Im Schatten unserer Tage


Thomas Berger, Im Schatten unserer Tage. Betrachtungen
M.-G.-Schmitz-Verlag, Nordstrand 2023

– Auszüge –

HENKERSMAHL

Die alte Sitte, einer zum Tode verurteilten Person ein letztes Mahl nach ihren Wünschen zu genehmigen, wird noch immer praktiziert. Der Kriminologe Hans von Hentig (1887-1974) sah in ihr einen Akt der Versöhnung zwischen dem Verurteilten und den Vollstreckern der Strafe. Denkbar ist auch, das Zugeständnis an die Sinne als Ausdruck der Dominanz des Lebens gegenüber dem Tod zu begreifen. Nach diesem Verständnis käme der traditionellen Gunst die Funktion einer Entlastung der für die Todesstrafe Verantwortlichen zu.

NUTZLOSIGKEIT

Etwas gänzlich Nutzloses zu tun, zeugt von großer Freiheit; der Schöpfer, von dem die Religion kündet, ist darin Vorbild  ̶  er schuf den Menschen.

WAHRHEIT UND LÜGE

Um Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, sei er in der Welt, soll der Nazarener vor dem Statthalter in Judäa gesagt haben. Pontius Pilatus, so die Tradition, habe erwidert: „Was ist Wahrheit?“ (Johannesevangelium 18,38). Eine Antwort auf die vielfach aufgegriffene Frage sei nicht erfolgt, so dass Spielraum für die Überlegung bleibt, was der Präfekt gemeint haben könnte. Vielleicht hielt er die Wahrheitsfrage grundsätzlich für nicht beantwortbar und daher für irrelevant. Er hätte dann manch geistigen Bruder, zum Beispiel die Romanfigur Dubslav von Stechlin. Der Märkische Adlige vertrat den Standpunkt: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“ (Theodor Fontane, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes 5, 2002, 10). Der 1911 in Wien geborene Physiker Heinz von Foerster plädierte unumwunden für die Abschaffung des Wahrheitsbegriffes, da dieser Dominanzstreben mit sich bringe und Unfrieden unter den Menschen stifte. (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, in: Die Zeit, 15.1.1998)