Harmonia mundi und individueller Klang
23.02.2016
Etwa eine Hildegard von Bingen (1098-1179) konnte ihr ganzes Leben noch wie folgt erfassen und erfahren:
Mein ganzes Leben gleicht einer einzigen Note in der universellen Partitur der göttlichen Schöpfung; nehme man meine Note aus der Partitur heraus, so bliebe diese unvollkommen.
Mein ganzes Leben ist ein einziger, ein individueller Ton im sphärischen Klang der göttlichen Melodie. Nehme man meinen winzigen, leisen Ton aus der Harmonia mundi heraus, so bliebe sie unvollkommen und auch unvollendet. Als „Note“ und „Ton“ bin ich unerlässlich, bin ich wichtig für das werdende Ganze dieser Harmonie.
Nun aber bin ich da, ich lebe mein Leben auf einem mir selbst unbekannten Hintergrund. Dieser Grund trägt mich — mein Leben lang. Und so, wie die Harmonie meine Seele durch-stimmt, durch-tönt, so vollendet sich mein eigener Ton im Ganzen ebenjener mich umfassenden Melodie. Zwar bin ich in-der-Welt. Aber mein inneres Gehör lauscht auf Gott. Zwar bin ich nur eine einzige Note, ein einziger Ton im gefügten Ganzen jener Harmonie — mal leiser und zarter, mal klarer und kräftiger erklingend — und um mich herum klingen Millionen anderer Töne. Auch ist mein Klang wie bei jeder Note einmalig und unwiederholbar. Aber mein Leben bleibt als Ganzes eingebettet in jenen alles umfassenden Schöpfungs-Klang. Hier, in dieser göttlichen Ordnung, bin ich „verortet“. Verlischt mein Leben hier auf Erden, so klingt mein Ton doch in jener Harmonie weiter, wovon er einstmals ausgeschickt worden war. Der Fluss der Schöpfungs-Melodie fließt beständig weiter — und so viele Noten auch schon verklungen sein mögen, es kommen stets neue hinzu; jeder Ton ein Unikat — unwiederholbar.
Richte ich meine Achtsamkeit mittels Gebet und Meditation nach innen, so vermag ich jener Welten-Harmonie zu lauschen. Richte ich meine Aufmerksamkeit jedoch nach außen, auf die Welt der Erscheinungen mit all ihren Macht-, Geld-, Eifersuchts- und Zwietracht-Spielen, mit all ihren Konflikten, Krisen und Kriegen, so vermag ich keinerlei Harmonie zu erkennen, geschweige denn sie in irgendeiner Situation wahrzunehmen. Die Welt da draußen besteht scheinbar vor allem aus Misstönen und Unstimmigkeiten; sie gleicht einer einzigen Dissonanz, einer universalen Kakophonie.
Dieser misstönenden Welt entgegen, bleiben Note und Ton als Ganzes dennoch Teil eines alles Dasein umfassenden Ganzen. Mein Leben als Ganzes vollzieht sich zwar im Horizont alles Vergänglichen — auch ich bin eine Sterbliche unter Sterblichen — aber mein „Grund-Ton“ bleibt eingebettet und geborgen in jene unsterbliche Melodie einer Harmonia mundi. Zwar klingt mein eigenes Leben an und auch aus — aber das mich bergende Ganze klingt als Harmonie dauerhaft fort.
Es bleibt an uns, dem sog. „modernen Menschen“, dem „animal rationale“, eben diese „Kunst des Ausklangs“ (vgl. das jap. „Nokan“) erneut verstehen zu lernen, erneut erfahren zu lernen, erneut zu erleben…—