu Gott? Stritten die Griechen nicht auch untereinander im Heerlager vor Troja? Und verlor Odysseus nicht alle seine Gefährten, bevor er heimkehren konnte nach Ithaka? Wem das zu abgehoben erscheint, der schaue sich die Lebensläufe des Perikles oder Themistokles an: Kampf allenthalben. Trotzdem bleibt die griechisch-römische Antike der Traum eines Lebens, das vielleicht einmal war, wie es sein soll – und vielleicht wieder neu entstehen kann.

 

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Das abendliche Gebet in der Kapelle gestalteten die Erzieher abwechselnd nach ihrer Art. Mein Freund sprach einmal über Augustinus und beendete seine An­sprache mit dessen viel zitiertem Wort: „Liebe und tu, was du willst!“ Später schenkte er mir einen Aufsatz von sich über den Kirchenvater, in dem er die „Be­kenntnisse“ untersuchte. Nun war ich genügend aufmerksam geworden. Vor al­lem das elfte Buch der „Bekenntnisse“ hat sich mir eingeprägt. Da sich die Macht der Zeit auch mir – dem Fünfzigjährigen – unabweislich aufdrängt, will ich über das rätselhafte Phänomen eigene Bemerkungen machen. Jedes Nachdenken über die Zeit gerät an die Aporie, dass sie „angefangen“ haben muss, weil eine unendliche Zeit unvorstellbar ist und jedenfalls nie bis zu uns, den Nachdenken­den, gelangt. Zeit ist nicht Stillstand, sondern Zeit-Fluss. Ein „Uranfang“, wie Au­gustinus sagt, bleibt rätselhaft, weil er vor der Zeit liegt. Der Alternativgedanke ist ein abgeschlossenes Ereignis, das sich unendlich wiederholt („kreisförmig“ ist). Hier gibt es nur die Bruchstelle zwischen Ende und Anfang, aber kein rätselhaf­tes „Davor“ (oder – um im Bild des Kreises zu bleiben – den „nahtlosen“ Über­gang zwischen beiden Stadien). Aber ich gerate in die Theorie und will mich lieber darum kümmern, wie ich Zeit verbringe, was es für mich heißt, Zeit zu nut­zen oder sie ungenutzt verstreichen zu lassen! Auch hier gibt es keine eindeutige Antwort; permanente Arbeit, die vordergründig als sinnvolle Nutzung der Zeit er­scheinen mag, ist nicht durchführbar. Die Frage nach dem richtigen Maß von Ar­beit und Erholung drängt sich auf. Als ich noch Internatsschüler war, bezeichnete ein genauer Tagesablauf die Stunden für Lernen und Freizeit. Aber als Erwach­sener, der sich über einen Mangel an amtlichen und privaten Verpflichtungen nicht beschweren kann, ist diese schöne Ordnung ins Wanken geraten; jede Mu­ßestunde, die Erschöpfung und Müdigkeit diktieren, droht ein schlechtes Gewis­sen zu machen. Zeit in Abhängigkeit von Raum und Bewegung ist eine geläu­fige Formel; für meine Zwecke will ich darauf rekurrieren, dass Bewegung Ener­gie benötigt. Kann ich Zeit umso besser nutzen, je mehr geistig-seelische Ener­gie ich zur Verfügung habe? „Nutzen“ heißt ausfüllen, heißt letztlich Sinn gestal­ten. Dieser Sinn bringt mich in gleichen Takt mit der Zeit, die ich immer nur ge­genwärtig zur Verfügung habe. Das Ideal besteht in einem „Aufgehen“ meines gesamten Energievorrats in der Gegenwart, ohne nostalgischen Verlockungen zu erliegen oder ängstlichen Blicken in die Zukunft. Was früher war, soll mich jetzt „tragen“ oder besser noch: „anschieben“; was kommen mag, soll mir ebenfalls zum Ansporn dienen für gegenwärtiges Handeln! Gibt es hierbei ein „Ankommen“ dergestalt, dass ich mich am Ziel meiner Bemühungen um vollständige Präsenz weiß? Das wäre wie in manchen Filmen: mit der Gloriole am Ende… Wichtig ist, mich der Möglichkeit – sei es nur als Gedanke! – des Aufschwungs in die voll­ständige Präsenz bewusst zu bleiben – ohne dieses letzte Ziel zu erreichen, das ich meiner Kraft nicht zutraue. Es liegt vielleicht auch nicht mehr in der Zeit, son­dern – in der Ewigkeit.

 

 

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