Der Bericht schließt an den vorherigen Beitrag „Etappe nach Undués de Lerda“ an.
Totenstille im Refugio. Ganz, ganz leise mache ich mich fertig. Bin der Erste der sich an diesem Tag auf den Weg macht. Vor der Türe kontrolliere ich nochmals, sehr gründlich, meine Habseligkeiten. Ok, alles an seinem Platz. Auch die Trinkflasche die ich mir gestern an der Bar besorgt habe. Es herrscht noch Halbdunkel. Warum bin ich schon so früh unterwegs? Was treibt mich an? Ungeduld? Wettbewerb? Keins von Beiden, ich bin einfach nur froh auf dem Weg zu sein. – Sonst nichts!
Nieselregen. – Das macht mir jetzt jedoch gar keinen Spaß. Mein funkel-nagelneuer, wetterunabhängiger Sombrero gewährt nur mäßigen Schutz. Egal, das Wetter kann meine Laune, noch nicht trüben. Ein Schild dokumentiert mir, dass ich die Grenze zu Navarra erreicht habe. Und dann stehe ich ratlos an einer Wegkreuzung. Wo bitte geht es lang? Eine Markierung suche ich vergebens. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Von rechts höre ich Hundegebell. Wo Hunde sind, sind auch Menschen, denke ich mir. Nach ca. 150 Meter entdecke ich ein Bauerngehöft. Und auch zwei riesengroße Hunde die sich, laut kläffend, sehr bedrohlich, direkt auf mich zu bewegen. Da bleibt mir nur der Rückzug. Uff – die Hunde zeigen auch kein weiteres Interesse an mir. Solche Erlebnisse muss ich wahrlich überhaupt nicht haben.
An der Straßenkreuzung entscheide ich mich jetzt für die rechte Seite. Wegzeichen entdecke ich jedoch keine. Und es nieselt heftiger. Meine Laune ist immer noch nicht getrübt. Ich weiß jeder Weg führt an ein Ziel. Doch noch ist von diesem nichts zu sehen. Auch keine Wegzeichen. Etwas ratlos stehe ich zunächst einmal zögernd herum. – Bin unschlüssig.
Den Weg verloren
Endlich erreiche ich einen kleinen, schmucken, Ort. Es gibt sogar ein Schloss wie ich zwei Schildern entnehmen kann. Interessiert mich jedoch jetzt nicht die Bohne. Hinter einem Fenster sehe ich eine Frau in der Küche hantieren. Ich klopfe an die Scheibe. Sie erschrickt und ruft ihren Sohn. Ich bedeute den Beiden, dass ich den Weg verloren habe und nach dem Camino suche. Der Sohn kommt an das Tor und erklärt mir, mit großer Gestik, wie ich weiter laufen muss. So ganz kann ich nicht folgen, denn er erklärt mir genau den Weg den ich gerade gekommen bin. Also widerspreche ich zaghaft. Er grinst mich an, ruft seiner Mutter etwas zu und bedeutet mir zu warten.
Nach fünf Minuten sitzen wir im Auto, in rasendem Tempo erreichen wir das Wegkreuz an dem ich mich ganz offenbar für die falsche Seite entschieden habe. Aus dem Autofenster kann ich dann auch feststellen, dass der Weg wenig später wunderbar beschildert ist. Ich könnte somit jetzt austeigen. Offenbar ist mein Fahrer jedoch anderer Meinung. Er will wohl einem einsamen Pilger eine ganz besondere Freude machen an diesem verregneten Tag. Unsere gemeinsame Fahrt endet erst in der Stadt Sangüesa.
Eine Bezahlung lehnt mein Wohltäter vehement ab, wünscht mir jedoch einen guten Weg und bittet mich in Santiago für ihn zu beten. Das wird versprochen und diesen Wunsch werde ich auch auf jeden Fall erfüllen. Mir sind diese Bitten von meiner Jakobspilgerschaft im Jahre 2004 bekannt. Gerade in den Städten Pamplona, Burgos und Leon wurde ich mehrmals angesprochen. Diesen Wünschen bin ich auch damals gerne nachgekommen. In einem großen, modernen, aber seelenlosen Café, nehme ich ein kleines Frühstück zu mir. Bin froh jetzt wieder auf dem rechten Weg zu sein. Mit Sicherheit war das Wegzeichen, das ich vergeblich gesucht habe, hinter irgendeinem Strauch versteckt, oder zugewachsen. Ich muss noch aufmerksamer sein, nehme ich mir vor. Dennoch, diese mir, durch den Umweg, widerfahrene nette Geste, einen wildfremden Mann auf den richtigen Weg zu bringen, die möchte ich nicht missen. Ich bin überaus dankbar für dieses Erlebnis.
Umwege
Umwege musste ich in meinem Leben öfters gehen. Umwege gehören wahrscheinlich zu jedem Lebensweg, überlege ich mir in diesem Zu-sammenhang. Manchmal sind sie schmerzlich. Ich denke z. B. an eine Partnerschaft die in die Brüche ging, was ich damals nicht verstehen konnte, die verletzt hat, der ich auch zunächst nachtrauerte. Später fand ich jedoch das echte Glück, erkannte dabei auch, dass ohne den Umweg, über die gescheiterte Beziehung, die Lebenserfüllung vielleicht nicht stattgefunden hätte. Mit meiner Frau Hilde bin ich mittlerweile bald vier Jahrzehnte verheiratet. Zusammen haben wir eine kleine Familie gegründet, die fest zusammenhält – so hatte der Umweg denn sehr wohl einen Sinn, führte mich zuletzt auf den rechten, den erfüllten Weg.
Ich denke auch an meine Berufsausbildung. Mit gerade mal 14 Jahren hat man noch keine Vorstellung vom Berufsleben. Kann man noch nicht wissen, ob der ausgewählte Beruf der rechte ist, ob er tatsächlich ein ganzes Berufsleben ausfüllen kann. Mir wurde durch eine Umschulung eine zweite Chance geboten, die ich aus freiem Herzen genutzt habe. Zurückblickend kann ich dankbar feststellten, auch hier wurde ich auf einem Umweg auf den richtigen Weg geführt. Doch diese Gedanken sind an diesem verregneten Tag, wohl vollkommen fehl am Platze. Ich ziehe den Pilger-Schlapp-Sombrero noch tiefer in die Stirn und stapfe los.
Sangüesa ist für einen Kunsthistoriker ein höchst willkommener Ort. Zahlreiche Kirchen warten darauf besichtigt und gedeutet zu werden. Doch für eine ausführliche Sichtung fehlt einem Pilger einfach die Zeit. Der Pilger hat einen anderen Auftrag. Er ist beseelt davon das angestrebte Ziel zu erreichen, für ihn ist der Fokus auf Santiago ausgerichtet.
Iglesia de Santa Maria la Real
Mein Weg führt mich an der romanischen Kirche Iglesia de Santa Maria la Real, aus dem 12./13. Jh. vorbei. Das mit 300 Skulpturen verzierte Südportal zählt zu den Meisterwerken der Romanik. Beachtenswert ist die Darstellung des Jüngsten Gerichtes im Südportal. Nachdenklich betrachte ich die Darstellung der Glückseligen, also die Seelen die in den Himmel auffahren dürfen, sowie die der Verdammten, denen die Qualen der Hölle zugedacht sind. Man stelle sich vor welche Auswirkung die steinernen Warnungen auf die damaligen Menschen hatten. – Es kann einem schon gruseln bei dem Gedanken.
Leider sind die Skulpturen sehr verwittert. Aber ihre Ausdruckskraft ist ungebrochen. Man kann die Steinmetzkunst nur bewundern. Ich schaue mir das gesamte Szenarium, vor Jahrhunderten in Stein gehauen, mit größtem Respekt an. Einfach meisterhaft. – In der Kirche findet gerade eine Messe statt. Eine Besichtigung des Inneren ist aus diesem Grund nicht möglich. Der Pilger 2011 bedauert dies zutiefst.
Interessant finde ich den achteckigen Turm. Das Oktogon wurde bei den Sakralbauten wegen der symbolischen Bedeutung der Zahl Acht gewählt. Sie steht meist für Vollkommenheit und göttliche Perfektion. Symbolisiert aber auch die Auferstehung Jesu Christi. Mir bekannte Bauten sind San Vitale in Ravenna, die Aachener Pfalzkapelle und Puente la Reina, sowie die Iglesia Santa Maria in Los Arcos, beide am Jakobsweg gelegen
Über eine Stahlbrücke überquere ich den Fluss Aragon, der sich hier bereits mächtig seinen Weg bahnt. Es nieselt stärker. Ich überhole Franz von der Mosel, einen einsamen Wanderer der zügig unterwegs ist. Franz ist ein Etappenwanderer der besonderen Art. Er wird heute gemütlich im wohltemperierten Wohnwagen übernachten. Er beordert seine Ehefrau, die ihn mit dem Wohnwagen begleitet, bei Bedarf an einen Ort seiner Wahl. Franz ist Arzt an einer großen Klinik und erhofft sich bei seinen Wanderungen die Erneuerung der Kraft, die er für seinen Beruf benötigt. Wir laufen ein Stück des Weges gemeinsam auf eine Hochebene zu. Es regnet jetzt immer stärker. An einem Trampelpfad ist für Franz Endstation. Er dreht ab. Ich habe dafür vollstes Verständnis, beim Anblick des Zustandes meines weiteren Weges. Matsch, ekliger, zäher Matsch wird mir jetzt beschieden sein. Matsch, ich hasse Dich aus tiefstem Herzen. Ich mag Dich nicht. Du machst die Schuhe schwer und bist gefährlich.
Zweifel, Matsch und Durst
Aber da muss ich durch, die Chance für den Weg an der Landstraße habe ich vertan. Ich befinde mich auf einem Trampelpfad der sich in vielen Windungen auf meinem weiteren Weg vor mir her schlängelt. Der Zeitbegriff kommt mir abhanden. Ich benötige die volle Konzentration um auf dem glitschigen Weg nicht auszurutschen. Mühsam, mühsam. Ich hadere mit meiner Unentschlossenheit. Warum habe ich nicht den Weg neben der Landstraße gewählt. Nein – es muss der originalausgewiesene Jakobsweg sein! – Und ich habe mittlerweile Durst. Großen Durst. Die vielen Windparks auf den Bergkämmen können mein Interesse jetzt nicht erwecken. Ich erreiche eine Passhöhe von der sich der Weg als Trampelpfad bergab zieht, und dann ist natürlich wieder ein Aufstieg fällig. Da musste durch Edel-Pilger! – Du hast es ja nicht anders gewollt!
Kein Mensch weit und breit, kein Gehöft. Kein Brunnen. Kein Wasser mehr in der Flasche. Ich trete in Zwiesprache mit Jakobus ungefähr in dieser Art: „Jakobus, ich laufe diesen Weg nicht nur für mich, ich bin auch für Dich unterwegs. Dir zu Ehren, Deinem Angedenken und für die Idee des Jakobweges insgesamt. Ok, vielleicht auch für meine eigene Eitelkeit, meine Abenteuerlust, dem Drang nach den spirituellen Erlebnissen auf dem Weg. Aber jetzt habe ich Durst. Hilf mir. Wenn möglich direkt – bitte!“ Tapfer stapfe ich immer weiter voran.
An die Erfüllung meines Wunsches an Jakobus habe ich nicht mehr geglaubt. Aber auf Jakobus ist Verlass, man muss offenbar nur Geduld haben. Neben dem Weg blinkt mir eine Zwei-Liter-Wasserflasche entgegen. Halb voll! Offenbar wurde sie abgestellt, weil sie einem Wanderer zu schwer wurde. Ich bin gerettet. Mein Dank richtet sich an Jakobus und an all die guten Geister auf dem Jakobsweg. Irgendwie bin ich auf einmal wieder bestens gelaunt. Nieselregen – na und?
Angekommen
Irgendwann komme ich an meinem Tagesziel in Izco an. In der privaten Herberge bin ich heute der erste Einkehrer. In dem kleinen Ort existiert kein Supermercado, aber die Hospitalera hat einen kleinen Vorrat an wichtigen Grundlebensmitteln anzubieten und ein Abendessen. Ich melde mich schon einmal verbindlich an. Habe in einem der blitz-sauberen Schlafräume jetzt die absolut freie Auswahl. Ich wähle einen Platz am Fenster mit Frischluftgarantie. Nix wie raus aus den nassen Sachen. – Eine warme Dusche ist jetzt überfällig.
Befürchte schon, heute der einzige Pilger an diesem Ort zu bleiben. – Wie an jedem Wandertag vorgegeben, steht jetzt das obligatorische Wäschewaschen an. Doch zunächst mache ich mir Sorgen um meine nassen Wanderstiefel. Wie kriege ich die bis Morgen wieder trocken? Zu meiner großen Freude bleibe ich nicht lange allein. Peter, das Energiebündel, ist auf einmal da. Wo Peter ist, da ist Leben. Der Abend kann wieder schön werden!
Wir packen unsere Wäsche in eine Waschmaschine, welch ein Luxus. Ich stopfe unsere Stiefel mit Zeitungspapier aus und bedanke mich erneut beim Universum für die Sonne, die sich punktgenau entschließt unsere Gehwerkzeuge zu trocknen. Und jetzt kommen auch Gino und Silvia an. Gemeinsam regen wir uns über den Matschweg auf und die eigene Unentschlossenheit nicht doch besser auf der Landstraße zu pilgern. Dann geht es Schlag auf Schlag. Die Bude wird doch voll. Gelassen schauen wir dem Treiben zu, denn unser Tagwerk ist bereits getan. Ein erster Besuch in der Bar des Ortes ist jetzt die verdiente Belohnung für unsere Tagesleistung.
In der kleinen Kirche des Ortes laufen die Vorbereitungen für den morgigen Karfreitag. Eine Mädchengruppe übt ein einfaches, sehr getragenes Lied ein. Frauen schmücken den Altarraum. Der Pfarrer bespricht sich mit einigen Männern, gibt wohl letzte Anweisungen. Ich bin froh hier zu sein. Mache noch einen längeren Rundgang um das Dorf
Das Abendessen ist nicht der Rede wert, auch wenn es liebevoll zubereitet wurde und am Tisch serviert wird. Wir sind dennoch alle Vier zufrieden. Sind jetzt bestens gelaunt. Die Tür fliegt auf und sage und schreibe zwanzig Radfahrer suchen noch ein Nachtquartier. Jetzt bleibt nur noch der Fußboden im Speiseraum. Die spanischen Radpilger nehmen das gerne an. Jetzt beglückwünsche ich mich, schon so früh an diesem Ort gewesen zu sein. Auf dem Fußboden hätte ich nur ungern geschlafen. Ein sogenannter Absacker an der Bar beschließt diesen Tag, der mir außer vielem Regen auch die Erkenntnis gebracht hat: Auf das Universum ist immer Verlass, man muss nur ans Telefon gehen und daran glauben, dass am anderen Ende jemand abhebt.