Der Bericht schließt an den vorherigen Beitrag: Von Jaca zum Kloster San Juan de la Peña an
Dann geht es los. Endlich bin ich auf dem Jakobsweg. Habe mich wieder in das endlose Heer der Jakobspilger eingereiht. Bin ab jetzt namenlos. Wurde zur Nummer: Pilger 2011. Es ist schon ein erhebendes Gefühl, wenn man am Anfang einer wochenlangen Wanderung steht. Der Pilger 2011 trotz vor Kraft. Ist fest davon überzeugt am Ziel anzukommen.
Vor dem Refugio steht eine moderne Jakobus-Skulptur. Spaßhaft verspreche ich dieser von nun an, ohne jeden Umweg, nur noch dem Ruf des Jakobus zu folgen. Auch verspüre ich jetzt verstärkt den Sog, das unwiderstehliche Gefühl, den inneren Apell: Ultreia – weiter immer weiter.
Am Fluss Aragon entlang
Wir, Helen und ich, folgen den Muschelzeichen. Der Weg führt uns am Fluss Aragon entlang. Wir befinden uns ja auf dem Aragonischen Weg, der vom Somport Pass, bis nach Puente la Reina de Navarra führt. Auf dem Pfad haben Pilger sogenannte „Betmännchen“ aufgebaut. Kleine Steinpyramiden. Jedes steht für ein Gebet das man im Vorbeigehen aufsagen sollte. Bei der Vielzahl der Betmännchen ein unmögliches Unterfangen. Aber ein Gebet kann ja nicht schaden. Ich singe „Großer Gott wir loben Dich“ leise vor mich hin.
Ich bin etwas zwiegespalten jetzt mit Helen auf dem Weg zu sein. Ich hatte mir ja fest vorgenommen auf jeden Fall alleine zu wandern. Ohne jeden Ballast und nur mir selbst verantwortlich zu sein. Helen sieht das offenbar anders.
Wie selbstverständlich war sie an meiner Seite als ich mich von der Baskin verabschiedete. Na da schauen wir einmal wie das weiter funktioniert. Helen hat einen guten Schritt, läuft meistens vornweg. Wir kommen gut voran. Vor einem Schild am Straßenrand machen wir kurz Halt: Santiago 814 Km. Na das ist doch nur um die Ecke. Wir grinsen uns an. Ich hebe die Arme, mache eine großspurige Na-und-Bewegung. Denke jedoch innerlich: “Wow 814 Km, langer Weg, das dauert wohl noch ein wenig!“
Wir erreichen Puente la Reina de Jaca
Der Ort darf trotz seines Namens nicht mit Puente la Reina de Navarra verwechselt werden, wo sich der navarrische und der aragonesiche Jakobsweg vereinen. Beiden gemein ist ledig der namensgebende Bau einer Brücke, auf Veranlassung einer Königin. Diese Projekte lenkten in Zeiten teurer und gefährlicher Flussüberquerung die Pilgerströme und führten oft zur Gründung von Städten.
Hier kehren wir in einer großen Bar mit Restaurant ein. Das Restaurant ist an einem normalen Werktag übervoll. Die Lautstärke dementsprechend. Wir erhalten jedoch einen Platz. Herrlich – das erste, echte Pilgermenü! Das ist eine wunderbare Einrichtung am gesamten Jakobsweg.
Ein Pilgermenü beinhaltet in der Regel ein Hauptgericht, Nachtisch und ein Getränk (oft ein halber Liter Wein). Der Gesamtpreis bewegt sich normalerweise zwischen 8 – 9 €. – Gestärkt brechen wir wieder auf.
Der Weg zieht sich. Helen und ich können uns sehr gut verständigen. Es ist für mich erstaunlich über wie viele englische Worte ich doch verfüge, bzw. die quasi schon eingedeutscht sind. Helen ist bester Stimmung. Für sie war der Klosterbesuch offenbar auch ein beeindruckendes Erlebnis. Ich bedanke mich noch einmal bei ihr für ihre Hartnäckigkeit. Schließlich hat sie letztendlich die Fahrt organisiert. Wir erreichen eine Raststätte mit festen Bänken und Tischen, die kommt uns gerade recht. Hier machen wir eine zweite, ausgiebige Pause.
Das Panorama das sich uns bietet ist einfach beindruckend. Vor uns eine weite Ebene. Im Hintergrund die schneedeckten Berge der Pyrenäen. Rechter Hand ein Tal hinter dem sich, von der Nachmittagssonne bestens belichtet, eine weiße Stadt erhebt. Auf dem Weg den wir nach der Pause bestreiten, gibt uns ein kegelförmiger imposanter Hügel aus Kalkstein Rätsel auf. Er wirkt wie von Menschenhand aus Zement geschaffen. Im Laufe der Jahre hat die Erosion tiefe Furchen gegraben. Ein wenig sieht er auch aus wie Schokolade-Softeis in XXXL-Format. – Mondlandschaft aus grauen erodierten Erdhügeln, so die Erklärung im Reiseführer.
Helen erzählt mir von ihrer Familie, ihrem Ehemann und den drei Kindern. Sie arbeitet in der Universität von Melbourne und scheint sehr kunstinteressiert zu sein. Sie möchte auf ihrem Weg das Kloster Leyre aufsuchen. Das Benediktiner-Kloster, mit einem kleinen Umweg zu erreichen, liegt am Stausee des Rio Aragon. Zwischen 1836 und 1954 stand das Kloster teilweise leer. Seit 1968 wird das Abteigebäude wieder von Mönchen bewohnt.
Die Krypta 9. Jh. ist Grablege (Pantheon) von König Sancho III. von Navarra und seiner Nachfahren. An dem historischen Gebäude sind auch Kunstwerke des Meisters Mateo, der sich an der Kathedrale von Santiago verewigt hat, zu bewundern. Als Freund und Bewunderer der Steinmetzkunst wäre die Besichtigung des Klosters somit eigentlich ein Muss für mich.
Einst war das Kloster ein wichtiges religiöses Zentrum und Ziel für viele Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela. In neuester Zeit erreichte das Kloster Berühmtheit durch die gregorianischen Gesänge der Mönche. Ich kann Helen verstehen, dass sie das Kloster unbedingt besichtigen möchte. Ob ich mich anschließen werde, lasse ich offen.
Erschöpfung
Wir beenden die ausgiebige Pause und setzen unsere Wanderung fort, lösen uns in der Führungsarbeit ab. Die Strecke ist gut markiert. Wir überqueren zwei kleinere Bäche. An den massiven Brücken ist zu erahnen, welche Wassermassen sich bei der Schneeschmelze hier ihren Weg bahnen werden. Dem Reiseführer entnehme ich, dass die beiden Furten bei Regen problematisch sein können. Gottseidank nicht für uns! Wir erreichen eine Hochebene. Mittlerweile ist es schon später Nachmittag geworden. Die Sicht ist gut. Über Feldwege geht es immer weiter Richtung Westen. Zwischen uns Beiden, Helen und mir, ist es inzwischen merkwürdig still geworden. Meine Beine gehorchen mir nur noch mechanisch. Ich mache mir nichts vor – ich bin einfach kaputt! Helen scheint in besserer Verfassung zu sein. Ich bedeute ihr, sich nicht von mir aufhalten zu lassen. – Ein energisches Kopfschütteln ist die Antwort.
Der Weg zieht sich. 29 Kilometer soll unsere erste Etappe lang sein. Wie viel die gefühlten Kilometer betragen, möchte ich gar nicht feststellen. Mein Rucksack muss inzwischen um einige Kilo schwerer sein. Er zieht mich förmlich hintenüber. Immer wieder beuge ich mich nach vorne, stütze die Arme auf die Knie und versuche meine Rückenmuskulatur zu entspannen. Es geht an einem kleinen Bach entlang. Die Landschaft ist bezaubernd, was mich jedoch gerade einmal kalt lässt. – Jakobus hilf!
Stoisch setze ich Fuß vor Fuß, laufe tapfer immer weiter. Kein Tropfen Wasser mehr in der Flasche. Super Herr Grube! Wie steht im Reiseführer zu lesen? 18 Kilometer lang keine Einkaufsmöglichkeiten! – Na gut Herr Grube, dann musste halt leiden! Schließlich erblicken wir doch noch das auf einem Bergkegel thronende Dörfchen Artieda. Ich kann mich gar nicht recht freuen bei dem eigentlich tröstenden Anblick. Steht mir doch noch der ach so steile Aufstieg bevor. Ich bedeute Helen vor zu gehen um die Schlafplätze zu organisieren.
Mit vielen Pausen schleppe ich mich voran. Auf halbem Weg überholt mich ein Auto, hupt und fährt vorbei. Herzlos, siehst du denn nicht wie ich leide, klage ich innerlich. Zwei Männer kommen mir auf der Straße entgegen. Grinsen mich an, rufen etwas wie „alla hopp“, oder was ähnliches. Ich komme tatsächlich doch noch im Ort an. Drei Frauen weisen mich zu der Herberge, die sich in einem Turm befindet. Großes Hallo. Die Herberge ist voll. Ich stehe direkt in einem Speiseraum in dem das Essen bereits aufgetragen wird. Der Hospitalero bedeutet mir mich direkt auf mein Zimmer zu begeben. – Helen führt mich, ist besorgt.
Erholung
Und dann die große Wandlung. Ich bin kaputt, aber bester Stimmung. Kurze Katzenwäsche und ab in den Speiseraum. Bekomme einen Platz neben Peter, aus dem Frankenland. Prima wir kommen sofort in Gespräch. Das Abendessen ist schmackhaft. Man reicht eine Art Gemüsesuppe und anschließend ein Stück Fleisch mit Kartoffeln. Als Nachtisch ein kleines Eis. Und das alles für 8,50 €. Absoluter Dienst am Pilger, wie ich meine! Ich verabrede mich mit Peter auf später. Jetzt ist erst einmal das ganz normale, übliche Abendprozedere fällig. Ausgiebig duschen. Kleider- und Schuhpflege. Rucksack für den nächsten Tag richten. Mein Schlafplatz ist in einem Vier-Bett-Zimmer. Hochbetten. – Ich liege oben!
Mit Peter entere ich dann einige Büchsen Bier. Helen kommt dazu, kann aber mit unseren Männergesprächen nichts anfangen. Verabschiedet sich. Peter ist vom Somport-Pass aus in den Camino eingestiegen. Ist heute auch in Santa Cilia de Jaca losgelaufen. Hoppla, dann hatten wir ja die gleiche Strecke in den Beinen. Wieso ist Peter dann so aufregend frisch? Und wieso geht es mir jetzt viel besser als vorhin? Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. – Ja, ja Herr Grube, du willst doch ein erfahrener Pilger sein? Du hast zu wenig getrunken! Diese Lektion, so schmerzhaft, demoralisierend sie heute auch für mich war, finde ich jetzt ganz, ganz wichtig. Ich werde diese Erfahrung beherzigen. Der Wasservorrat soll mir auf meinen weiteren Wegen nie mehr versiegen. Ich werde auf der Hut sein! Irgendwie bin ich mit dem heutigen Tag jetzt absolut zufrieden. – Der nächste Pilgertag kann kommen.