Leseprobe aus Schuld und Menschlichkeit: Neun Schüsse ins Gesicht


Neun Schüsse ins Gesicht: eine Leseprobe aus „Schuld und Menschlichkeit“ von Constantin Himmelried

„Kaltblütiger Mord auf dem Parkplatz“, „Killer erschießt Mann im Auto“, so lauteten die Pressemeldungen auf den Titelseiten der Zeitungen. „Mit neun Schüssen ins Gesicht hingerichtet“ titelte ein großes Tagesblatt, darunter verpixelte Bildaufnahmen eines mit Blut verschmierten Fahrzeuginnenraums.

 

Yusuf bekam diese Titelseiten nicht mit. Er wurde gerade mit angelegten Handschellen von der Polizei in die JVA gefahren. Sie hatten ihn auf frischer Tat ertappt. Die Pistole noch in der Hand. Ein Lächeln im Gesicht. Ein kaltblütiger Killer. Die Polizisten waren nervös. Sie hatten ihre Schutzwesten noch an und die Hand an der Pistole. In der JVA wurde er von sechs Beamten empfangen und in eine Zelle gebracht. Ein rotes Schild wurde von außen unter der Zellennummer angebracht. Damit wusste jeder, dass hier jemand gefährlich war. Einzelhaft. Sie mussten ihn erst kennenlernen.

 

Nach sechs Wochen wurde er in den Haupttrakt verlegt und bekam eine Zelle auf dem Gang zwischen all den anderen Gefangenen: Drogendealer, Totschläger, Mörder, Betrüger, Kleinkriminelle. Der Inkubator des Bösen. Er aber war ein Killer. Ein eiskalter Killer. Die anderen Gefangenen wussten sofort, wer er war. Der Knast ist eine Welt für sich. Nichts bleibt geheim. Die Beamten hatten schon Tage vorher verlauten lassen, dass der Parkplatzkiller bald hierher verlegt werde.

 

Beim ersten Hofgang mit den anderen Gefangenen traute sich kaum jemand, ihn anzusprechen. Ein paar Landsleute – Yusuf war Deutscher, hatte aber türkische Wurzeln – grüßten ihn ehrfürchtig. Er grüßte zurück. Nach ein paar Wochen hatten sie sich an ihn gewöhnt. Er war nett. Sogar souverän. Ein angenehmer Mithäftling. Um ihn herum bildete sich eine kleine Gruppe Landsleute und sie kochten gemeinsam und lachten. Im Knast fragt man den anderen nicht nach seiner Tat. Hier sind alle gleich. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen.

 

Yusuf bekam einmal im Monat Besuch von seiner Frau und seinen beiden Kindern. Ihm war klar, dass er lebenslänglich bekommen würde. Fünfundzwanzig Jahre würde er im Knast verbringen. Auch seiner Frau hatte er das klargemacht. Die Kinder verstanden es noch nicht. Der Sohn war vier, die Tochter gerade zwei geworden. „Irgendwann werden sie es begreifen”, sagte er zu seiner Frau und streichelte seiner kleinen Tochter dabei zärtlich über den Kopf, während sein Sohn in der Spielecke des Besucherzimmers mit den Bausteinen spielte. Wenn seine Frau mit den Kindern kam, wurde der Besucherraum für andere gesperrt. Er war ein Killer und Killer sind gefährlich. Die Beamten – vier an der Zahl standen im Besucherzimmer verteilt – waren aber trotzdem sichtlich berührt von der Herzlichkeit, die in dieser kleinen Familie herrschte. Beim Abschied flossen stets Tränen. Seine Frau konnte sie nicht halten und ging dann weinend mit der Tochter im Arm und dem Sohn an der Hand aus der einen Tür des Besucherzimmers, während er, eskortiert von den vier Beamten, den Raum durch die gegenüberliegende Tür verließ.

 

Für den Staatsanwalt war es ein einfacher Fall. Mord. Kaltblütiger Mord. Die Beamten hatten sauber ermittelt. Zeugen befragt. Klassischer Mord aus niedrigen Beweggründen. Yusuf hatte beim Opfer, einem stadtbekannten Geldhai mit großem Vorstrafenregister, Geld geliehen und konnte es nicht zurückzahlen. Daher – so das Ergebnis der Ermittlungen – brachte Yusuf ihn um. Fall gelöst. Die einzige Besonderheit hier schien das hohe Maß an Brutalität der Tat zu sein: am helllichten Tage mit einer Pistole bewaffnet auf einem gut besuchten Parkplatz eines Supermarktes auf das im Auto wartende Oper zuzugehen und durch das geöffnete Fenster der Fahrerseite neun Schüsse ins Gesicht abzufeuern. Menschen warfen sich vor Angst auf den Boden, als sie die Schüsse hörten. Kinder weinten. Und Yusuf stand nur da. Starrte sein Opfer an. Das Blut, das im Fahrzeuginneren verteilt war. Knochen und Gehirnfetzen klebten am Beifahrerfenster und auf dem Sitz. Die Polizei traf einige Minuten, nachdem Schüsse gemeldet worden waren, mit quietschenden Reifen am Tatort ein. Yusuf stand unbewegt und starrte in das Fahrzeug auf sein Opfer. Die Polizisten, die zuerst am Tatort waren, stellten ihren Wagen quer und versteckten sich mit gezogenen Pistolen hinter dem Wagen und schrien: „Waffe runter! Sofort auf den Boden legen!” Sie mussten es ein paar Mal wiederholen, bis Yusuf offensichtlich wieder zu sich kam. Er blickte sich um, schaute die Polizisten an, blickte auf die Waffe in seiner rechten Hand und ließ sie erschrocken fallen. „Als würde er aus einem Traum erwachen“, gab der Polizist zu Protokoll. Sofort legte er sich auf den Boden und streckte Arme und Beine aus. Er ließ sich widerstandlos festnehmen.

 

Die Ermittlungen waren abgeschlossen. Die Anklage fertiggestellt, alles innerhalb von nur vier Monaten. Der Prozess würde in den nächsten Monaten beginnen. Es würde ein kurzer Prozess sein. Die Sachlage war klar. Eindeutig.

 

Yusuf hatte einen Pflichtverteidiger, der sichtlich bemüht versuchte, Yusuf zu überreden, ein psychologisches Gutachten erstellen zu lassen, um die Strafe wenigstens ein bisschen abzumildern. Aber Yusuf winkte ab. „Ich bin kein Irrer“, sagte er ihm.

Die Gespräche mit seinem Anwalt waren immer sehr nett. Yusuf erzählte viel von seiner Frau. Wie sie sich kennengelernt hatten. Ihre Eltern kamen aus dem gleichen Dorf wie seine Eltern. Über diesen Zufall berichtete er seinem Anwalt bei jedem Besuch, als könnte er es immer noch nicht glauben, dass dieser Zufall die Bestimmung für sie beide war. Sie hatten sich zufällig im Supermarkt kennengelernt und sich sofort ineinander verliebt. In dem Supermarkt, auf dessen Parkplatz er einen Menschen hinrichtete. Eine Tat, welche die beiden nun für mindestens fünfundzwanzig Jahre trennen würde.
Yusuf wollte nicht über die Tat sprechen. Sein Anwalt fragte ihn, ob die Ermittlungsergebnisse korrekt seien, ob er den Mann umgebracht habe, weil er Schulden bei ihm habe. Yusuf bejahte. „Das Schwein hat seine gerechte Strafe bekommen. Jetzt bekomme ich meine.“ Damit war der Fall für Yusuf erledigt.

 

Sein Anwalt schrieb einen einzigen Satz, adressiert an die Staatsanwaltschaft: „Mein Mandant räumt die Tat vollumfänglich ein.” Doch als er das Schreiben gerade unterzeichnen wollte, hielt er inne. Er glaubte Yusuf nicht.

Er hätte seinen ersten großen Fall locker durchziehen können. Es war ein einfacher Fall. Die Presse würde über ihn als Anwalt des Parkplatzkillers berichten, was seiner Karriere als Strafverteidiger sicher gutgetan hätte. Wenig Arbeit, tolle Publicity.

Aber er entschied sich, den Fall zu lösen. Er wollte wissen, welches Geheimnis Yusuf verbarg.

 

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