Große und kleine Geschichten
Teil III
Wie viel mehr ließe sich sagen, müsste gesagt werden! Während meines letzten oder vorletzten Internatsjahres las ich das Buch „Wir Untertanen. Ein Deutsches Anti-Geschichtsbuch“ von Bernt Engelmann. Die Perspektive von unten, die Engelmann wählte, gefiel mir, sie war zumindest unterhaltsam. Im Laufe der Jahre drängten sich Fragen auf gegenüber dem Buch, das die Herrschenden im Ganzen als Filous darstellt. Was ist mit dem Anteil der Reaktion bei den Beherrschten? Warum finden die Kriegsherren der Welt, die in Palästen mit goldenen Klobrillen leben, immer genügend Willige, die ihre Zerstörungs- und Mordbefehle ausführen?
Die Perspektive von unten mache ich mir hier ebenfalls zu eigen. Ohne soziale Anklage. Weil mein Mentor und ich wie jeder Mensch unweigerlich in geschichtlichen Zeiten gelebt haben (ich lebe immer noch darin), aber viel zu wenig darüber gesprochen haben.
Das meiste habe ich damals – reden wir vom Jahr 1963 – als Kind nicht mitbekommen. Was heißt „das meiste“? Haben die Erwachsenen – Vater und Stiefmutter – das meiste mitbekommen? Sie haben Nachrichten geschaut und mehr verstanden als ich, wenn ich zufällig dabeistand oder -saß. Mehr zu verstehen als ich, gelang schon den älteren Geschwistern. Vielleicht hätten mich Kindernachrichten interessiert. Die gab es noch nicht.
Am Rand habe ich wohl von der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer erfahren. Was das bedeutete, wusste ich nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, in der Schule vom Elysée-Vertrag gehört zu haben. Aber später, als Erwachsener, wurde die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg für mich ein Thema von Berufs wegen. Der Zauber des Anfangs: Die Jahrhunderte der innereuropäischen Kriege hinter sich zu lassen, zuvörderst die Rivalität und Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland zu beenden und dann, Schritt für Schritt, Europa zu einem Kontinent des Friedens, Wohlstands und der Beachtung der Menschenrechte zu machen … – Diese Thesen lernte ich auf dem Papier. Es bedurfte eines Vortrages des langjährigen Oberbürgermeisters von Fulda, Wolfgang Hamberger (Jg. 1930), dass ich das Feuer und den Eifer für die europäische Idee bei einem Zeitzeugen wahrnahm und realisierte.
Mein Mentor war ein Franzosenfreund. Er sprach fließend die Sprache des westlichen Nachbarn und besuchte gerne das Land. Ich besitze noch ein Foto, das er mir einmal geschickt hat nach meiner Internatszeit, er hatte es durch das Fenster seines Wohn- und Arbeitszimmers gemacht, als er wegen eines städtischen Anlasses seine Frankreich-Fahne nach draußen ans Haus gesteckt hatte.
Mein Großvater mütterlicherseits musste im Ersten Weltkrieg die Grenze zu Frankreich als Soldat feindlich überschreiten. Als am 21. Februar 1916 die Schlacht von Verdun begann, war er dabei. Einhundert Jahre später besuchte ich das Mémorial de Verdun, auch in Erinnerung an meinen Großvater, der nach Verdun noch weitere Schlachten mitmachen musste bis zum Ende des Krieges, sie aber glücklicherweise alle überlebte. Auf der Busfahrt fragten wir uns, ob wir schon in Frankreich seien. Die Grenze zwischen unseren Ländern hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten stetig verkleinert.
Die Idee Europas hege ich ansonsten in literarischer und philosophischer Hinsicht. Mit meinen Schülerinnen und Schülern spreche ich gerne darüber: Besteht eines der Fundamente Europas aus Homer, der Bibel und Shakespeare? Aus dem antiken Griechenland und Rom? Aus vielen weiteren Werken und Gedanken europäischer Künstler und Philosophen? Was spricht für und gegen eine solche Annahme?
Das Jahr 1963, als ich vier Lenze zählte, war für meinen Mentor das Jahr 1911. Der Elbtunnel in Hamburg wurde eingeweiht. In Berlin gab es Friedensdemonstrationen, um nach der Marokkokrise einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich zu verhindern. Der russische Ministerpräsident Pjotr A. Stolypin erlag einem Attentat. In Wien gab es Hungerdemonstrationen, in China eine Revolution. Suffragetten stürmten das Unterhaus in London. Marie Curie erhielt den Nobelpreis für Chemie und Roald Amundsen erreichte als erster Mensch den Südpol.
Als Kind registrierte ich: Politik war etwas, das mit Worten beschrieben wurde, die ich teilweise noch nie gehört hatte. Politik war auch etwas, das die Erwachsenen in Rage bringen konnte. Sie schimpften dann am Fernseher und wussten scheinbar genau, wie alles sein müsste. Immer blieb ich stumm. Eine Frage zu stellen, kam mir nicht in den Sinn. Ich wäre ohnedies unwillig beschieden worden.
Ich gehe über zum Jahr 1967; analog zum Jahr 1915 meines Mentors. Mein noch zögerliches Interesse für Politik ging einher mit einem noch scheuen Interesse für Geschichte. Wenn ich aus dem Mund meines Vaters die Namen mittelalterlicher Kaiser hörte, merkte ich auf. Noch blieb ich weiterhin stumm, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mehr aufnahm und für mich bewahrte als früher.
Im Jahr 1967 war es wieder mein ältester Bruder Herbert, dem meine Aufmerksamkeit galt. Er geriet in heftige Diskussionen mit meinem Vater über die Studentenunruhen in Berlin, Frankfurt und anderen westdeutschen Universitätsstädten. Herbert sympathisierte mit den Studenten, wie ich merkte. Mein Vater empörte sich über die „Langhaardackel“, die nichts arbeiteten und keine Ahnung hätten. Nichts arbeiteten? Sie studierten doch und arbeiteten später, wie ich annehme, zum Großteil in Berufen, die ihren Studienfächern entsprachen. Keine Ahnung hatten? Wovon? Vom Leben? Von der Wirtschaft? Von der Demokratie? Die Stimmung war aufgeheizt, auch draußen im Land, wie der Fernseher berichtete. Der Vietnamkrieg tobte und war eine der Ursachen, dass die Studentinnen und Studenten auf den Straßen protestierten. (Mehr Studenten als Studentinnen, wie man den Fotos entnehmen kann.) In Griechenland gab es einen Militärputsch. In Westberlin wurde Benno Ohnesorg erschossen. Israel begann den Sechstagekrieg … Überall Unfrieden, Streit, Krieg. Die Heirat Elvis Presleys, der Auftakt für das Farbfernsehen oder die erste Herztransplantation am 3. Dezember in Kapstadt unter Leitung Christiaan N. Barnards bildeten kein Gegengewicht.
Heute denke ich, dass die Studentinnen und Studenten naiv waren, wenn sie bei ihren Demonstrationen die Konterfeis von Massenmördern wie Mao Zedong oder Josef Stalin hochhielten. Dass andererseits ein relevanter Teil des konservativ-bürgerlichen Lagers unter Demokratie noch immer den Einparteienstaat verstand, nur jetzt mit der CDU, ist mir ebenfalls bewusst geworden.