Karfreitag — Eine Liebe stärker als der Tod
Eloi, Eloi, lamma sabachthani —
Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen…—?! (Mk., 15,34)
Die berühmten „Letzten Sieben Worte“ Jesu Christi, genau genommen, der mittlere, der 4. Satz. Von den synoptischen Evangelisten Matthäus und Markus bereits in der Septuaginta, der wohl ältesten Form der Bibel, in altgriechischer Koine überliefert. Dieser Aufschrei der Verzweiflung bildet den Anfang von Psalm 22, einem Psalm von König David.
Würden wir es wagen diesen Satz nicht nur zu zitieren, sondern ihn zu rezitieren, also nicht nur teilnahmslos wie ein Schulgedicht dahersagen, sondern ihn existenziell durchleben, ihn quasi als unser eigenes Scheitern und unsere eigene Verzweiflung zu erleben, dann könnten wir verstehen, was es heißt und was es ist: Gólgota, Schädelstätte.
Recht ungemütlich dort oben, am Holz des Kreuzes. Mit durchgeschlagenen Handgelenken und durchlöcherten Füßen. Finsternis ringsum. Nicht nur als Großwetterlage einer Nacht, sondern als Stimmungslage der eigenen Existenz. Und anders als es wohl in den Evangelien tradiert wurde: fern von jeglichem Freund oder Verwandten (nach neuesten Quellen fanden solche Hinrichtungen angeblich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt). Wie auch immer. Zurück-geworfen auf sich selbst. Vor Schmerz dem Wahnsinn nahe. Aufgespannt und ausgespannt auf einen „Schandpfahl“ des Römischen Imperiums. Wie konnte Gott uns das nur antun?! Wir waren doch immer lieb und brav gewesen, haben uns doch nie irgend etwas zu schulden kommen lassen. Und jetzt dieser einzige Alptraum aus Schmerz und Blut — endlos gefühlte Leidens-Ewigkeit. Schon füllt sich unsere Lunge mit Blut und Sekret; schon fällt das Atmen uns schwer. Jeder einzelne Atemzug eine einzige Tortur. Und dazu diese endlose Nacht. Kein „Licht am Ende dieses Leidens-Tunnels“ zu sehen. Keine Hoffnung auf ein Ende dieser Agonie. Immer bohrender nur die eine, einzige Frage: Warum…—?! Dieser völlig Sinn-lose Tod! Warum — verdammt noch mal — ausgerechtnet ich…—?!
Recht ungemütlich für uns dort oben, am Holz des Kreuzes! Immer drohender und näher heran zu uns rückt der leviathanische „Rachen“, der alles, auch uns selbst, vernichtende, verschlingende. Die Freunde haben sich kopfschüttelnd von uns abgewandt und uns verlassen. Nein, der da macht sicherlich „keinen Stich“ mehr. Nobody knows you when you’re down and out…— Mit dem Finger zeigen sie verachtend und verhöhnend auf uns, geben uns „in aller Freundschaft“ unserem verdienten Schicksal preis. Wer früher mit uns feierte und zechte, nun schürzt er seine Lippen und spuckt vor uns aus. Preisgegeben: an das Kreuz; an die eigene Einsamkeit. Nicht nur von den Freunden in höchster Not verlassen, sondern auch noch von „allen guten Geistern“. Niemand da, der mit uns die Situation tauschen möchte.
Recht ungemütlich einsam dort oben, am Holz des Kreuzes! Was nutzen uns nun unser Renommee, unser gesellschaftlicher Status, unsere Macht, all unser Geld…—?! Wen könnten wir bestechen mit unserem Lifestyle, mit unserer „Kohle“ — den Söldner, der gerade um unser Gewand lost? Den Hauptmann vielleicht, dass er uns endlich aus unseren Qualen erlösen möge? Und wo bleibt eigentlich Gott, auf den wir doch all unsere Hoffnung setzten?!
Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen…—?! So der Aufschrei der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, dieses ganze Getrennt-Sein von Gott. Jesus ist doch der Sohn Gottes. Und jetzt das! Wo sind nun seine Zuversicht, sein Hoffen, seine Gewissheit, seine Verbindung mit Gott? Hat sich Gott, als Jesus ihn am nötigsten brauchte, „aus dem Staub“ gemacht? Hat Er ihn wortwörtlich „hängen lassen“? Ihn gar „aufs Kreuz gelegt“…—?! Wer weiß? Wer von uns war dabei, wer war in der Situation drinnen, wer kann’s sagen?!
Aber David’s Psalm nimmt eine erstaunliche Wendung: der leidende Gerechte erinnert sich selbst an Gott, als sein Heil, seine Hoffnung, seine Zukunft. Jahwe Gott: „Er hat es vollbracht.“ Und plötzlich zerreißt der „Tempelvorhang“ der Nacht, und Jesus sieht klar: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk. 23,46) Und auf einmal wandelt sich Gólgota zum „Berg der Verklärung“, Tabor. Und jenes Wort, das laut Johannes-Prolog, im Anfang war, das bei Gott war und das Gott war, das das Licht des Menschen und der Welt war, das kehrt in die Finsternis der Todes-Stunde zurück. Und die Finsternis hat Es nicht ergriffen; noch vermag der Tod Es zu überwinden. Gott selbst wandelt kraft seines Wortes den Tod seines geliebten Sohnes um in Auferstehung. Sein Wort, sein logos, „hält Wort“. Einmal ausgesandt, trägt es. Weder ließ dieses Wort Jesu fallen, noch sonst irgend einen Menschen oder ein „Geschöpf“. Gottes Wort trägt: all unsere „Kreuze“, all unsere Kriege, all unser Scheitern, all unsere „Karfreitage“, all die Gólgotas dieser verwüsteten Menschen-„Welt“. Denn Es ist Liebe. Liebe, stärker als all unsere Tode. Und wären wir nur begabt mit der Fähigkeit der spirituellen „Schau“ (visio), so könnten wir diese Liebe sogar erkennen. In unserem Hier (Ort, Situation). In unserem Heute (Zeit). In „Damaskus“ wie in „Idomenie“. In jedem Fremden und Flüchtling. In jedem Anderen. Und sogar in uns selbst.