Heute stelle ich ein Essay vor, das meine liebe Kollegin Renate Luig über Rose Ausländer geschrieben hat. Wie ich finde sehr lesenswert!
„Liebend duz ich die Dinge“.
Über Rose Ausländer
Von Renate Luig
Liebe Rose,
gestatte, dass ich diese persönliche Form wähle. Die Briefform ist zwar ungewöhnlich für einen Essay wie diesen, der sich mit einem bestimmten Thema, einem „Gegenstand“, befasst und also um Objektivität bemüht sein sollte. Viele deiner Texte aber berühren mich so persönlich, dass ich eine große Nähe zu dir fühle, und daher erscheint es mir passender, zu dir als über dich zu sprechen. Du kannst dich nicht mehr dagegen wehren, leider…
Natürlich sind wir uns nie persönlich begegnet: Du bist ziemlich genau ein halbes Jahrhundert vor mir geboren (1901), und als du starbst (1988), hatte ich womöglich deine Gedichte noch gar nicht kennen gelernt. Wann das passierte, weiß ich gar nicht mehr genau; vermutlich bekam ich eine der vielen Anthologien in die Hand, die seit den 70er Jahren gerne deine Texte aufnahmen. Jedenfalls war ich sofort begeistert von deiner klaren, schnörkellosen, uneitlen Sprache, ihren treffenden Bildern, ihrer verzaubernden Kraft. Deine Gedichte sind nicht hermetisch, weisen den Leser nicht ab, sondern laden ihn ein, in sie einzutreten und dabei eigene Entdeckungen zu machen, etwas von sich selbst wiederzufinden.
Das empfinden inzwischen wohl viele Menschen so. Nachdem du lange, sehr lange auf ein breiteres Interesse in der deutschsprachigen Öffentlichkeit warten musstest – du gingst damals schon auf die 70 zu -, ist nun dein Name weithin bekannt. In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurde dein Gesamtwerk ediert, wurden zahlreiche akademische Arbeiten über dein Werk verfasst, und heute sind deine Texte auch im Internet sehr präsent. Das mag auch an ihrer vermeintlichen Einfachheit liegen – immer wieder begegnen einem einige „greatest hits“, aber ich finde, deine Gedichte vertragen das. Sie werden auch durch häufiges Polieren nicht blind, sondern bewahren ihre Schönheit.
Ein Beispiel:
Gemeinsam
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsere
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
In der Tat ist die Grundaussage des Gedichts schon nach einmaligem Lesen klar. Aber es lohnt sich, länger dabei zu verweilen, um auch die handwerkliche Kunstfertigkeit deines Textes zu erkennen. Das zentrale Wort ist „gemeinsam“. Es stellt nicht nur den Titel des Gedichts dar, sondern taucht dreimal darin auf (Z.3, 10, 18), bildet also den Rahmen und die Mitte des Textes. Es hat einen altertümlichen Klang, erinnert an „Gemeinschaft“, etwas „gemein haben“ mit jemandem, und auch das Gegenteil, „einsam“, schwingt klanglich mit. Damit ist das Thema klar bezeichnet: Wir leben „gemeinsam“ auf der Erde, die uns auch eigentlich „gemeinsam“ gehört, aber vielfach „geteilt“ und „zerrissen“ ist. Außerdem bietet sie uns nicht eine feste, statische Basis für unser Leben, sondern wir „reisen“ auf ihr – sofort wird damit das Bild des schönen, aber auch zerbrechlichen blauen Planeten wach, auf dem wir durch das All fliegen. Wir müssen ihn schützen, denn aussteigen können wir nicht. Wir sitzen, um ein anderes Bild zu gebrauchen, „in einem Boot“. Diese Erde beschenkt uns alle mit ihren Schönheiten (Z.4-7), lässt uns „aufblühen“, aber „vernichtet“ uns auch – wir sind sterblich. In zwei sich steigernden Paradoxa wird diese Erde als zwar „geteilt“, „zerrissen“, aber eigentlich doch „ungeteilt“ beschrieben (Z. 11f / 15f).
Die Tonlage des gesamten Gedichts ist beschwörend, erinnert durch den wiederholten, bewusst altertümlichen Imperativ „vergesset nicht“ an eine Predigt, wobei die Leser / Zuhörer allerdings nicht von oben herab belehrt, sondern auf Augenhöhe als „Freunde“ angesprochen werden – gemeinsam eben müssen sie handeln. Der Appell ist leidenschaftlich („ach“, Z.12), aber noch besteht Hoffnung.
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um deutlich zu machen, dass hinter der schlichten Schönheit deiner Texte sehr viel handwerkliches Können und Ringen steckt. Und nebenbei wirkt dein Text heute, fast 30 Jahre nach deinem Tod, geradezu prophetisch: Mit Bangen wird erwartet, ob die nächste Klimakonferenz endlich wirklich wegweisende Schritte zur Rettung unseres Planeten beschließt, und Papst Franziskus’ jüngste Enzyklika „Laudato si“ wirkt wie von deinem Gedicht inspiriert.
Wie gesagt, du musstest lange warten, bis dein Werk im deutschsprachigen Raum wirklich wahrgenommen und rezipiert wurde – und das, obwohl du schon in früher Jugend mit dem Schreiben begonnen hattest. Dir ist sogar etwas gelungen, was viele andere SchriftstellerkollegInnen vergeblich versuchten: Du hast es vermocht, dir eine Fremdsprache – in deinem Fall Englisch – so gut anzueignen, dass du auch in ihr Gedichte schreiben konntest und es damit sogar zu einer beachtlichen Bekanntheit gebracht hast.
Doch beginnen wir von vorn:
Dein Lebensanfang ist keineswegs unbeschwert, sondern steht unter einem dramatischen, ja traumatischen Vorzeichen: Drei Monate zuvor haben deine Eltern ihren erstgeborenen, damals vierjährigen Sohn durch einen schlimmen Unfall verloren. Auf einem Spaziergang wurde er von einem durchgehenden Pferdegespann überrannt, von dem schweren Fuhrwagen überrollt und tödlich verletzt. Ähnliches ereignet sich, als du selbst vier Jahre alt bist und, dem heimkehrenden Vater entgegenlaufend, ebenfalls unter ein Fuhrwerk gerätst, aber wie durch ein Wunder unverletzt bleibst. Das Entsetzen der Eltern kannst du damals kaum ermessen; ich jedoch stelle mir vor, dass sie dich durch diesen zweimaligen Schock in ganz besonderer Weise mit Liebe und Fürsorglichkeit überhäuft haben werden. Auf einem Foto aus dem gleichen Jahr – 1905 – thronst du jedenfalls wie eine kleine, ernste Prinzessin zwischen ihnen. Im folgenden Jahr wird dir noch ein jüngerer Bruder, Max, geboren. Ihm wirst du ein Leben lang eng verbunden bleiben, auch wenn ihr die meisten Jahrzehnte eures Lebens auf unterschiedlichen Kontinenten verbringt.
Du wächst als Rosalie Beatrice Scherzer und Kind jüdischer Eltern in der Stadt Czernowitz in der südlichen Bukowina (heute Ukraine) auf. Deine Kindheit und Jugend beschreibst du als außerordentlich glücklich, und deine Heimat bleibt für dich dein Leben lang Sehnsuchtsort: „Warum schreibe ich? Vielleicht, weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt, die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Philosophieliebhaber beherbergte.“1 Die multikulturelle Bukowina war damals Teil des Habsburgerreiches, Czernowitz hatte eine eigene Universität, es existierten zahlreiche Debattier- und Lesezirkel, die rege besucht wurden.
Doch jäh endet dieses unbeschwerte Leben: mit vierzehn Jahren – inzwischen ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen und Czernowitz heftig umkämpft – musst du zum ersten Mal fliehen. Über Budapest führt euch euer Weg nach Wien, wo deine Familie bei Verwandten Unterschlupf findet. Zwar gibt es zunächst noch eine gewisse Normalität in eurem Alltag – du schließt z.B. die sog. Mittelschule und danach eine zweijährige Handelsschule für Mädchen ab -, aber dein ganzes weiteres Leben wird von nun an von Flucht, Vertreibung und häufigen Ortwechseln geprägt sein.
1919 kehrt ihr in eure Heimat zurück, die inzwischen zu Rumänien gehört. Du nimmst vorübergehend eine Arbeitsstelle an, und in einem philosophischen Zirkel befasst du dich intensiv mit den Lehren Platos, Spinozas und des damals in Potsdam lebenden jüdischen Philosophen Constantin Brunner. Als Gasthörerin beginnst du im Jahr darauf mit dem Studium der Philosophie und Literatur an der Universität. Doch bald trifft dich der nächste Schicksalsschlag: Im Alter von noch nicht einmal 50 Jahren stirbt überraschend dein Vater. Kurz darauf eröffnet dir die Mutter, dass sie die Familie nicht mehr ernähren könne und auf die Dauer in Czernowitz keine Perspektive für dich sehe. Sie drängt dich, in die USA auszuwandern, wo es Verwandte gibt, und dort dein Glück zu versuchen. Zwar wählen zu dieser Zeit viele gebildete junge Leute diesen Weg, aber dennoch erlebst du das wie ein Verstoßenwerden. Zeitlebens bleibt neben der Sehnsucht nach der Heimat die nach der Mutter ein bestimmendes Thema für dich.
Der Fortgang deines langen, bewegten Lebens sei hier nur überblickartig skizziert: Mit noch nicht ganz 20 Jahren (Frühjahr 1921) wanderst du also, zusammen mit deinem Freund Ignaz Ausländer, in die USA aus. Nach einer kurzen Zeit in einer Kleinstadt am Mississippi siedelt ihr nach New York über, wohin du auch künftig in deinem unsteten Leben immer wieder aufs Neue zurückkehren wirst. Du arbeitest zunächst als Bankangestellte, später als Fremdsprachenkorrespondentin, daneben als freie Mitarbeiterin verschiedener Zeitschriften. Zu deiner eigentlichen Arbeit aber wird immer mehr das Schreiben von Gedichten, womit du bereits als Schülerin in Wien begonnen hast. Mit 22 Jahren heiratest du deinen Freund Ignaz Ausländer, aber eure Ehe währt nur kurz: Drei Jahre später, 1926, begegnest du bei eurem ersten Heimatbesuch der großen Liebe deines Lebens, dem Graphologen Helios Hecht. Sofort trennst du dich von deinem Mann und beziehst mit deinem Geliebten eine gemeinsame Wohnung. Bewegte Jahre mit wechselnden Wohnorten in New York und Bukarest folgen, aber auch dieser Liebe ist keine Dauer beschieden: Nach einem längeren Zerwürfnis trennst du dich 1935 von ihm, aber du wirst es nie verwinden. Noch als über Achtzigjährige schreibst du Gedichte auf ihn.
Insgesamt viermal pendelst du bis 1939 zwischen Europa und den USA: Nach der ersten Einreise mit Ignaz Ausländer fährst du ein zweites Mal nach Amerika, weil es für die Scheidung nötig ist, und ein weiteres Mal, um die amerikanische Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren (deren Beibehaltung allenfalls drei Jahre Abwesenheit erlaubt).Dieses Unglück widerfährt dir schließlich dennoch, und notgedrungen bemühst du dich um die rumänische Staatsbürgerschaft. Im Jahre 1939 organisieren besorgte amerikanische Freunde für dich eine Einladung zu einer Lesung nach New York, um dich vor dem heraufziehenden Nazi-Terror in Sicherheit zu bringen. Seit gerade einmal vier Wochen bist du dort – genau zu der Zeit, als Deutschland Polen überfällt -, da erreicht dich der Hilferuf deiner Mutter, die schwer an Herzasthma erkrankt ist. Gegen alle Bedenken entscheidest du dich zur Rückkehr nach Czernowitz und übernimmst ihre Pflege. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Deine Stadt wird erst von sowjetischen Soldaten (1940), dann von SS-Truppen (1941-44) besetzt. Ihr werdet zu Gefangenen im neu eingerichteten Ghetto, du musst schwere Zwangsarbeit leisten, in einem Kellerversteck entgeht ihr der drohenden Deportation in ein Todeslager. 1944 wird Czernowitz von russischen Truppen eingenommen, zwei Jahre später gelingt dir, wiederum mit Hilfe von Freunden, die erneute Ausreise nach New York. Du hoffst, deine Familie später nachholen zu können, und nimmst eine Arbeit an. Als dich aber im Jahr 1947 die Nachricht vom Tod deiner Mutter erreicht, erleidest du einen völligen körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Heimat und Mutter zu verlieren – das geht offensichtlich über deine Kräfte, das erlittene Trauma der letzten Jahre lässt sich nicht länger verdrängen. Nur langsam erholst du dich, und in den Folgejahren beginnt wiederum ein ruheloses Pendeln zwischen Amerika und Europa. Stets wohnst du in möblierten Zimmern, immer wieder änderst du deine Pläne, besuchst Freunde in der alten Heimat, unternimmst Reisen… Finanziell hältst du dich mit einer Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin über Wasser, aber deine eigentliche Arbeit ist das Schreiben. Acht Jahre lang es dir unmöglich, die „Sprache der Mörder“ zu verwenden, du schreibst ausschließlich in Englisch. Erst 1956 gelingt es einer Schriftstellerkollegin, dir behutsam wieder den Zugang zu deiner Muttersprache zu ebnen.
In den Folgejahren wird dir klar, dass zwar deine äußere Heimat verloren ist, aber die Sprache – und zwar die deutsche Sprache – dir zur inneren Heimat werden kann. Du beginnst deine endgültige Rückkehr vorzubereiten, und nach einer Zwischenstation in Wien wagst du 1965 den Schritt, dich in Deutschland niederzulassen. Du beziehst eine Pension in Düsseldorf, lebst weiterhin nur aus Koffern und bist viel auf Reisen. In einem Alter, in dem andere in den Ruhestand gehen, beginnt für dich die produktivste Phase deines Lebens als Schriftstellerin – und endlich auch wirst du im deutschsprachigen Raum bekannt und anerkannt. Im gleichen Jahr, 1965, erscheint dein erster Gedichtband seit 1939, alle ein bis zwei Jahre folgen weitere, manchmal sogar mehrere in einem Jahr. Du erhältst Preise und Ehrungen, und eine Rente samt Entschädigung als Verfolgte des Naziregimes sichert dir seit 1966 ein sicheres Auskommen. Mit 71 Jahren (1972) ziehst du dir bei einem unglücklichen Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zu und wirst pflegebedürftig. Du beziehst ein Zimmer im Nelly-Sachs-Haus, dem Elternhaus der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Was zunächst als befristete Zwischenstation gedacht war, wird zum Dauerzustand: Die verbleibenden 16 Jahre deines Lebens wirst du in diesem Haus wohnen bleiben. Nach 6 Jahren triffst du eine extreme Entscheidung: Du erklärst dich als bettlägerig, obwohl dazu keine medizinische Notwendigkeit besteht, und verlässt für die restlichen 10 Jahre dein Bett nicht mehr. Du möchtest dich nur noch, ohne jede Ablenkung, dem Schreiben widmen. Und in der Tat erscheinen in den Folgejahren noch 8 Bände deiner Gedichte. Im Juli 1986 beendest du dein Schreiben, erklärst, es sei dir kein Bedürfnis mehr, und erwartest gelassen deinen Tod, der am 3.1. 1988 eintritt.
Was für ein Leben! Die schlimmen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts – zwei Weltkriege, Nationalsozialismus, Shoah – haben dich, wie Millionen andere, zum Opfer gemacht, deiner Heimat beraubt, an Leib und Seele verwundet. Allein der Umgang mit Sprache – Lesen und Schreiben – hilft dir zu überleben, wie du einmal bekennst. Nach dem Krieg findest du über die Freundschaft mit Paul Celan, den du im Ghetto von Czernowitz kennen gelernt hast, Anschluss an die moderne Lyrik, erwählst später deine Muttersprache (!) zum Ersatz für die verlorene Heimat. Und verlierst weder deine Menschenliebe noch den Blick für das Schöne im Leben:
Mit euch allen
Schweben
mit dem Vogel
mit der Sonne
leuchten
rollen mit der
Erde
Mit euch allen
feiern
das unverlässliche
Leben
Deiner Wurzeln bleibst du dir stets bewusst. Sie kommen in deinem Werk immer wieder zu Wort. So setzt du z.B. deiner Mutter ein, wie ich finde, sehr anrührendes Denkmal mit dem folgenden Gedicht:
Mutterlicht
Mai
mein Monat
da habe ich
meine Mutter geboren
Sie sang JA
zu mir
Maikäfer
tanzen noch immer
um ihr Licht
Heim-Weh im tiefsten Sinne des Wortes empfindest du, wenn du an die Landschaft denkst, in der du aufgewachsen bist und die nun unwiderruflich verloren ist. Auch einer Leserin wie mir, die sie nicht kennt, tritt sie in deinen Bildern lebendig vor Augen:
Bukowina III
Grüne Mutter
Bukowina
Schmetterlinge im Haar
Trink
sagt die Sonne
rote Melonenmilch
weiße Kukuruzmilch
ich machte sie süß
Violette Föhrenzapfen
Luftflügel Vögel und Laub
Der Karpatenrücken
väterlich
lädt dich ein
dich zu tragen
Vier Sprachen
Viersprachenlieder
Menschen
die sich verstehn
Dein Vater wurde zwar in seiner Kindheit und Jugend vom orthodox- chassidischen Judentum geprägt – er wuchs am Hof des sog. Rabbi von Sadagora auf -, aber in deiner Familie ging es, was die Religion betraf, dennoch eher liberal zu. Es war wohl erst die Erfahrung von Verfolgung und Shoah, die dir diesen Teil deiner Identität wirklich bewusst machte. Wie sehr du dich eingebunden fühlst in die Geschichte des jüdischen Volkes, welche Verantwortung du als Überlebende spürst, zeigt exemplarisch das folgende Gedicht:
Ich stehe ein
Mit meinem Volk in
die Wüste gegangen
ich betete nicht
zum Schlangen- und
Sandgott
Oasenglück
Manna und Moseswasser
einfache Wunder
gegessen getrunken
Vielhundert Jahre gewandert
Von Wort zu Wort
Ich bin nicht
ich werde und stehe ein
für das unverlässliche Leben
Da ist es wieder, das „unverlässliche Leben“. Es könnte als Leitmotiv für dein Werk dienen: Wie nur wenige deiner Leser hast du dieses Leben als zutiefst „unverlässlich“ erfahren: Jeden Augenblick, musstest du lernen, kann sich der Boden unter dir auftun, kannst du alles verlieren, was bisher dein Leben ausmachte. Und doch „stehst“ du „ein“ für dieses Leben, willst es „feiern“ – anders als „unverlässlich“ ist es eben nicht zu haben, für niemanden.
Eine wichtige geistige Wurzel war für dich die Philosophie Spinozas. Ihm hast du u.a. dieses anrührende Gedicht gewidmet:
Spinoza II
Mein Heiliger
heißt Benedikt
Er hat das Weltall
klargeschliffen
Unendlicher Kristall
aus dessen Herz
das Licht dringt
Als Autor wählte Baruch Spinoza die latinisierte Form seines Namens, „Benedictus de Spinoza“. Sicher hat dir an dieser Namensvariante auch gefallen, dass sie übersetzt in etwa „das gut Gesagte“ bedeutet. „Mein Heiliger heißt Benedikt“ – mit dieser augenzwinkernden Anleihe bei der katholischen Tradition der Heiligenverehrung nimmst du ihn zugleich in Schutz vor seiner eigenen jüdischen Gemeinde, die ihn „wegen schrecklicher Irrlehren“ unter extremen Verwünschungen aus ihren Reihen ausschloss. Mit dem Schleifen optischer Linsen musste er seinen Lebensunterhalt verdienen, aber besseren Durchblick verschaffte er nicht nur den Brillenträgern, die seine Kunden waren, sondern bis heute allen, die sich mit seinen Gedanken auseinandersetzen. Er bot einen Blick auf die Welt und das All an, der ermöglichte, diese Unendlichkeit nicht als kalt und seelenlos, sondern als eins mit Gott zu sehen.
Eins meiner Lieblingsgedichte zeigt, wie sehr dein „Heiliger“ dich geprägt hat. Es lautet:
Verwandelt
Mit meinem Blau
male ich Sterne
Liebend
duz ich die Dinge
Aus gleichem Stoff
alles
verwandelt
in Licht in Finsternis
Geist
leiser Leib
Was du hier mit wenigen, berückend schönen Formulierungen hintupfst („male ich“), verdankt sich sicherlich deinem verehrten „Heiligen“, der ja damals schon lehrte, dass Geist und Materie keine gegensätzlichen Substanzen sind. Auch die heutige Astrophysik, jedenfalls in populärwissenschaftlichen Auslegungen, nähert sich dem an: „Wir sind Sternenstaub“, lautet eine geläufige Aussage. Und nicht zuletzt die mystische Erfahrung – aller Religionen – weist auf die Verbundenheit von allem Seienden hin. Dir aber genügen 23 Worte, um den Lesern einige zauberhafte Bilder zu schenken und ihnen von einem mystischen Augenblick zu erzählen, in dem für dich die Dinge einmal durchsichtig geworden sind. (Korrekterweise wäre davon auszugehen, dass hier das sog. lyrische Ich spricht und nicht einfach die Autorin; ich bin mir aber ziemlich sicher, dass du hier von dir selbst sprichst.)
Wenn ich überlege, woran es eigentlich liegt, dass ich deine Texte so sehr liebe, dann ist es wohl genau dies: dein sorgsamer, achtsamer Umgang mit der Sprache. Deine Gedichte sind einerseits offen, laden den Leser ein, mitzugehen – andererseits aber sind sie wirklich ver-dichtet: kein Wort ist überflüssig, jedes steht genau da, wo es hingehört, um Phantasie und Herz des Lesers zu erreichen; jedenfalls kommt es mir so vor. Gerade in unserer heutigen Zeit der Reizüberflutung, der hektisch-überdrehten Produktion von Büchern und Medien aller Art, der massenhaften Phrasendrescherei eine wahre Wohltat! Es wirkt geradezu aus der Zeit gefallen, wie du deine Arbeitsweise beschreibst: „Mein Arbeitstempo ist sehr schnell und sehr langsam: Die erste Fassung eines Textes – Lyrik oder Kurzprosa – erfolgt meistens in wenigen Minuten. Dann beginnt die tagelange, wochen- und manchmal jahrelange Arbeit, das Be- und Umarbeiten. Von manchen Gedichten mache ich zwanzig Fassungen, bis eine mich befriedigt – oder keine.“2 Du hast dich dem Literaturbetrieb und seinen Zwängen nie untergeordnet, hast dir die innere Unabhängigkeit bewahrt, ganz allein über deinen Arbeitsstil zu entscheiden – das bewundere ich sehr. Ein anderes Mal schreibst du: „Warum ich schreibe? Weil Wörter mir diktieren: schreib uns. Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. Eine Wortphalanx für, die andere gegen mich. Ins Papierfeld einrücken wollen sie, da soll der Kampf ausgefochten werden. Ich verhalte mich oft skeptisch, will mich ihrer Diktatur nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind. Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich, bis ich nachgebe. So, jetzt lasst mich in Frieden. Aber Wörter sind keine fügsamen Figuren, mit denen man nach Belieben verfahren kann. Ich hätte sie missverstanden, behaupten sie, sie hätten es anders gemeint. Sie seien nicht auf der richtigen Stelle untergebracht, murren sie. Scheinheilige, die friedfertig und unbewegt auf der weißen Fläche stehen. Das ist Täuschung. Hart sind sie, auch die zartesten. Wir sehen uns an, wir lieben uns. Meine Bäume, meine Sterne, meine Brüder: in diesem Stil rede ich zu ihnen. Sie drehen den Stil um, greifen mich an, zwingen mich, sie hin- und herzuschieben, bis sie glauben, den ihnen gebührenden Platz eingenommen zu haben.“3
Auch wenn die wenigsten Menschen lyrische Gedichte schreiben: Wie gut täte uns allen nur ein winziger Bruchteil dieser deiner Achtsamkeit der Sprache gegenüber!
Dein Biograph und Verleger Helmut Braun hat dich während deiner Zeit im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf über mehr als zehn Jahre lang regelmäßig wöchentlich besucht. Ich stelle mir vor, auch ich hätte ein paar Mal dazu die Gelegenheit gehabt: Hätten wir uns verstanden? Wäre da eine Sympathie gewesen? Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, dass du auch etwas sehr Herbes, um nicht zu sagen, Hartes in deinem Charakter hattest. Allein die Entscheidung, freiwillig ab einem gewissen Tag das Bett nicht mehr zu verlassen, um nur noch ungestört schreiben zu können – unvorstellbar! Du hast damit, so kommt es mir vor, eine Art archimedischen Punkt gewählt: außerhalb der Alltagswelt, an der du nicht mehr teilnahmst, hast du versucht, mittels deiner Sprachkunst, deiner Phantasie, deiner Leidenschaft auf sie einzuwirken. Aber liegt darin nicht auch eine Art Hybris? Nur wenige ausgewählte Menschen durften dich besuchen; den Kontakt zu allen anderen empfandest du – ja, als was? Als Zeitverschwendung?
Über viele Jahre hinweg hast du außerdem ein Geheimnis um dein Geburtsjahr gemacht, dich deutlich jünger gemacht, als du warst, und auch deine beiden ersten Amerikaaufenthalte gerne verschwiegen. Warum das? Auch dein Biograph H. Braun rätselt darüber und nennt mehrere denkbare Gründe. Befremdlich bleibt diese Tatsache in jedem Fall.
Aber auf solche Dinge kommt es nicht an.
Was zählt, ist dein Werk, mit dem du uns beschenkt hast – ein Werk, das du dir dein ganzes Leben lang, teilweise unter schwierigsten Bedingungen, abgerungen hast. Das Vertrauen, es gebe so etwas wie einen tragenden Grund im Leben, ging dir dabei verloren. Allenfalls im Konjunktiv Irrealis kannst du diese Möglichkeit bedenken, und es schwingt Sehnsucht mit:
Als gäbe es
Als gäbe es
einen Himmel
und eine aufblickende
Erde
Als gäbe es
leuchtendes Blau
dumpfes Braun
Als gäbe es
Erdworte
überirdische Worte
Als gäbe es
Deinwort Meinwort
dich und mich
Das aber bleibt und lässt uns leben, hilft uns, uns dem Leben anzuvertrauen: Die wirkliche Begegnung mit einem anderen Menschen, in der beide sich berühren lassen und Resonanz erfahren:
Wort an Wort
Wir wohnen
Wort an Wort
Sag mir
dein liebstes
Freund
meines heißt
DU.
Danke, Rose.
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Anmerkungen:
1 zit. nach: Helmut Braun: Ich bin fünftausend Jahre jung. Rose
Ausländer. Zu ihrer Biographie, Stuttgart 1999, S.7
2 Helmut Braun (Hg): Rose Ausländer. Materialien zu Leben und
Werk, Frankfurt 1991, S.67
3 Vgl. Anm.1, S.156
Verwendete Literatur:
- Rose Ausländer: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. von Helmut Braun, Frankfurt 1984ff
- Helmut Braun: Ich bin fünftausend Jahre jung. Rose Ausländer. Zu ihrer Biographie, Stuttgart 1999
- Helmut Braun: Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk, Frankfurt 1991
Renate Luig, im November 2015